Öffentliches Recht

VwGO

Fortsetzungsfeststellungsklage

Sich typischerweise kurzfristig erledigende Verwaltungsakte – qualifizierter Grundrechtseingriff erforderlich?

Sich typischerweise kurzfristig erledigende Verwaltungsakte – qualifizierter Grundrechtseingriff erforderlich?

20. Mai 2025

16 Kommentare

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leichtmittelschwer

+++ Sachverhalt (reduziert auf das Wesentliche)

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Klassisches Klausurproblem

Polizistin P fordert A in der S-Bahn ohne erkennbaren Grund auf, sich auszuweisen. A ist vollkommen überrumpelt und kommt der Aufforderung nach. Später beschließt sie, die Rechtmäßigkeit der Maßnahme gerichtlich überprüfen zu lassen.

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Einordnung des Falls

Sich typischerweise kurzfristig erledigende Verwaltungsakte – qualifizierter Grundrechtseingriff erforderlich?

Die Jurafuchs-Methode schichtet ab: Das sind die 5 wichtigsten Rechtsfragen, die es zu diesem Fall zu verstehen gilt

1. A will einen Verwaltungsakt aufheben lassen. Statthaft ist die Anfechtungsklage.

Nein!

Die Anfechtungsklage kommt nur in Betracht, solange der angegriffene Verwaltungsakt wirksam ist. Die Fortsetzungsfeststellungsklage ist dagegen statthaft, wenn sich der Kläger gegen einen Verwaltungsakt richtet, der sich nach Klageerhebung (§ 113 Abs. 1 S. 4 VwGO) oder vor Klageerhebung (§ 113 Abs. 1 S. 4 analog) erledigt hat. Die Aufforderung, sich auszuweisen (= Verwaltungsakt) hat sich in dem Moment erledigt, als A dieser Aufforderung nachgekommen ist. Statthaft ist die Fortsetzungsfeststellungklage (§ 113 Abs. 1 S. 4 VwGO analog).
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2. As Klage ist bereits dann zulässig, wenn die allgemeinen Zulässigkeitsvoraussetzungen erfüllt sind.

Nein, das ist nicht der Fall!

Für die Zulässigkeit der Fortsetzungsfeststellungsklage müssen einerseits die allgemeinen Zulässigkeitsvoraussetzungen (insbesondere die Klagebefugnis) vorliegen. Darüber hinaus gibt es die besondere Voraussetzung des Fortsetzungsfeststellungsinteresses. Die Fortsetzungsfeststellungsklage ist nur zulässig, wenn der Kläger ein berechtigtes Interesse an der Feststellung der Rechtswidrigkeit hat (§ 113 Abs. 1 S. 4 VwGO a.E.). Es gibt Fallgruppen des berechtigten Interesses, die bei der Fallbearbeitung helfen können. A muss ein berechtigtes Interesse daran haben, die Rechtswidrigkeit der Versagung der Erlaubnis nachträglich feststellen zu lassen.

3. Ein berechtigtes Interesse an der nachträglichen Feststellung könnte sich grundsätzlich daraus ergeben, dass sich ein Verwaltungsakt typischerweise so schnell erledigt, dass er nicht effektiv gerichtlich überprüft werden kann.

Ja, in der Tat!

Die konkreten Anforderungen an diese Fallgruppe sind umstritten. Nach einer Ansicht, die vor allem in der Lit. vertreten wird, besteht ein berechtigtes Interesse bereits dann, wenn sich Verwaltungsakte dieser Art oder Verpflichtungsbegehren dieser Art typischerweise sehr kurzfristig erledigen. In diesen Fällen sei es typischerweise ausgeschlossen, gegen die hoheitliche Maßnahme wegen der kurzfristigen Erledigung mit Erfolg gerichtlich vorzugehen. Daher müsse es möglich sein, die Rechtmäßigkeit des Handelns oder Nichthandelns der Behörde nachträglich zu überprüfen. Ansonsten gäbe es keinen Rechtsschutz gegen kurz andauernde Maßnahmen der Verwaltung, was mit Art. 19 Abs. 4 GG (Garantie des effektiven Rechtsschutz) unvereinbar wäre. Dagegen fordert das BVerwG, dass zusätzlich ein qualifizierter Grundrechtseingriff vorliegt.

4. Die Identitätskontrolle erledigt sich typischerweise schnell. Besteht As Fortsetzungsfeststellungsinteresse unstrittig bereits aus diesem Grund?

Nein!

Auch, wenn von einem erledigten Verwaltungsakt keine Beschwer mehr ausgeht, kann eine Feststellung der Rechtswidrigkeit gerechtfertigt sein, wenn sich der zuvor wirksame Verwaltungsakt typischerweise schnell erledigt. Das BVerwG fordert aber zusätzlich, dass die Maßnahme einen besonders schweren Eingriff für den Rechtsschutzsuchenden bedeutete. Eine Identitätskontrolle (= Verwaltungsakt) ist eine Maßnahme, die sich typischerweise schnell dadurch erledigt, dass der Betroffene der Aufforderung nachkommt - so wie auch in As Fall. Nach einer Ansicht würde dies für As Fortsetzungsfeststellungsinteresse bereits ausreichen. Die reine Aufforderung, seinen Ausweis zu zeigen, ist aber wohl kein besonders schwerwiegender Eingriff, sodass nach Ansicht des BVerwG das Fortsetzungsfeststellungsinteresse nicht vorliegt. Hier kommt es auf die Abwägung im Einzelfall an. Arbeite sauber mit dem Sachverhalt.

5. Das BVerwG sieht das Fortsetzungsfeststellungsinteresse in den Fällen von sich typischerweise kurzfristig erledigenden Verwaltungsakten nur dann als gegeben, wenn es sich um einen qualifizierten Grundrechtseingriff handelt.

Genau, so ist das!

Nach einer Ansicht, die vor allem in der Lit. vertreten wird, besteht ein berechtigtes Interesse bereits dann, wenn sich Verwaltungsakte dieser Art oder Verpflichtungsbegehren dieser Art typischerweise sehr kurzfristig erledigen. Dagegen fordert das BVerwG, dass zusätzlich ein besonders schwerer, tiefgreifender (= qualifizierter) Grundrechtseingriff vorliegt. Zur Begründung verweist es auf den Ausnahmecharakter von nachträglichem Rechtsschutz nach § 113 Abs. 1 S. 4 VwGO. Ein besonderes Interesse könne nicht angenommen werden, wenn sich das verfolgte Anliegen in der bloßen Klärung der Rechtmäßigkeit des erledigten Verwaltungsakts erschöpft. Dies sei nicht damit vereinbar, dass die VwGO grundsätzlich nur einen subjektiven Rechtsschutz vorsieht (vgl. § 42 Abs. 2 VwGO). Ein umfangreiches Urteil des BVerwG aus dem Jahr 2024 zu diesem Thema haben wir hier für euch aufbereitet.
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Fragen und Anmerkungen aus der Jurafuchs-Community

REA🇺🇦

RealOmnimodo 🇺🇦

20.11.2021, 15:03:59

Ich dachte, dass ein kurzzeitiger Eingriff dieser Art nur dann ein FF-Interesse begründet, wenn er auch besonders schwerwiegend ist?!

Lukas_Mengestu

Lukas_Mengestu

22.11.2021, 11:33:39

Hallo

Omnimodo Facturus

, eine besondere Schwere des Eingriffes bedarf es für das

Fortsetzungsfeststellungsinteresse

tatsächlich nicht. Im Gegenteil hat das BVerwG (Urt. v. 16.5.2013 - 8 C 14/12 = NVwZ 2013, 1481 RdNr. 29) klargestellt, dass ein tiefgreifender Grundsrechtseingriff als eigene Kategorie für sich genommen kein

Fortsetzungsfeststellungsinteresse

begründet. Vielmehr sei eine Ausdehnung des

Feststellungsinteresse

s nur in Fällen geboten, in denen sonst der effektive Rechtsschutz (Art. 19 IV GG) gänzlich versagt würde. Dies sei der Fall bei "Eingriffsakten, die sonst wegen ihrer typischerweise kurzfristigen Erledigung regelmäßig keiner gerichtlichen Überprüfung in einem Hauptsacheverfahren zugeführt werden könnten". Eine besondere Eingriffsintensität hat es hierfür dagegen nicht gefordert. Beste Grüße, Lukas - für das Jurafuchs-Team

LUCA

Luca

19.5.2024, 11:10:07

Nach neuster Rspr. des BVerwG genügt die bloß kurzfristige Erledigung nicht (BVerwG, Beschl. v. 29.01.2024 - BVerwG 8 AV 1.24, BeckRS 2024,1177; VGH BW, Beschl. v. 20.12.2023 - 1 S 4108/20, BeckRS 2023, 38956). Dies wird damit begründet, dass sonst regelmäßig jedenfalls ein Eingriff in Art. 2 I GG vorläge und das Kriterium des berechtigten Interesses „weitgehend leerlaufen würde“. Nur bei gewichtigem Grundrechtseingriff, sei das

Feststellungsinteresse

besonders schutzwürdig.

LUCA

Luca

19.5.2024, 11:12:23

Nach neuester Rspr. des BVerwG genügt die bloß kurzfristige Erledigung nicht (BVerwG, Beschl. v. 29.01.2024 - BVerwG 8 AV 1.24, BeckRS 2024,1177; VGH BW, Beschl. v. 20.12.2023 - 1 S 4108/20, BeckRS 2023, 38956). Dies wird damit begründet, dass sonst regelmäßig jedenfalls ein Eingriff in Art. 2 I GG vorläge und das Kriterium des berechtigten Interesses „weitgehend leerlaufen würde“. Nur bei gewichtigem Grundrechtseingriff, sei das

Feststellungsinteresse

besonders schutzwürdig.

Linne_Karlotta_

Linne_Karlotta_

21.11.2024, 15:57:41

Hallo in die Runde, tatsächlich war (und ist) es strittig, was die konkreten Anforderungen dieser Fallgruppe sind. Viele Stimmen in der Lit. sehen es wegen Art. 19 Abs. 4 S. 1 GG (immer noch) als geboten, dass bereits dann ein

Fortsetzungsfeststellungsinteresse

gegeben ist, wenn sich die Maßnahme typischerweise schnell erledigt. Denn Art. 19 Abs. 4 S. 1 GG differenziere nicht nach der Intensität des Eingriffs. Das BVerwG hat seine Gegenauffassung in der von Luca zitierten Entscheidung umfangreich dargestellt. Ich habe den Streit jetzt hier in die Aufgabe integriert. Die genannte Entscheidung veröffentlichen wir morgen für euch im Rspr.–Kurs! :) Viele Grüße – Linne, für das Jurafuchs-Team

Linne_Karlotta_

Linne_Karlotta_

25.11.2024, 10:08:01

Nachtrag: Die angesprochene Entscheidung findet ihr hier: https://applink.jurafuchs.de/Hs8SMh3aOOb

Dolusdave

Dolusdave

10.12.2021, 11:37:06

Könnte man hier auch auf das

Rehabilitationsinteresse

abstellen, da von der Maßnahme eine diskriminierende Wirkung ausgeht?

Lukas_Mengestu

Lukas_Mengestu

10.12.2021, 12:23:22

Hallo Dolusdave, darüber kann man nachdenken. Das Rehabiliationsinteresse ist allerdings nur dann verletzt, wenn die diskriminierende Wirkung auch nach der Erledigung fortwirkt. Darüber könnte man in Fällen nachdenken, in denen die Identitäts

feststellung

vor einem größeren Publikum stattfindet bzw. in einer Art, durch die ein Publikum angezogen wird (vgl. Wolff, in: Sodan/Zielkow, VwGO, 5.A. 2018, § 113 RdNr. 275). Beste Grüße, Lukas - für das Jurafuchs-Team

frausummer

frausummer

4.8.2022, 14:00:12

Hätte man in der Identitätskontrolle auch einen

Realakt

erblicken können? Mir fehlt hier an einer Regelung/Befehl

Lukas_Mengestu

Lukas_Mengestu

5.8.2022, 11:03:09

Hallo frausummer, die Annahme eines

Realakte

s wäre in dieser Situation tatsächlich nicht möglich. Denn der Regelungsbefehl bei der Ausweiskontrolle besteht ja letztlich darin, dass der Betroffene aufgefordert wird, seinen Ausweis vorzuzeigen. Anders wäre dies nur, wenn die Polizei diese Aufforderung nicht ausspricht, sondern ohne zu fragen einfach den Ausweis wegnimmt. In diesem Fall läge tatsächlich ein "bloßer"

Realakt

vor. Beste Grüße, Lukas - für das Jurafuchs-Team

MIC

Michael

4.10.2024, 16:48:31

Wie andere Kommentare unter diesem Thread bereits erwähnt haben, ist das hier angegebene m.E. nicht richtig. Das

Feststellungsinteresse

wird in solchen Fällen nicht begründet, nur weil es sich um einen VA handelt, welcher sich regelmäßig kurzfristig erledigt. Dies kann nur in Verbindung mit einem tiefgreifenden Grundrechtseingriff angenommen werden. - BVerwG Beschl. v. 29.1.2024 – 8 AV 1.24 (OVG Münster) - NVwZ 2024, 1027

Linne_Karlotta_

Linne_Karlotta_

25.11.2024, 10:07:37

Hey Michael, danke für den richtigen Hinweis. Wir haben die umstrittene Kategorie hier tatsächlich verkürzt dargestellt, da gerade in der Lit. oftmals angenommen wird, dass es ausreichend ist, wenn sich der Verwaltungsakt typischerweise kurzfristig erledigt. Ich habe den Streit jetzt in die Aufgabe integriert. Außerdem haben wir die neueste Entscheidung des BVerwG dazu (Urteil vom 24.04.2024 - 6 C 2.22) für euch aufbereitet: https://applink.jurafuchs.de/Hs8SMh3aOOb Viele Grüße – Linne, für das Jurafuchs-Team

G0d0fMischief

G0d0fMischief

12.12.2024, 10:00:09

Hätte man hier nicht auch ein

qualifiziertes Feststellungsinteresse

aus einem

Rehabilitationsinteresse

ableiten können? Die Kontrolle hat ja an einem öffentlichen Ort stattgefunden. Oder fehlt es hieran, weil der Sachverhalt nicht hergibt, inwieweit die Betroffene ihren guten Ruf gegenüber der Gesellschaft wiederherstellen möchte?

Linne_Karlotta_

Linne_Karlotta_

14.4.2025, 17:53:18

Hey @[G0d0fMischief](217996), danke für Deine Frage. Die Fallgruppe des

Rehabilitationsinteresse

s ist tatsächlich mit Vorsicht zu genießen. Du solltest diese nicht zu schnell bejahen, nur weil eine Maßnahme an einem öffentlichen Ort stattgefunden hat.

Erforderlich

ist vielmehr, dass der Verwaltungsakt, seine Begründung bzw. die Ablehnung seines Erlasses oder sein Vollzug „bei objektiver und vernünftiger Betrachtungsweise“ diskriminierende Wirkung hatte, welche noch andauert, und der durch eine gerichtliche

Feststellung

der

Rechtswidrigkeit

wirksam begegnet werden kann. Die Rspr. geht hier teilweise sehr restriktiv vor und bejaht das

Rehabilitationsinteresse

nur dann, Daneben findet sich in der höchstrichterlichen Rechtsprechung eine – restriktivere – Formulierung, wonach ein berechtigtes ideelles Interesse an einer Rehabilitierung nur besteht, wenn sich aus der angegriffenen Maßnahme eine Stigmatisierung des Betroffenen ergibt, die geeignet ist, sein Ansehen in der Öffentlichkeit oder im sozialen Umfeld herabzusetzen. (Schoch/Schneider/Riese, 46. EL August 2024, VwGO § 113 RdNr. 137, beck-online) Die Diskriminierung muss in jedem Fall

Außenwirkung

haben, woran es fehlt, wenn niemand von der Maßnahme mitbekommt. Nur, weil die Maßnahme „öffentlich“ erfolgt, kann man noch nicht ohne Weiteres davon ausgehen, dass andere Leute diese mitbekommen haben. Es gibt aber durchaus kritische Anmerkungen zu dem Merkmal der „

Außenwirkung

“ bzw. generell dazu, dass die Fallgruppe des

Rehabilitationsinteresse

s wenig Konturen hat und es oftmals „vom Zufall“ abhängt, ob dieses bejaht wird oder nicht. Siehe dazu z.B. Schoch/Schneider/Riese, 46. EL August 2024, VwGO § 113 RdNr. 138f., beck-online. Für die Klausur gilt: Wenn sich im Sachverhalt keine genaueren Angaben zu der stigmatisierenden Wirkung der Maßnahme findet, solltest Du das

Rehabilitationsinteresse

kurz anprüfen und dann verneinen. In dieser Aufgabe ist völlig unklar, wer überhaupt die Maßnahme von außen mitbekommt, was diese „Aufmerksamkeit“ für Konsequenzen für A hat und vor allem auch, wie eine gerichtliche

Feststellung

der

Rechtswidrigkeit

der Maßnahme A eine Genugtuung verschaffen können soll. Ich hoffe, ich konnte Dir damit weiterhelfen! Viele Grüße – Linne, für das Jurafuchs-Team


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