Rechtswahl bei unerlaubte Handlungen

leichtmittelschwer

+++ Sachverhalt (reduziert auf das Wesentliche)

Jurafuchs

A und B aus Bremen machen 2023 nach ihrem Abi ein Gap Year in Australien. Noch in der ersten Woche missachtet A das Linksfahrgebot und baut mit ihrem Mietwagen einen Unfall. Beifahrerin B wird verletzt. B verklagt A in Deutschland auf Schmerzensgeld. Welches Recht ist anzuwenden? ‌

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Einordnung des Falls

Rechtswahl bei unerlaubte Handlungen

Die Jurafuchs-Methode schichtet ab: Das sind die 4 wichtigsten Rechtsfragen, die es zu diesem Fall zu verstehen gilt

1. Ist die Rom II-VO anwendbar?

Ja!

Der sachliche Anwendungsbereich der VO erfasst gesetzliche Schuldverhältnisse auf dem Gebiet des Zivil- und Handelsrechts (Art. 1 Abs. 1 Rom II-VO). Das Schuldverhältnis-begründende Ereignis muss nach dem 11.01.2009 geschehen sein (Art. 32 Rom II-VO). Die VO gilt in allen EU-Mitgliedsstaaten außer Dänemarks für Sachverhalte mit internationalem Bezug. Es liegt eine unerlaubte Handlung (Körperverletzung) auf dem Gebiet des Zivilrechts vor (sachlicher Anwendungsbereich). Die Klage ist vor einem deutschen Gericht anhängig. Der Unfall trug sich in Australien zu, wobei deutsche Staatsangehörige beteiligt sind. Es liegt also ein Sachverhalt mit internationalem Bezug vor (räumlich-persönliche Anwendungsbereich). Auch der zeitliche Anwendungsbereich ist eröffnet, da das schädigende Ereignis 2023 stattfand.
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2. Ist eine der speziellen Kollisionsnorm für die unerlaubte Handlung einschlägig (Art. 5 – 9 Rom II-VO)?

Nein, das ist nicht der Fall!

Bei der unerlaubten Handlung gibt es für bestimmte Delikte spezielle Kollisionsnormen. Diese sind vorrangig vor der allgemeinen Kollisionsnorm für unerlaubte Handlungen (Art. 4 Rom II-VO) zu prüfen. Keine der gesondert geregelten Delikte ist einschlägig. Daher ist an die allgemeine Kollisionsnorm (Art. 4 Rom II-VO) anzuknüpfen. Auch bei außervertraglichen Schuldverhältnissen ist auch an eine subjektive Anknüpfung zu denken, also eine Rechtswahl der Parteien (Art. 14 Rom II-VO). Eine solche liegt hier aber offensichtlich nicht vor, sodass diese nicht gesondert geprüft wurde.

3. Vorrangig ist nach Art. 4 Rom II-VO an den Erfolgsort (Abs. 1) anzuknüpfen, hier also Australien.

Nein, das trifft nicht zu!

Art. 4 Rom II-VO sieht drei verschiedene Anknüpfungen vor. Grundsätzlich ist auf den Erfolgsort abzustellen (Abs. 1). Diese Grundregeln wird verdrängt, wenn (1) die Parteien ihren gewöhnlichen Aufenthalt in demselben Land haben (Abs. 2) oder, wenn (2) die unerlaubte Handlung eine offensichtlich engere Verbindung zu einem anderen Staat aufweist (Abs. 3, sog. Ausweichklausel). Da A und B beide in Deutschland ihren gemeinsamen gewöhnlichen Aufenthalt haben, findet Art. 4 Abs. 2 Rom II-VO Anwendung, das auf deutsches Recht verweist. Eine Begründung für die Anknüpfung an den Erfolgsort (Abs. 1) findet sich in Erwägungsgrund 16 Rom II-VO.

4. Die Rom II-VO sieht eine Gesamtverweisung vor, sodass nun das anzuwendende Recht nach dem deutschen EGBGB zu bestimmen ist.

Nein!

Wie die Rom I-VO sieht auch die Rom II-VO eine Sachnormverweisung vor (Art. 24 Rom II-VO). Es ist also direkt das Sachrecht des Staates anzuwenden, auf dessen Recht verwiesen wurde. Es erfolgt keine erneute Prüfung des anzuwendenden Rechts anhand der nationalen IPR-Regelungen. Da wir uns hier auf dem Gebiet des Zivilrechts befinden, ist das BGB direkt anzuwenden. Konkret kommt hier ein Anspruch aus § 7 Abs. 1 StVG sowie § 823 Abs. 1 BGB in Betracht.
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Fragen und Anmerkungen aus der Jurafuchs-Community

Dogu

Dogu

9.5.2024, 13:03:14

Wenn ich aber ein Jahr lang in Australien verbringe, so ist mein gewöhnlicher Aufenthalt zum Zeitpunkt des Schadenseintritts doch in Australien? Die Bestimmung des gew. Aufenthaltsorts wird in der Lösung etwas übersprungen.

Paulah

Paulah

16.5.2024, 20:41:40

Nein, der gewöhnliche Aufenthalt ist nicht unbedingt in Australien. Der Begriff ist auszulegen. Es kommt darauf an, wo der Lebensmittelpunkt ist. Z. B. bei Austauschstudenten oder den ganzen "Travel and Work"-Leuten ist es nicht beabsichtigt, den dauerhaften Aufenthalt in Australien zu nehmen. Die Freunde und die Familie sind noch in Deutschland, es ist beabsichtigt, nach dem Australienaufenthalt in Deutschland zu studieren oder zu arbeiten. Das sind alles Indizien für einen schlichten Aufenthalt und keinen dauerhaften. Die übliche sechs Monate k ö n n e n ein Indiz für einen gewöhnlichen Aufenthalt sein, sind aber nicht allein ausschlaggebend.

Dogu

Dogu

15.8.2024, 18:16:27

Das überzeugt mich nicht. Wenn das zeitliche Moment von zukünftigen Absichten verdrängt werden könnte, würde das letztendlich bedeuten, dass ein Arbeitnehmer, der für fünf Jahre befristet in einem anderen Land arbeitet, immer noch seinen gewöhnlichen Aufenthalt in Deutschland hat, solange er nur plant, nach DE zurückzukehren. Wir reden hier nicht von sechs Monaten, sondern von eine ganzen Jahr. Irgendwo muss man ja die Grenze ziehen und die wäre hier erreicht.

Paulah

Paulah

15.8.2024, 21:19:17

Prof. Lorenz hat in seinen Vorlesungen so einen Fall anhand einer in der Vorlesung anwesenden Erasmusstudentin, die für ein Jahr nach Deutschland gekommen ist, genau so begründet wie ich oben. Es geht in dem Fall nicht nur um "irgendwann will ich wieder zurück nach Deutschland", sondern auch darum, dass Bindungen weiter aufrecht erhalten werden. Der Sachverhalt ist hier vielleicht zu dünn, die Bezeichnung des Aufenthalts als Gap Year deutet meiner Meinung nach auf den gewöhnlichen Aufenthalt in Deutschland hin. Ich denke aber, dass eine andere Lösung mit entsprechender Begründung auch vertretbar ist.


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