Kein Schaden durch lebenserhaltende Maßnahmen bei leidensbehaftetem Weiterleben


mittel

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+++ Sachverhalt (reduziert auf das Wesentliche)

Jurafuchs

Arzt B lässt den P in den letzten Monaten seines Lebens künstlich ernähren, obwohl das medizinisch nicht sinnvoll ist, weil keine Überlebenschance besteht. B klärt P darüber nicht richtig auf. Nach dem Tod des P verlangt K, der Alleinerbe des P, von B Zahlung von Schmerzensgeld. Dies stützt er auf die Behauptung, die künstliche Ernährung habe zu einer sinnlosen Verlängerung des Leidens des P geführt. K verlangt auch Ersatz der Behandlungskosten des P.

Einordnung des Falls

Kein Schaden durch lebenserhaltende Maßnahmen bei leidensbehaftetem Weiterleben

Die Jurafuchs-Methode schichtet ab: Das sind die 5 wichtigsten Rechtsfragen, die es zu diesem Fall zu verstehen gilt

1. K hat gegen B einen Anspruch auf Zahlung von Schmerzensgeld, wenn P der behauptete Anspruch gegen B zustand.

Ja!

Als Alleinerbe tritt K mit dem Tod des Erblassers P in dessen Rechtsstellung ein (Gesamtrechtsnachfolge, § 1922 Abs. 1 BGB). Damit gehen Ansprüche des P kraft Gesetzes auf K über. Sofern P ein Anspruch gegen B zustand, ging dieser mit dem Tod des P auf den Alleinerben K über. Anspruchsgrundlagen für das Schadensersatzbegehren könnten §§ 280 Abs. 1, 253 Abs. 2 in Verbindung mit § 1922 Abs. 1 BGB sein. Voraussetzungen: (1) Schuldverhältnis zwischen B und P = Behandlungsvertrag (§ 630a BGB), (2) Pflichtverletzung des B, (3) Verschulden des B, (4) ersatzfähiger, kausaler Schaden bei P, (5) K = Erbe des P.

2. Die fehlerhafte Aufklärung des P durch B stellt eine Pflichtverletzung dar.

Genau, so ist das!

Bei einem - hier vorliegenden - Behandlungsvertrag (§ 630a BGB) ist der Arzt verpflichtet, den Patienten unter anderem über die erwarteten Folgen der Behandlung aufzuklären (§ 630e BGB). Hier hat B den P nicht darüber aufgeklärt, dass die künstliche Ernährung medizinisch nicht indiziert ist. Somit liegt ein Aufklärungsfehler und damit eine Pflichtverletzung des B vor. Das Verschulden des B wird gemäß § 280 Abs. 1 S. 2 BGB vermutet. Als Schaden kommt sowohl ein Schmerzensgeld (§ 253 Abs. 2 BGB) als auch die durch das längere Leben zusätzlich entstandenen Behandlungskosten in Betracht.

3. Die leidensbehaftete Verlängerung des Lebens des P durch B stellt einen immateriellen Schaden im Sinne von § 253 Abs. 2 BGB dar.

Nein, das trifft nicht zu!

Ein Schaden wird bestimmt durch einen Vergleich der bestehenden Gesamtlage mit der Lage, die ohne das schädigende Ereignis bestanden hätte. Ein Nachteil, der sich bei diesem Vergleich ergibt, ist aber nur dann Schaden, wenn die Rechtsordnung ihn als solchen anerkennt. BGH: Das menschliche Leben sei ein höchstrangiges Rechtsgut und absolut erhaltungswürdig. Das Urteil über seinen Wert stehe keinem Dritten zu. Daher verbiete es sich, das Leben - auch ein leidensbehaftetes Weiterleben - als Schaden anzusehen, Art. 1 Abs. 1 GG (RdNr. 14). Das gelte selbst dann, wenn der Arzt entgegen einer Patientenverfügung handle (RdNr. 20).

4. Die Achtung der Menschenwürde (Art. 1 Abs. 1 GG) verbietet es auch, die durch ein längeres Weiterleben verursachten zusätzlichen Behandlungskosten als Schaden anzusehen.

Nein!

Art. 1 Abs. 1 GG verbietet es zwar, das Dasein eines Menschen als solches als Schaden anzusehen. BGH: Dies gelte aber nicht für wirtschaftliche Belastungen, die mit der Existenz eines Menschen verbunden sind. Diese könnten unter bestimmten Umständen als materieller Schaden anzusehen sein (RdNr. 29). Der BGH und das BVerwG haben eine Haftung des Arztes beispielsweise für die durch die planwidrige Geburt eines Kindes ausgelöste wirtschaftliche Belastung der Eltern als mit Art. 1 Abs. 1 GG vereinbar erachtet.

5. Für einen Schadensersatzanspruch des K fehlt es am Schutzzweckzusammenhang zwischen der Pflichtverletzung des B und den Behandlungskosten.

Genau, so ist das!

Die Schadensersatzpflicht ist nach ständiger Rechtsprechung durch den Schutzzweck der Norm begrenzt, unabhängig davon, auf welche Bestimmung die Haftung gestützt wird. Die Haftung hängt davon ab, dass die verletzte Norm oder Pflicht gerade den Schutz gegen die vorliegende Schädigungsart bezweckt. BGH: Die Pflicht, die medizinische Indikation für lebenserhaltende Maßnahmen nicht fehlerhaft zu bejahen, diene nicht dem Zweck, wirtschaftliche Belastungen, die mit dem Weiterleben verbunden sind, zu verhindern. Damit seien die von K geltend gemachten finanziellen Belastungen nicht ersatzfähig (RdNr. 33).

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Nookie

29.3.2021, 20:22:59

Ergeben sich Änderungen durch das Recht auf Suizid? M.E. Dürfte nunmehr in einem solchen Fall ein Schmerzensgeld nicht mehr grundsätzlich (gerade bei entgegenstehender Patientenverfügung) ausgeschlossen sein

Lukas_Mengestu

Lukas_Mengestu

4.1.2022, 18:42:11

Hallo Nookie, spannende Frage! In der Tat ließe sich das gut hören, dass das vom BVerfG entwickelte Recht auf selbstbestimmtes Sterben einen entsprechenden Schmerzensgeldanspruch umfasst, wenn gegen den Willen des Patienten lebenserhaltende Maßnahmen erbracht werden. Dabei ist dann aber zu beachten, dass das BVerfG dieses Recht aus dem allgemeinen Persönlichkeitsrecht (Art. 2 Abs. 1 GG iVm Art. 1 Abs. 1 GG) abgeleitet hat. Der BGH konnte eine Verletzung des APR im vorliegenden Fall offenlassen, da ein entgegenstehender Wille nicht festgestellt werden konnt.

Lukas_Mengestu

Lukas_Mengestu

4.1.2022, 18:45:51

Selbst wenn eine solche vorgelegen hätte, ist fraglich, ob der Erbe diesen Anspruch geltend machen könnte. Im Hinblick auf Verletzungen des Persönlichkeitsrechts hat der BGH indes entschieden, dass Ansprüche auf Geldentschädigung nicht vererbbar sind (NJW 2014, 2871). Denn die Geldentschädigung diene primär der Genuguung. Da das Recht auf selbstbestimmtes Sterben eine Ausprägung des Persönlichkeitsrechts ist, müsste dies konsequenterweise auch hier gelten. Beste Grüße, Lukas - für das Jurafuchs-Team


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