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Anblasen mit Zigarettenrauch als rechtswidriger notwehrfähiger Angriff? - Jurafuchs

Anblasen mit Zigarettenrauch als rechtswidriger notwehrfähiger Angriff? - Jurafuchs

leichtmittelschwer

+++ Sachverhalt (reduziert auf das Wesentliche)

Jurafuchs Illustration: T bläst K aus kurzer Distanz in einem rauchfreien Club Zigarettenrauch ins Gesicht.
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Klassisches Klausurproblem

T bläst K aus kurzer Distanz provozierend Zigarettenqualm mit spürbar feuchter Atemluft ins Gesicht. Zur Verhinderung weiterer „Rauchangriffe“ und um auch nicht weiter mit Spuckepartikeln angepustet zu werden, wirft K dem T ein Glas an den Kopf, der deswegen eine Prellung erleidet.

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Einordnung des Falls

Das AG Erfurt hat hier entschieden, dass das Blasen von Zigarettenrauch ins Gesicht einer Person eine Körperverletzung darstellt und zur Notwehr berechtigt. Während die Staatsanwaltschaft das Blasen von Rauch ins Gesicht „nur“ als erniedrigend bewertete, ging das AG weiter und entschied, dass die Handlungen eine Körperverletzung darstelle, da der Rauch zusammen mit Speichel direkt ins Gesicht geblasen wurde und so Schleimhäute reize. Zudem enthalte Zigarettenrauch Karzinogene, Viren und Bakterien.

Die Jurafuchs-Methode schichtet ab: Das sind die 6 wichtigsten Rechtsfragen, die es zu diesem Fall zu verstehen gilt

1. Hat K den Tatbestand der „gefährlichen Körperverletzung" (§§ 223 Abs. 1, 224 Abs. 1 StGB) verwirklicht, indem sie T ein Glas an den Kopf warf?

Ja!

Die durch den Glaswurf verursachte Prellung stellt eine körperliche Misshandlung im Sinne einer üblen und unangemessenen Behandlung, durch die das körperliche Wohlbefinden oder die körperliche Unversehrtheit mehr als nur unerheblich beeinträchtigt wird, dar (§ 223 Abs. 1 Var. 1 StGB). Ferner hat K die Körperverletzung mittels eines anderen gefährlichen Werkzeuges begangen (§ 224 Abs. 1 Nr. 2 Var. 2 StGB), da das geworfene Glas nach seiner objektiven Beschaffenheit und in seiner konkreten Art der Benutzung geeignet ist, erhebliche Körperverletzungen zuzufügen. K wollte T das Glas an den Kopf werfen. Sie handelte daher vorsätzlich (§ 15 StGB).
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2. Ist die gefährliche Körperverletzung der K gerechtfertigt, wenn als Rechtfertigungsgrund die „Notwehr" (§ 32 StGB) eingreift?

Genau, so ist das!

Da der T die K mit Zigarettenrauch angepustet hat, kommt ein Handeln in Notwehr in Betracht. Hierfür ist eine (1) Notwehrlage, eine (2) Notwehrhandlung und das (3) subjektive Rechtfertigungselement Voraussetzung. Als Notwehrlage ist ein gegenwärtiger rechtswidriger Angriff erforderlich. Mit dem Begriff der Notwehrhandlung wird umschrieben, dass nur eine erforderliche und gebotene Verteidigungshandlung gerechtfertigt ist. Schließlich verlangt das subjektive Rechtfertigungselement Kenntnis der Umstände und ein Handeln zum Zweck der Verteidigung.

3. Hat T die K „angegriffen" (§ 32 Abs. 2 StGB), indem er sie mit Zigarettenrauch angepustet hat?

Ja, in der Tat!

Ein Angriff ist jede durch menschliches Verhalten drohende Verletzung rechtlich geschützter Güter oder Interessen. Das provozierende Anrauchen mit zuvor bereits inhaliertem und damit mit Atemluft und Speichelnebel vermengtem Zigarettenrauch gegen das Gesicht der K stellte einen Angriff nicht nur gegen die Ehre dar, sondern war auch über die Grenze hinzunehmender Bagatellen hinaus geeignet, das körperliche Wohlbefinden und die Gesundheit zu beeinträchtigen. Die Gesundheitsbeeinträchtigung resultiert dabei sowohl aus den karzinogenen Anteilen des Zigarettenrauches als auch aus den potenziellen Viren und Bakterien der Körperflüssigkeit „Spucke“.

4. War der Angriff „gegenwärtig und rechtswidrig" (§ 32 Abs. 2 StGB)?

Ja!

Ein Angriff ist gegenwärtig, wenn er unmittelbar bevorsteht, bereits begonnen hat oder noch fortdauert. Als K zum Glaswurf ansetzte, dauerte das Anrauchen noch an. Auch musste sie jederzeit mit einem zweiten Anpusten rechnen. Der „Rauchangriff“ war mithin gegenwärtig und im Übrigen auch rechtswidrig, sodass eine Notwehrlage gegeben ist.

5. War der Glaswurf an den Kopf des T als „Verteidigungshandlung erforderlich" (§ 32 Abs. 2 StGB)?

Genau, so ist das!

Der Glaswurf war eine Verteidigungshandlung, denn er richtete sich gegen den Angreifer. Die Erforderlichkeit setzt voraus, dass die Handlung geeignet und das relativ mildeste Mittel ist, um den Angriff abzuwehren. Der Glaswurf war geeignet, denn er beendete das Anpusten sofort und unmittelbar und beseitigte damit die körperliche Beeinträchtigung der K endgültig. Vor allem unter Berücksichtigung des Größenunterschieds stand der K in der konkreten Situation auch kein milderes, aber gleich effektives Mittel zur Verfügung. Ein demütigendes Zurückweichen ist der Angegriffenen grundsätzlich nicht zuzumuten. Die Abwehrhandlung war erforderlich.

6. War der Glaswurf an den Kopf des T nach Ansicht des Amtsgericht Erfurt „geboten" (§ 32 Abs. 1 StGB)?

Ja, in der Tat!

Das AG Erfurt bejaht die Gebotenheit und setzt sie mit der Erforderlichkeit gleich. Das ist falsch. Die Gebotenheit beschränkt vielmehr eine für sich gesehen erforderliche Verteidigung nach sozialethischen Maßstäben, um eine Überdehnung des der Notwehr zugrundeliegenden Rechtsbewährungs- und Schutzprinzips zu vermeiden. Als etablierte Fallgruppe kommt hier der Bagatellangriff in Betracht. Das Anpusten mit Zigarettenrauch ist nur eine aggressive Belästigung und hat daher Bagatellcharakter. Dennoch eine gefährliche Körperverletzung zu rechtfertigen, hieße zu erlauben „, mit Kanonen auf Spatzen zu schießen“. Folglich war der Glaswurf nicht geboten (aA vertretbar).
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Fragen und Anmerkungen aus der Jurafuchs-Community

GI

GingerCharme

23.12.2020, 18:24:02

Ich verstehe, wieso die Begründung des AG Erfurt, rechtlich fehlerhaft ist, kann aber dem Ergebnis einiges abgewinnen. Meiner Ansicht nach, könnte man hier die Tat der K auch sozialethisch noch rechtfertigen. Jeder strikte Nichtraucher weiß wie unangenehm das Einatmen von Rauch ist, unabhängig vom medizinischen Aspekt, wenn dann bewusst feucht gepustet wird und quasi fast noch gespuckt wird, ist dies extremst dispektierlich und ekelerregend. Vor allem in der aktuellen pandemischen Lage, hat das Verhindern von ungewolltem Speichelaustausch zu Recht an Wert gewonnen. Desweiteren stand hier eine körperlich Überlegene Person als Aggressor gegenüber, welche mit ihrem Verhalten zu verstehen gab auf das Wohlbefinden anderer bewusst keinen Wert zu legen und dies auch wiederholt nicht zu tun.

GI

GingerCharme

23.12.2020, 18:29:17

Desweiteren stand hier eine wohl körperlich unterlegene Person einer physisch "stärkeren" gegenüber, ihr einziges Mittel wäre also nur die Flucht gewesen, dann wäre Recht jedoch dem Unrecht gewichen ... Ich bezweifle auch, dass ein einzelner Wurf mit einem Glas zu viel mehr als Prellungen führen kann (man bedenke schlechte Sichtverhältnisse, mindere Qualität von Diskotheken-Gläsern und individuelle Ziel-/Treffkünste). Ich hätte eher ein Problem mit der Gegenwärtigkeit bekommen, ich habe dem SV nämlich nicht entnommen, dass der "Rauchstrahl" noch anhielt oder tatsächlich ein neuer kurz bevorstand. Ich habe instinktiv die Ehrverletzung deshalb als bereits beendet angesehen, wie dies auch der Fall ist, falls eine Beleidigung bereits fertig gesprochen und die Ehrverletzung somit beendet ist.

K!gh

K!gh

23.12.2020, 23:07:26

Mir fehlten die Angaben zur körperlichen Unterlegenheit der K im SV.

GI

GingerCharme

23.12.2020, 23:51:08

Ja stimmt K!gh, dies war auch erst den Lösungen zu entnehmen. Bei Jurafuchs gehört ja die Zeichnung immer mit zum SV - wenn die Zeichnung schon trocken wäre, dann wäre bestimmt auch einiges daraus hervorgegangen.

Eigentum verpflichtet 🏔️

Eigentum verpflichtet 🏔️

24.12.2020, 01:55:51

Hallo ihr beiden, wir haben den Größenunterschied im Sachverhalt ergänzt und auch bei der Gebotenheit ergänzt, dass eine andere Ansicht vertretbar ist. Gerade in Coronazeiten wird man wohl tatsächlich gut die aA vertreten können!

SAUFE

Saufen_Fetzt

21.10.2022, 13:11:36

Immer wieder schockierend, mit was sich die Gerichte im echten Leben beschäftigen müssen…

versuchter fahrlässiger Diebstahl

versuchter fahrlässiger Diebstahl

27.12.2021, 18:34:19

Wo war der Angriff durch den T während des Wurfes der K noch gegenwärtig? Die Gegenwärtigkeit des Angriffes des T ergibt für mich keinen Sinn.

Lukas_Mengestu

Lukas_Mengestu

28.12.2021, 19:54:44

Hallo James, vielen Dank für Deine Frage und herzlich willkommen bei Jurafuchs. Der Angriff ist hier gegenwärtig, da zum einen das Anpusten gerade noch andauerte (siehe auch Skizze) und zum anderen mit einem zweiten Angriff zu rechnen war. Für die Gegenwärtigkeit genügt es insoweit, dass der zweite Angriff unmittelbar bevorsteht. Beste Grüße, Lukas - für das Jurafuchs-Team

Jakob

Jakob

16.2.2023, 11:21:11

Ich finde es verwirrend, dass ein Angriff vorliegt und dies begründet wird, dass es über die Bagatellegrenze hinausgeht. Das Notwehrrecht aber, da es ein Bagatelle ist, nicht geboten ist.

Lukas_Mengestu

Lukas_Mengestu

16.2.2023, 18:01:46

Hallo Jakob, vielen Dank für Deine Frage! Hier musst Du die Prüfungsebenen wirklich sauber trennen. Die Notwehrlage ist recht weit zu verstehen. Jeglicher Beeinträchtigung eines strafrechtlich geschützten Rechtsguts stellt erst einmal einen Angriff dar. Es muss allerdings eine Beeinträchtigung stattfinden, d.h. wenn dich zB jemand leicht in den Bauch piekst, liegt ggfs. schon keine Beeinträchtigung der körperlichen Unversehrtheit vor. Bei einer solchen "Bagatelle" würde es also ggfs. schon an der Notwehrlage scheitern. Sobald aber ein Rechtsgut gegenwärtig beeinträchtigt wird bzw. die Beeinträchtigung unmittelbar bevorsteht, stellt sich die Frage, welche Verteidigungshandlung zulässig ist. Grundsätzlich ist das Notwehrrecht schneidig, d.h. jede geeignete und erforderliche Maßnahme darf ergriffen werden. Nur in Ausnahmefällen erfolgt eine weitere Einschränkung über die Gebotenheit. Das berühmteste (Schulbuch-)Beispiel hierfür, ist der im Rollstuhl sitzende Rentner, der auf die Nachbarskinder schießt, die ihm seine Kirschen klauen. Bei einem solchen Auseinanderklaffen zwischen dem geschützten Rechtsgut (Eigentum im Wert von wenigen Cents vs. Leben) wird die Gebotenheit abgelehnt. Im vorliegenden Fall ist dies ersichtlich diskutabel. Das AG Erfurt hat diese angenommen. Gut vertretbar erscheint unserer Meinung aber auch das gegenteilige Ergebnis. In einer Klausur käme es nicht auf das Ergebnis, sondern nur die Argumentation an :-) Beste Grüße, Lukas - für das Jurafuchs-Team

FB

Friederike Boelitz

24.3.2023, 23:25:35

Ich finde es muss bedacht werden dass Rauch auch bei sensibeleren Menschen Astmaanfälle auslösen kann.

Nora Mommsen

Nora Mommsen

27.3.2023, 16:42:30

Hallo Friederike Boelitz, danke für deine Anmerkung. Das lässt sich sicherlich argumentieren, gerade wenn es im Einzelfall wirklich zu einer lebensbedrohlichen Situation kommt. Hier wurde von uns (im Einklang mit der sehr überwiegenden Rechtsprechung) auch gar nicht das Notwehrrecht als solches verneint, sondern lediglich die Gebotenheit der konkreten

Notwehrhandlung

. Da ist es durchaus vertretbar - angesichts der weiterreichenden Rechtfertigung der Notwehr - an Stelle der Gebotenheit zu überlegen, ob es wirklich nötig gewesen ist, mit einem Glas nach der Person zu werfen. Auch wenn keine Verhältnismäßigkeitsprüfung erfolgt, könnte man dieses "mit Kanonen auf Spatzen schießen" auch gut als rechtsmissbräuchlich beurteilen. Mit entsprechender Argumentation kannst du dich natürlich dem AG Erfurt anschließen. Viele Grüße, Nora - für das Jurafuchs-Team

YAN

yangbo

13.4.2023, 12:32:19

Wäre es angesichts von Corona heutzutage immer noch ein Bagatellangriff bzw. angesichts der sinkenden Gefahr als Pandemie inzwischen wieder?

Sinemm

Sinemm

22.2.2024, 19:27:29

Ich würde sagen es kommt ganz darauf an, was im Sachverhalt steht :) Kann man sicherlich, auch im Hinblick auf die Entscheidung, beidseitig entscheiden, wenn man es gut begründet. Tendenziell finde ich doch mE das Risiko einer (natürlich nach der entsprechenden Inkubationszeit) eintretenden Krankheit, die ebenfalls wie das Rauchen potentielle tödliche Folgen haben kann, schlimmer, als wenn man einmal "angepustet" wird. Dem Zigarettenrauch ist man im täglichen Leben doch auch öfter ausgesetzt, ob man will oder nicht.


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