Grenzfall Anwendungsbereich Mitgliedstaaten

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+++ Sachverhalt (reduziert auf das Wesentliche)

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B begehrt vom S-Verlag, es zu unterlassen, über seine Straftat aus dem Jahr 1981 unter Nennung seines Nachnamens zu berichten. B wurde 2002 aus der Haft entlassen, Berichte über ihn sind online weiterhin verfügbar. Vor den Fachgerichten bleibt B erfolglos und erhebt Verfassungsbeschwerde.

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Einordnung des Falls

Grenzfall Anwendungsbereich Mitgliedstaaten

Die Jurafuchs-Methode schichtet ab: Das sind die 7 wichtigsten Rechtsfragen, die es zu diesem Fall zu verstehen gilt

1. Damit die Grundrechte der GRCh auf Handeln der Mitgliedstaaten Anwendung finden, muss der Anwendungsbereich der GRCh (Art. 51 Abs. 1 GRCh) eröffnet sein.

Genau, so ist das!

Die GRCh ist in ihrem Anwendungsbereich auf Mitgliedstaaten beschränkt. Das innerstaatliche Recht der Mitgliedstaaten und dessen Anwendung sind nur dann am Maßstab der GrCh zu messen, wenn die „Durchführung von Unionsrecht“ (Art. 51 Abs. 1 S. 1 GrCh) in Frage steht. Die GrCh errichtet somit gerade keinen umfassenden Grundrechtsschutz für die gesamte EU.
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2. Mitgliedstaaten handeln in jedem Fall dann zur „Durchführung von Unionsrecht“ (Art. 51 Abs. 1 S. 1 GrCh), wenn sie Unionsrecht umsetzen und anwenden, das ihnen keine Umsetzungsspielräume belässt.

Ja, in der Tat!

Die GRCh bindet die Mitgliedstaaten gemäß ihrem Art. 51 Abs. 1 S. 1 Var. 2 „ausschließlich bei der Durchführung des Rechts der Union“. Wann ein Mitgliedstaat tätig wird zur „Durchführung von Unionsrecht“, ist umstritten. Unstreitig wird das Unionsrecht von den Mitgliedstaaten durchgeführt, wo die Mitgliedstaaten Unionsrecht umsetzen und anwenden, das ihnen keine Umsetzungsspielräume belässt (sog. vollständig unionsrechtlich determinierter Bereich) (EuGH, Wachauf, RdNr. 19; BVerfG, Recht auf Vergessen II, RdNr. 42). Vollständig unionsrechtlich determiniert sind Rechtsbereiche, in denen EU-Verordnungen zwingende Vorgaben machen. Denn diese sind verbindlich und gelten unmittelbar (Art. 288 Abs. 2 AEUV). Vollständig unionsrechtlich determiniert sind auch Rechtsbereiche, in denen EU-Richtlinien (Art. 288 Abs. 3 AEUV) umzusetzen sind, die den Mitgliedstaaten keine Umsetzungsspielräume belassen.

3. Nach Art. 85 DSGVO steht den Mitgliedstaaten bei der Verarbeitung personenbezogener Daten zu journalistischen Zwecken ein Spielraum zu. Fällt der vorliegende Fall in den vollständig unionsrechtlich determinierten Bereich?

Nein!

Die Mitgliedstaaten handeln im vollständig unionsrechtlich determinierten Bereich zur Durchführung von Unionsrecht, wenn ihnen hinsichtlich der Anwendung oder Umsetzung von Unionsrecht keine Umsetzungsspielräume verbleiben. Im vorliegenden Sachverhalt ist mit der DSGVO zwar Unionsrecht sachlich anwendbar. Allerdings überlässt das anwendbare Unionsrecht den Mitgliedstaaten Umsetzungsspielräume hinsichtlich der Umsetzung der geltenden Regelungen für die streitgegenständlichen Sachbereich, nämlich die Verarbeitung personenbezogener Daten zu journalistischen Zwecken. Deshalb ist der Fall nicht vollständig unionsrechtlich determiniert. Achtung: Dass der Sachbereich hier nicht vollständig unionsrechtlich determiniert ist, schließt den Anwendungsbereich der GRCh (Art. 51 Abs. 1 S. 1 GRCh) nicht aus! Es wirkt sich aber darauf aus, in welchem Verhältnis GRCh und Grundrechte des GG angewendet werden. Dazu sogleich.

4. Handeln die Mitgliedstaaten auch dann zur „Durchführung von Unionsrecht“ (Art. 51 Abs. 1 S. 1 GrCh), wenn Unionsrecht anwendbar ist, das ihnen Umsetzungsspielräume belässt?

Genau, so ist das!

Die GRCh ist anwendbar bei der „Durchführung des Unionsrechts“ durch die Mitgliedstaaten (Art. 51 Abs. 1 S. 1 GRCh). Wann ein Mitgliedstaat tätig wird zur „Durchführung von Unionsrecht“, ist umstritten. Nach dem weiten Verständnis des EuGH reicht der Anwendungsbereich der GRCh so weit wie der Anwendungsbereich des Unionsrechts. Ist daher Unionsrecht anwendbar, handeln die Mitgliedsstaaten zur Durchführung des Unionsrechts (EuGH, Rs. Åkerberg Fransson, RdNr. 20f.). Dies gilt damit auch für den Bereich, in denen das anwendbare Unionsrecht den Mitgliedstaaten einen Umsetzungsspielraum belässt (nicht vollständig unionsrechtlich determinierter Bereich). Die Formulierung des EuGH ist eindrücklich: Es „sind keine Fallgestaltungen denkbar, die vom Unionsrecht erfasst würden, ohne dass [die Grundrechte der GRCh] anwendbar wären“ (EuGH, Rs. Åkerberg Fransson, RdNr. 21).

5. Wegen des verbleibenden Spielraums hinsichtlich der Verarbeitung personenbezogener Daten zu journalistischen Zwecken (Art. 85 DSGVO) fällt der vorliegende Fall in den nicht vollständig unionsrechtlich determinierten Bereich.

Ja, in der Tat!

Ist das Unionsrecht anwendbar auf einen Sachverhalt wird unterschieden, ob das Unionsrecht den Mitgliedstaaten einen Umsetzungsspielraum belässt (nicht vollständig unionsrechtlich determinierter Bereich) oder ein Umsetzungsspielraum ausgeschlossen ist (vollständig unionsrechtlich determinierter Bereich). Vorliegend belässt das anwendbare Unionsrecht den Mitgliedstaaten Umsetzungsspielräume hinsichtlich der Umsetzung der geltenden Regelungen für die streitgegenständlichen Sachbereich, nämlich die Verarbeitung personenbezogener Daten zu journalistischen Zwecken (Art. 85 DSGVO). Deshalb ist das Unionsrecht auf den Sachverhalt anwendbar, determiniert den Sachbereich rechtlich aber nicht vollständig.

6. Die Grundrechte des GG bleiben im nicht vollständig unionsrechtlich determinierten Bereich neben der GRCh anwendbar und sind Prüfungsmaßstab einer verfassungsrechtlichen Kontrolle durch das BVerfG.

Ja!

Im vollständig unionsrechtlich determinierten Bereich verbleibt für die Anwendung der Grundrechte des GG wegen des Anwendungsvorrangs der GRCh kein Raum. Im nicht vollständig unionsrechtlich determinierten Bereich bleiben die nationalen Grundrechte hingegen neben der GRCh anwendbar. BVerfG: Wenn deutsche Staatsgewalt aufgrund eigenen Entschlusses ausgeübt wird, müsse auch deren Bindung an das GG „als Korollar der politischen Entscheidungsverantwortung“ gegeben sein (BVerfG, Recht auf Vergessen I, RdNr. 42). Dies ist folgerichtig: Denn die GRCh soll eine einheitliche Anwendung des Unionsrechts absichern. Dort, wo das Unionsrecht mitgliedstaatliche Gestaltungsspielräume einräumt, zielt es aber gerade nicht auf einen einheitlichen Grundrechtsschutz. Gleichwohl bleibt die GRCh kumulativ anwendbar, und die Grundrechte des GG sind im Anwendungsbereich der GRCh im Lichte der GrCh auszulegen. Sollten die Grundrechtsstandards der GRCh unterschritten werden, ist innerstaatliches Recht auch im nicht vollständig unionsrechtlich determinierten Bereich unmittelbar an der GRCh zu prüfen.

7. Der vorliegende Fall ist vom BVerfG nach den Grundrechten des GG zu beurteilen.

Genau, so ist das!

Ist die GRCh anwendbar (= Durchführung des Unionsrechts, Art. 51 Abs. 1 GRCh), spielt der Fall aber im nicht vollständig unionsrechtlich determinierten Bereich, wird der Fall maßgeblich nach Maßgabe der Grundrechte des GG beurteilt. Der Fall befindet sich aufgrund seiner datenschutzrechtlichen Komponente zwar im weiteren Anwendungsbereich des Unionsrechts, jedoch fallen die entscheidungserheblichen Vorschriften in einen Regelungsbereich, für den das Unionsrecht den Mitgliedstaaten einen Gestaltungsspielraum einräumt (Art. 85 DSGVO). Damit handelt es sich um einen nicht vollständig unionsrechtlich determinierten Bereich. Damit sind die Grundrechte des GG Prüfungsmaßstab der Verfassungsbeschwerde (BVerfG, Recht auf Vergessen I, RdNr. 74). Anhaltspunkte dafür, dass das Schutzniveau der GRCh ausnahmsweise nicht gewährleistet ist - was eine Prüfung des Sachverhalt unmittelbar am Maßstab der GRCh zur Folge hätte - , bestehen nicht.
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