Rücknahme eines begünstigenden VAs: Verjährung der Rücknahmebefugnis?


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G beantragt Corona Entschädigungszahlungen. S bewilligt diese. Erst 10 Jahre später wird S bekannt, dass G tatsächlich keinen Anspruch auf die Zahlungen hatte. Daraufhin nimmt S die Bewilligung innerhalb eines Jahres zurück.

Einordnung des Falls

Rücknahme eines begünstigenden VAs: Verjährung der Rücknahmebefugnis?

Die Jurafuchs-Methode schichtet ab: Das sind die 4 wichtigsten Rechtsfragen, die es zu diesem Fall zu verstehen gilt

1. Die Behörde kann rechtswidrige, begünstigende Verwaltungsakte grundsätzlich nur innerhalb eines Jahres zurücknehmen.

Ja!

Nach § 48 Abs. 4 S. 1 VwVfG kann die Behörde begünstigende Verwaltungsakte nur innerhalb eines Jahres zurücknehmen. Der Rücknahmebescheid muss dem Begünstigten vor Ablauf der Frist bekanntgegeben worden sein. Die Frist beginnt nach herrschender Meinung erst zu laufen, wenn die Behörde alle für die Rücknahme maßgeblichen Tatsachen kennt (Entscheidungsfrist).

2. S konnte die Bewilligung nicht zurücknehmen, weil die Frist des § 48 Abs. 4 VwVfG bereits abgelaufen ist.

Nein, das ist nicht der Fall!

Der Fristbeginn richtet sich nicht danach, wann die Behörde den begünstigenden Verwaltungsakt erlassen hat, sondern danach, wann der zuständige Sachbearbeiter alle für die Rücknahme maßgeblichen Tatsachen kennt (herrschende Meinung). S hat die Bewilligung innerhalb eines Jahres, nachdem er Kenntnis von der Rechtswidrigkeit des Verwaltungsakt erlangt hat, zurückgenommen. Dass er den Verwaltungsakt bereits 10 Jahre zuvor erlassen hat, spielt für die Frist nach § 48 Abs. 4 VwVfG keine Rolle.

3. Die Rücknahmebefugnis unterliegt der Verjährung.

Nein, das trifft nicht zu!

§ 48 VwVfG trifft keine Regelung über die Verjährung der behördlichen Rücknahmebefugnis. Allgemein verjährbar sind Ansprüche, also das Recht, von jemandem ein Tun oder Unterlassen verlangen zu können (vergleiche § 194 Abs. 1 BGB). Nicht verjährbar sind öffentlich-rechtliche Befugnisse. Der Rücknahmebescheid ist kein Leistungsbescheid, sondern ein rechtsgestaltender Verwaltungsakt. Von dem Begünstigten wird nichts verlangt, die Behörde hebt lediglich den früheren Verwaltungsakt auf. Die allgemeinen Verjährungsfristen (Zivil- oder Strafrecht) können daher nicht analog angewendet. Verwaltungsrechtliche Spezialgesetze können abweichenden Regelungen treffen.

4. Vorliegend ist weder die Rücknahmefrist abgelaufen, noch ist die Rücknahmebefugnis verjährt. S konnte den Verwaltungsakt deswegen grundsätzlich zurücknehmen.

Ja!

Die Frage nach der Rücknahmefrist ist streng zu unterscheiden von der Frage nach der Verjährung der Rücknahmebefugnis. Die Rücknahmefrist bezieht sich auf eine zeitliche Begrenzung innerhalb einer bestehenden Rücknahmebefugnis. Besteht schon gar keine Rücknahmebefugnis, erübrigt sich die Frage danach, ob die Behörde die Rücknahmefrist eingehalten hat. Die Rücknahmebefugnis aus § 48 VwVfG unterliegt jedoch nicht der Verjährung. S war rücknahmebefugt. Weiterhin hat er die Jahresfrist aus § 48 Abs. 4 VwVfG eingehalten. Bei der Diskussion um eine analoge Anwendung der Verjährungsfristen kannst du ruhig Kreativität zeigen. Bei diesem Spezialproblem gibt es kein "falsch".

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Veterator

Veterator

22.7.2021, 19:24:36

Hallo Jurafüchse! Sollte man die Verjährung als Problem denn überhaupt ansprechen, wenn das klar ist? Und wenn ja, zeige ich dann etwas Kreativität bei der Argumentation aber muss zwangsläufig auf das Ergebnis kommen, dass es die Verjährungsfrist bei der Rücknahme nicht gibt? Vielen Dank!

Wendelin Neubert

Wendelin Neubert

23.7.2021, 11:58:06

Hallo Veterator, wir haben diese Aufgabe aufgenommen, weil das Problem des Beginns der Rücknahmefrist in 48 Abs. 4 S. 1 VwVfG ein Lehrbuch- und Klausurproblem ist, das drankommen kann. Die Lösung ist aber umstritten, und die h.M. ist extrem verwaltungsfreundlich. Es gibt hier offenkundig ein zulasten der Bürger:innen gelöstes Problem: Die Behörde kann noch nach vielen Jahren zurücknehmen, wenn sie die notwendigen Tatsachen erst so spät zusammen hat, die Frist des 48 Abs. 4 S. 1 VwVfG läuft faktisch ins Leere. Aber wie werden dann die Bürger:innen geschützt? Hier könnte man an Verjährung denken und darüber nachdenken, Analogien zu bilden. Die h.M. lehnt dies zwar ab und arbeitet ausschließlich mit dem strengeren Institut der Verwirkung. Aber: Solche Probleme nehmen Prüfer:innen gern zum Anlass, die Argumentationsfreudigkeits von Prüflingen zu testen. Deshalb ist hier eine a.A. vertretbar, und gute Argumente und Problembewusstsein werden mit mehr Punkten versehen als genaue Kenntnis eines speziellen Problems. Hoffe das hilft! Beste Grüße - Wendelin für das Jurafuchs-Team


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