Meinungsfreiheit 3 - Böhmermann

22. November 2024

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+++ Sachverhalt (reduziert auf das Wesentliche)

Jurafuchs

Der türkische Präsident E reagiert auf das Spottlied des Satiremagazins „extra 3“ sehr empfindlich. Um die Grenzen der Meinungs- und Kunstfreiheit gegenüber dem von dem zulässigen Spottlied betroffenen E zu erläutern, trägt der Fernsehmoderator B ein Schmähgedicht vor, welches nach dessen ausdrücklicher Erklärung die Grenzen der Meinungsfreiheit überschreite und in dem mit Bezug auf E auch pädophile sowie sodomitische Aktivitäten geäußert wurden.

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Einordnung des Falls

Meinungsfreiheit 3 - Böhmermann

Die Jurafuchs-Methode schichtet ab: Das sind die 3 wichtigsten Rechtsfragen, die es zu diesem Fall zu verstehen gilt

1. Für § 185 StGB muss das Werturteil ehrverletzend sein.

Ja!

Eine Beleidigung setzt voraus, dass die Äußerung ehrverletzenden Inhalt hat. Verletzt wird die Ehre durch die Äußerung dann, wenn diese die eigene Nicht- oder Missachtung bzgl. eines erkennbar Betroffenen zum Ausdruck bringt. Maßgeblich ist, wie der objektive Sinngehalt der Äußerung aus der Sicht eines unbefangenen Erklärungsempfängers zu verstehen ist. Ob eine Verletzung der Ehre vorliegt, ist unter Gesamtbetrachtung aller Umstände des Einzelfalls zu werten (Wortlaut, Kontext, Verhältnis zwischen Täter und Opfer usw.).
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2. Bei der Würdigung der Äußerung des B als ehrverletzend ist dessen Meinungsfreiheit zu beachten.

Genau, so ist das!

Bei der Auslegung des Werturteils ist die Meinungsfreiheit (Art. 5 Abs. 1 GG) zu beachten. Auf der ersten Ebene ist zu prüfen, ob es sich um eine solche herabsetzenden Äußerungen handelt, bei denen nicht die Sache, sondern die Diffamierung der Person im Vordergrund steht (Schmähkritik). In diesem Fall tritt die Meinungsfreiheit regelmäßig hinter den Ehrschutz zurück. Auf der zweiten Ebene ist eine konkrete Abwägung zwischen Meinungsfreiheit (Art. 5 Abs. 1 GG) und Ehrschutz (Art. 2 Abs. 1 i.V.m. Art. 1 Abs. 1 GG) vorzunehmen. Zu berücksichtigen sind dabei insbesondere, (1) ob die Meinung im Rahmen einer privaten Auseinandersetzung zur Verfolgung von Eigeninteressen oder im Zusammenhang mit einer die Öffentlichkeit wesentlich berührenden Frage Gebrauch gemacht wird sowie (2) Anlass und Kontext der Äußerung.

3. Die Äußerung des B ist ein ehrverletzendes Werturteil (§ 185 StGB).

Nein, das trifft nicht zu!

Nach wohl überwiegender Ansicht stellt das Gedicht keine Beleidigung (§ 185 StGB) dar. Denn der Aussagekern des Gedichts bezieht sich auf die Überempfindlichkeit, das teilweise fragwürdige Demokratieverständnis und politische Reaktionen des E im Umgang mit vorausgegangenen Berichten über ihn und ist daher in seiner Gesamtbewertung noch zulässige Satire. Da deren Grenzen aufzeigt werden sollten, war es notwendig, an diese Grenzen zu gehen. Der überzeichnete Vortrag sollte gerade verdeutlichen, dass die Grenzen berechtigter Empfindsamkeit nicht dort liegen, wo sie E vermutet. So sollte darauf hingewiesen werden, dass E bei der Auseinandersetzung mit Kritikern jedes Maß verloren hat. Im Übrigen unterfällt das Gedicht auch dem formalen, dem materiellen und dem offenen Kunstbegriff. Das Vorverhalten des E ist zu berücksichtigen, das zu einer extremen Reaktion Anlass gegeben hat. Die Staatsanwaltschaft Mainz hat das Ermittlungsverfahren gegen Jan Böhmermann wegen des Vorwurfs der Beleidigung mangels hinreichendem Tatverdacht eingestellt (§ 170 Abs. 2 StPO), da jedenfalls kein Vorsatz vorgelegen habe. Das LG Hamburg untersagte ihm indes die Wiederholung des Gedichts (LG Hamburg, 10. 2. 2017 - 324 O 402/16). Nachdem dies durch das OLG bestätigt wurde und der BGH die Nichtzulassungsklage zurückgewiesen hat, hat Böhmermann Verfassungsbeschwerde erhoben. Das BVerfG hat diese jedoch nicht zur Entscheidung angenommen.
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Fragen und Anmerkungen aus der Jurafuchs-Community

Isabell

Isabell

31.5.2021, 12:51:54

Hat sich da in der Rechtsprechung mittlerweile was Neues ergeben? Eure Antwort passt meiner Meinung nach nicht so richtig zu dem bisher letzten Urteil aus Hamburg. Demnach wurden weite Teile des Gedichts tatsächlich verboten. Zumindest die Fundstelle zu diesem Urteil sollte hier der Vollständigkeit halber mit aufgelistet werden 😊

Tigerwitsch

Tigerwitsch

31.5.2021, 13:25:31

ME muss man zwischen dem strafrechtlichen Ermittlungsverfahren und dem Zivilverfahren differenzieren. In strafrechtlicher Hinsicht wurden die Ermittlungen eingestellt; eine Anklage wurde nicht erhoben. Im Hinblick auf das Zivilrecht hast Du recht: Dort ging es darum, ob Böhmermann das Gedicht weiter vortragen dürfe oder nicht. Zunächst wurde ihm im Rahmen einer einstweiligen Verfügung untersagt, bestimmte Textzeilen des Gedichts öffentlich vorzutragen (LG Hamburg, B. v. 17.05.2016 - AZ.: 324 O 255/16; https://openjur.de/u/887161.html). In der

Hauptsacheentscheidung

wurde das das Verbot, bestimmte Textteile vorzutragen, bestätigt (LG Hamburg, U. v. 10.02.2017 - AZ.: 324 O 402/16; http://www.landesrecht-hamburg.de/jportal/portal/page/bsharprod.psml?showdoccase=1&doc.id=JURE170025881&st=ent). Daraufhin hat Böhmermann Berufung eingelegt: Das OLG Hamburg (U. v. 15.05.2018 - AZ.: 7 U 34/17; http://www.landesrecht-hamburg.de/jportal/portal/page/bsharprod.psml?showdoccase=1&doc.id=KORE213212018&st=ent) als Berufungsinstanz hat sich dem LG im Wesentlichen angeschlossen. Demnach könne sich Böhmermann zwar grundsätzlich auf die Kunstfreiheit berufen - die beanstandeten Textzeilen seien jedoch nicht vom

Kunstbegriff

umfasst. Eine Revision ließ das OLG nicht zu; der BGH hat außerdem eine Nichtzulassungsbeschwerde zurückgewiesen (BGH, B. v. 30.07.2019 - AZ.: VI ZR 231/18). Daraufhin hat Böhmermann Verfassungsbeschwerde erhoben. Darüber ist jedoch aktuell noch nicht entschieden.

Isabell

Isabell

31.5.2021, 13:29:22

Oh stimmt. Das Hamburger Verfahren war zivilrechtlich. Danke dir für die Skizze zum Verfahrensgang. Auf die Entscheidung aus Karlsruhe bin ich wirklich richtig gespannt.

Lukas_Mengestu

Lukas_Mengestu

1.6.2021, 09:04:59

Danke euch beiden! Wir haben nun Tigerwitsch's Ausführungen verkürzt am Ende des Falles als Vertiefungshinweis mit aufgenommen! Beste Grüße, Lukas

DAN

Daniel

10.3.2022, 13:24:35

Inzwischen hat das BVerfG die Verfassungsbeschwerde gegen die Untersagung übrigens verworfen.

NF

NF

4.7.2023, 21:57:02

Bitte um Aktualisierung

CR7

CR7

10.6.2024, 09:05:19

https://www.lto.de/recht/nachrichten/n/bverfg-erdogan-boehmermann-fall-schmaehgedicht-nicht-zur-entscheidung-angenommen/

Linne_Karlotta_

Linne_Karlotta_

26.8.2024, 16:29:55

Hallo in die Runde, ich habe den Vertiefungshinweis jetzt entsprechend aktualisiert. Viele Grüße - Linne, für das Jurafuchs-Team


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