Öffentliches Recht
VwGO
Fortsetzungsfeststellungsklage
Sich typischerweise kurzfristig erledigende Verwaltungsakte – qualifizierter Grundrechtseingriff erforderlich?
Sich typischerweise kurzfristig erledigende Verwaltungsakte – qualifizierter Grundrechtseingriff erforderlich?
+++ Sachverhalt (reduziert auf das Wesentliche)
Polizistin P fordert A in der S-Bahn ohne erkennbaren Grund auf, sich auszuweisen. A ist vollkommen überrumpelt und kommt der Aufforderung nach. Später beschließt sie, die Rechtmäßigkeit der Maßnahme gerichtlich überprüfen zu lassen.
Diesen Fall lösen [...Wird geladen] der 15.000 Nutzer:innen unseres digitalen Tutors "Jurafuchs" richtig.
Einordnung des Falls
Sich typischerweise kurzfristig erledigende Verwaltungsakte – qualifizierter Grundrechtseingriff erforderlich?
Die Jurafuchs-Methode schichtet ab: Das sind die 5 wichtigsten Rechtsfragen, die es zu diesem Fall zu verstehen gilt
1. A will einen Verwaltungsakt aufheben lassen. Statthaft ist die Anfechtungsklage.
Nein!
Jurastudium und Referendariat.
2. As Klage ist bereits dann zulässig, wenn die allgemeinen Zulässigkeitsvoraussetzungen erfüllt sind.
Nein, das ist nicht der Fall!
3. Ein berechtigtes Interesse an der nachträglichen Feststellung könnte sich grundsätzlich daraus ergeben, dass sich ein Verwaltungsakt typischerweise so schnell erledigt, dass er nicht effektiv gerichtlich überprüft werden kann.
Ja, in der Tat!
4. Die Identitätskontrolle erledigt sich typischerweise schnell. Besteht As Fortsetzungsfeststellungsinteresse unstrittig bereits aus diesem Grund?
Nein!
5. Das BVerwG sieht das Fortsetzungsfeststellungsinteresse in den Fällen von sich typischerweise kurzfristig erledigenden Verwaltungsakten nur dann als gegeben, wenn es sich um einen qualifizierten Grundrechtseingriff handelt.
Genau, so ist das!
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Fragen und Anmerkungen aus der Jurafuchs-Community
RealOmnimodo 🇺🇦
20.11.2021, 15:03:59
Ich dachte, dass ein kurzzeitiger Eingriff dieser Art nur dann ein FF-Interesse begründet, wenn er auch besonders schwerwiegend ist?!
Lukas_Mengestu
22.11.2021, 11:33:39
Hallo Omnimodo Facturus, eine besondere Schwere des Eingriffes bedarf es für das
Fortsetzungsfeststellungsinteressetat
sächlich nicht. Im Gegenteil hat das BVerwG (Urt. v. 16.5.2013 - 8 C 14/12 = NVwZ 2013, 1481 RdNr. 29) klargestellt, dass ein tiefgreifender Grundsrechtseingriff als eigene Kategorie für sich genommen kein
Fortsetzungsfeststellungsinteressebegründet. Vielmehr sei eine Ausdehnung des
Feststellungsinteresses nur in Fällen geboten, in denen sonst der effektive Rechtsschutz (Art. 19 IV GG) gänzlich versagt würde. Dies sei der Fall bei "Eingriffsakten, die sonst wegen ihrer
typischerweisekurzfristigen Erledigung regelmäßig keiner gerichtlichen Überprüfung in einem Hauptsacheverfahren zugeführt werden könnten". Eine besondere Eingriffsintensität hat es hierfür dagegen nicht gefordert. Beste Grüße, Lukas - für das Jurafuchs-Team
Luca
19.5.2024, 11:10:07
Nach neuster Rspr. des BVerwG genügt die bloß kurzfristige Erledigung nicht (BVerwG, Beschl. v. 29.01.2024 - BVerwG 8 AV 1.24, BeckRS 2024,1177; VGH BW, Beschl. v. 20.12.2023 - 1 S 4108/20, BeckRS 2023, 38956). Dies wird damit begründet, dass sonst regelmäßig jedenfalls ein Eingriff in Art. 2 I GG vorläge und das Kriterium des berechtigten Interesses „weitgehend leerlaufen würde“. Nur bei gewichtigem Grundrechtseingriff, sei das
Feststellungsinteressebesonders schutzwürdig.
Luca
19.5.2024, 11:12:23
Nach neuester Rspr. des BVerwG genügt die bloß kurzfristige Erledigung nicht (BVerwG, Beschl. v. 29.01.2024 - BVerwG 8 AV 1.24, BeckRS 2024,1177; VGH BW, Beschl. v. 20.12.2023 - 1 S 4108/20, BeckRS 2023, 38956). Dies wird damit begründet, dass sonst regelmäßig jedenfalls ein Eingriff in Art. 2 I GG vorläge und das Kriterium des berechtigten Interesses „weitgehend leerlaufen würde“. Nur bei gewichtigem Grundrechtseingriff, sei das
Feststellungsinteressebesonders schutzwürdig.
Linne_Karlotta_
21.11.2024, 15:57:41
Hallo in die Runde,
tatsächlich war (und ist) es strittig, was die konkreten Anforderungen dieser Fallgruppe sind. Viele Stimmen in der Lit. sehen es wegen Art. 19 Abs. 4 S. 1 GG (immer noch) als geboten, dass bereits dann ein
Fortsetzungsfeststellungsinteressegegeben ist, wenn sich die Maßnahme
typischerweiseschnell erledigt. Denn Art. 19 Abs. 4 S. 1 GG differenziere nicht nach der Intensität des Eingriffs. Das BVerwG hat seine Gegenauffassung in der von Luca zitierten Entscheidung umfangreich dargestellt. Ich habe den Streit jetzt hier in die Aufgabe integriert. Die genannte Entscheidung veröffentlichen wir morgen für euch im Rspr.–Kurs! :) Viele Grüße – Linne, für das Jurafuchs-Team
Linne_Karlotta_
25.11.2024, 10:08:01
Nachtrag: Die angesprochene Entscheidung findet ihr hier: https://applink.jurafuchs.de/Hs8SMh3aOOb
Dolusdave
10.12.2021, 11:37:06
Könnte man hier auch auf das Rehabili
tationsinteresse abstellen, da von der Maßnahme eine diskriminierende Wirkung ausgeht?
Lukas_Mengestu
10.12.2021, 12:23:22
Hallo Dolusdave, darüber kann man nachdenken. Das Rehabiliationsinteresse ist allerdings nur dann verletzt, wenn die diskriminierende Wirkung auch nach der Erledigung fortwirkt. Darüber könnte man in Fällen nachdenken, in denen die Identitätsfeststellung vor einem größeren Publikum s
tattfindet bzw. in einer Art, durch die ein Publikum angezogen wird (vgl. Wolff, in: Sodan/Zielkow, VwGO, 5.A. 2018, § 113 RdNr. 275). Beste Grüße, Lukas - für das Jurafuchs-Team
frausummer
4.8.2022, 14:00:12
Hätte man in der Identitätskontrolle auch einen
Realakterblicken können? Mir fehlt hier an einer Regelung/Befehl
Lukas_Mengestu
5.8.2022, 11:03:09
Hallo frausummer, die Annahme eines
Realaktes wäre in dieser Situation
tatsächlich nicht möglich. Denn der Regelungsbefehl bei der Ausweiskontrolle besteht ja letztlich darin, dass der Betroffene aufgefordert wird, seinen Ausweis vorzuzeigen. Anders wäre dies nur, wenn die Polizei diese Aufforderung nicht ausspricht, sondern ohne zu fragen einfach den Ausweis wegnimmt. In diesem Fall läge
tatsächlich ein "bloßer"
Realaktvor. Beste Grüße, Lukas - für das Jurafuchs-Team
Michael
4.10.2024, 16:48:31
Wie andere Kommentare unter diesem Thread bereits erwähnt haben, ist das hier angegebene m.E. nicht richtig. Das
Feststellungsinteressewird in solchen Fällen nicht begründet, nur weil es sich um einen VA handelt, welcher sich regelmäßig kurzfristig erledigt. Dies kann nur in Verbindung mit einem tiefgreifenden Grundrechtseingriff angenommen werden. - BVerwG Beschl. v. 29.1.2024 – 8 AV 1.24 (OVG Münster) - NVwZ 2024, 1027
Linne_Karlotta_
25.11.2024, 10:07:37
Hey Michael, danke für den richtigen Hinweis. Wir haben die umstrittene Kategorie hier
tatsächlich verkürzt dargestellt, da gerade in der Lit. oftmals angenommen wird, dass es ausreichend ist, wenn sich der Verwaltungsakt
typischerweisekurzfristig erledigt. Ich habe den Streit jetzt in die Aufgabe integriert. Außerdem haben wir die neueste Entscheidung des BVerwG dazu (Urteil vom 24.04.2024 - 6 C 2.22) für euch aufbereitet: https://applink.jurafuchs.de/Hs8SMh3aOOb Viele Grüße – Linne, für das Jurafuchs-Team
G0d0fMischief
12.12.2024, 10:00:09
Hätte man hier nicht auch ein qualifiziertes
Feststellungsinteresseaus einem Rehabili
tationsinteresse ableiten können? Die Kontrolle hat ja an einem öffentlichen Ort s
tattgefunden. Oder fehlt es hieran, weil der Sachverhalt nicht hergibt, inwieweit die Betroffene ihren guten Ruf gegenüber der Gesellschaft wiederherstellen möchte?