Anfertigung und Veröffentlichung von Versammlungsfotos auf Social Media durch Polizei


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Jurafuchs

Polizistin P fertigt Fotos von einer Versammlung an und veröffentlicht sie anschließend auf dem Twitter-Account der Polizei. Auf den Fotos ist auch T zu sehen. T zweifelt daran, dass die Maßnahme von einer Ermächtigungsgrundlage gedeckt ist.

Einordnung des Falls

Anfertigung und Veröffentlichung von Versammlungsfotos auf Social Media durch Polizei

Die Jurafuchs-Methode schichtet ab: Das sind die 6 wichtigsten Rechtsfragen, die es zu diesem Fall zu verstehen gilt

1. Das bloße Fotografieren einer Versammlung ist ein Eingriff in die Versammlungsfreiheit (Art. 8 Abs. 1 GG).

Ja!

OVG: Das Anfertigen von Aufzeichnungen sei nach der heutigen Technik immer ein Grundrechtseingriff, weil Einzelpersonen in der Regel ohne technische Bearbeitungsschritte identifizierbar seien. Das Bewusstsein, dass die Versammlungsteilnahme festgehalten wird, habe Einschüchterungswirkung. Potenzielle Teilnehmer würden möglicherweise auf die Ausübung ihres Grundrechts verzichten, was wiederum die demokratische Meinungsbildung und den öffentlichen Diskurs beeinträchtige. Davon zu unterscheiden seien bloße Übersichtsmaßnahmen ohne Eingriffsqualität, die erkennbar nur der Lenkung von Polizeieinsätzen bei Großdemonstrationen dienen (RdNr. 60ff.).

2. Das Anfertigen der Fotos durch P, um sie anschließend auf dem Twitter-Account der Polizei zu publizieren, ist ein Eingriff in die Versammlungsfreiheit (Art. 8 Abs. 1 GG).

Genau, so ist das!

OVG: Das Fotografieren entfaltete eine „Abschreckungs- und Einschüchterungswirkung, die geeignet war, Personen von der [...] Grundrechtswahrnehmung abzuhalten oder zumindest in ihrem Verhalten während der Versammlungsteilnahme zu beeinflussen“ (RdNr. 69). Die Tatsache, dass die Fotos für die Öffentlichkeitsarbeit der Polizei gedacht waren, habe den Abschreckungseffekt bei lebensnaher Betrachtung sogar noch verstärkt, da die Teilnehmer dann mit einem erheblich gesteigerten Verbreitungsgrad der Fotos rechnen mussten (RdNr. 72). Eine bloße Übersichtsmaßnahme unterhalb der Eingriffsschwelle liege hier erkennbar nicht vor (RdNr. 74).

3. Die Versammlungsfreiheit kann für Versammlungen unter freiem Himmel nur durch Gesetz oder aufgrund eines Gesetzes beschränkt werden (Art. 8 Abs. 2 GG).

Ja, in der Tat!

Die Beschränkbarkeit des Grundrechts der Versammlungsfreiheit (Art. 8 Abs. 1 GG) richtet sich danach, ob die Versammlung unter freiem Himmel oder in geschlossenen Räumen stattfindet. Versammlungen unter freiem Himmel – wie die Versammlung der T – stehen dabei unter einem einfachen Gesetzesvorbehalt (Art. 8 Abs. 2 GG). Eingriffe in die Versammlungsfreiheit bedürfen somit einer speziellen gesetzlichen Ermächtigungsgrundlage.

4. Die Anfertigung der Bildaufnahmen der P kann auf §§ 19a, 12a Abs. 1 VersG gestützt werden.

Nein!

OVG: Die streitgegenständliche Anfertigung der Bildaufnahmen sei nicht von §§ 19a, 12a Abs. 1 VersG gedeckt. Beweggrund für die Anfertigung der Bilder war die polizeiliche Öffentlichkeitsarbeit, nicht die Gefahrenabwehr oder die Strafverfolgung. Somit liegt schon der Tatbestand des § 12a Abs. 1 VersG nicht vor. Diese Vorschrift kommt somit nicht als taugliche Ermächtigungsgrundlage für die Anfertigung der Bildaufnahmen durch P in Betracht (RdNr. 92).

5. Die Anfertigung der Bildaufnahmen der P kann auf eine Ermächtigungsgrundlage aus dem allgemeinen Polizei- und Ordnungsrecht gestützt werden.

Nein, das ist nicht der Fall!

OVG: Das Anfertigen von Bild- und Tonaufnahmen von Versammlungen durch die Polizei und deren zweckgebundene Weiterverwendung seien in § 12a VersG (der über § 19a VersG auch für Versammlungen unter freiem Himmel gilt) speziell und abschließend geregelt (RdNr. 84ff.). Die Behörde könne sich daher allein auf eine Ermächtigungsgrundlage aus dem VersG stützen, ein Rückgriff auf andere Vorschriften scheide aus (Polizeifestigkeit der Versammlung) (RdNr. 90).

6. Anfertigung und Veröffentlichung der Fotos kann auf die allgemeine Befugnis zu staatlichem Informationshandeln gestützt werden.

Nein, das trifft nicht zu!

Staatliches Informationshandeln ist zulässig und auch notwendig. Können staatliche Aufgaben mittels öffentlicher Informationen wahrgenommen werden, liegt in der Aufgabenzuweisung grundsätzlich auch eine Ermächtigung zum Informationshandeln. OVG: Die Zulässigkeit staatlichen Informationshandelns ohne spezielle Ermächtigungsgrundlage sei aber nur dann gegeben, wenn es nur zu faktisch-mittelbaren Grundrechtsbeeinträchtigungen komme und der betroffene Bereich einer staatlichen Normierung nicht zugänglich sei. Diese Voraussetzungen seien hier nicht erfüllt; eine spezialgesetzliche Ermächtigungsgrundlage sei mithin nicht entbehrlich (RdNr. 112ff.). Eine spezielle Rechtsgrundlage für die Publikation der Fotos existiere ebenfalls nicht (RdNr. 120). Ohne Ermächtigungsgrundlage ist der Eingriff nicht gerechtfertigt.

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JO

jomolino

17.12.2021, 17:42:51

Ich finde den Satz in der letzten Erklärung etwas verwirrend, dass mit der Aufgabenzuweisung gleichzeitig auch die Ermächtigung einherginge. Diese beiden Dinge also Kompetenznorm und Ermächtigungsgrundlage sind doch streng zu trennen, so ist z.B. Art 74 GG gerade keine Ermächtigungsgrundlage für irgendwas oder habe ich etwas falsch verstanden?

Lukas_Mengestu

Lukas_Mengestu

17.12.2021, 20:15:31

Wirklich hervorragende Frage, nomamo! Du hast absolut recht, dass man dogmatisch streng zwischen Aufgabenzuweisungsnormen und Ermächtigungsgrundlagen unterscheiden muss. Da letztlich jeder staatlicher Eingriff eine Ermächtigungsgrundlage bedarf, ist er ohne eine solche nicht gerechtfertigt. Die bloße Aufgabenzuweisung reicht grundsätzlich nicht. Soviel zum Grundsatz. Doch wo es einen Grundsatz gibt, da gibt es letztlich auch Ausnahmen und die betreffen den Bereich des staatlichen Informationshandeln. Denn hier besteht oftmals das Problem, dass es keine explizite Ermächtigungsgrundlage gibt. Da Informationshandlungen aber in der Regel nicht ganz so eingriffsintensiv sind, genügt es nach der Rechtsprechung des BVerfG, dass eine entsprechende Aufgabenzuweisung besteht (Bundesregierung = Art. 65 GG; Bürgermeister = Art. 28 Abs. 2 S. 1 GG; Bundespräsident = Repräsentationsfunktion). Bei der Regierung und dem Bürgermeister darf die Äußerung aber nur innerhalb der jeweiligen Kompetenz erfolgen. Zudem gilt hier die Neutralitätspflicht und das Sachlichkeitsgebot. Der Bundespräsident ist dagegen nicht auf bestimmte Themen begrenzt, allerdings gehindert willkürlich Partei zu ergreifen. Denn dadurch würde er seine Integrationspflicht vernachlässigen. Schau Dir hierzu gerne auch die folgenden Fälle an: https://applink.jurafuchs.de/KPHQEGei4lb (Osho - Bundesregierung ) https://applink.jurafuchs.de/vD3Y2W0i4lb (Lichter aus - Dügida - Oberbürgermeister) Bzw. Spitzlei, Die politische Äußerungsbefugnis staatlicher Organe, JuS 2018, 856 Beste Grüße Lukas - für das Jurafuchs-Team

DIAA

Diaa

12.10.2023, 13:56:56

Was ist eine faktisch-mittelbare Grundrechtsbeeinträchtigung?

Querky

Querky

25.10.2023, 12:16:40

Hey Diaa, unter einer faktisch-mittelbaren Grundrechtsbeeinträchtigung versteht man die Fälle, in welchen die öffentliche Gewalt eine bestimmte Maßnahme (bspw. Informationstätigkeiten) gegen einen Adressaten richtet, die schlussendliche Beeinträchtigung tritt schließlich aber nicht bei diesem Adressaten, sondern einem Dritten ein (bspw. bei der politischen Gruppierung vor welcher die Öffentlichkeit gewarnt wurde). Hier war dann die Öffentlichkeit der eigentliche Adressat der Maßnahme, die Beeinträchtigung trat hingegen bei der politischen Gruppierung ein. LG.


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