„Kücükdeveci“

19. Mai 2025

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+++ Sachverhalt (reduziert auf das Wesentliche)

Jurafuchs

K wird entlassen. Für die Berechnung der Kündigungsfrist wird ihre Beschäftigungszeit vor dem 25. Lebensjahr entsprechend nach § 622 Abs. 2 BGB a.F. unbeachtet gelassen. Der EuGH hat im Wege der Vorabentscheidung über die Vereinbarkeit von § 622 BGB a.F. mit Unionsrecht zu entscheiden.

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Einordnung des Falls

„Kücükdeveci“

Die Jurafuchs-Methode schichtet ab: Das sind die 6 wichtigsten Rechtsfragen, die es zu diesem Fall zu verstehen gilt

1. Die Regelung in § 622 Abs. 2 BGB a.F. stellte einen Verstoß gegen Art. 2 Abs. 1 der europäischen Richtlinie gegen Altersdiskriminierung dar (RL 2000/78/EG), welcher nicht gerechtfertigt werden kann.

Ja, in der Tat!

Nach Art. 2 Abs. 1 der Richtlinie sind Diskriminierungen aufgrund des Alters grundsätzlich unzulässig. Ungleichbehandlungen stellen aber dann keine Diskriminierung dar, wenn sie ein legitimes Ziel verfolgen, objektiv erforderlich und angemessen sind. Eine Rechtfertigung von Ungleichbehandlungen ist mithin möglich. Den Mitgliedstaaten steht insoweit ein weiter Ermessensspielraum zu. Eine Rechtfertigung vor dem Hintergrund höherer persönlicher und beruflicher Mobilität jüngerer Arbeitnehmer kommt nicht in Betracht. § 622 Abs. 2 S. 2 BGB a.F. stellt ein Verstoß gegen die Richtlinie gegen Altersdiskriminierung dar.
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2. Die Richtlinie entfaltet auch in einem Rechtsstreit zwischen Privaten unmittelbare Wirkung. Das entgegenstehende nationale Recht muss daher wegen Verstoßes gegen die Richtlinie unangewendet bleiben.

Nein!

Nach der Rechtsprechung des EuGH kann eine Richtlinie keine Verpflichtungen für Einzelne begründen. Eine Berufung auf die Richtlinie als solche gegenüber einem Privaten ist daher grundsätzlich nicht möglich. Die unmittelbare Wirkung der Richtlinien zwischen Privaten, also im Horizontalverhältnis, ist nicht zulässig.

3. Das zuständige nationale Gericht ist jedoch verpflichtet, nationales Recht richtlinienkonform auszulegen.

Genau, so ist das!

Nach dem Gebot der richtlinienkonformen Auslegung sind die Mitgliedstaaten verpflichtet ihr nationales Recht im Einklang mit den bestehenden EU-Richtlinien auszulegen. Aus Art. 288 Abs. 3 AEUV ergibt sich, dass Richtlinien für die Mitgliedstaaten in ihrer Gesamtheit hinsichtlich des zu erreichenden Ziels verbindlich sind. Im Rahmen ihrer Zuständigkeit sind daher auch Gerichte als Judikative dazu verpflichtet, Maßnahmen zu treffen, um diese Verpflichtung zu erfüllen. Der EuGH stützt das Gebot der richtlinienkonformen Auslegung neben Art. 288 Abs. 3 AEUV auch auf die Loyalitätspflichten der Mitgliedstaaten aus Art. 4 Abs. 3 EUV.

4. Die nationale Vorschrift ist der richtlinienkonformen Auslegung nur zugänglich, wenn die Klarheit und Bestimmtheit des Wortlauts dem nicht entgegensteht.

Ja, in der Tat!

Das nationale Gericht ist verpflichtet, das nationale Recht im Rahmen des Möglichen richtlinienkonform auszulegen. Die Gerichte müssen daher auch die Möglichkeiten einer richtlinienkonformen Rechtsfortbildung ausnutzen. Allerdings wird die Kompetenzverteilung zwischen Judikative und Legislative anerkannt, sodass die Gerichte nicht verpflichtet sind, contra legem auszulegen. § 622 Abs. 2 S. 2 a.F. ist wegen seines klaren und eindeutigen Wortlauts einer richtlinienkonformen Auslegung nicht zugänglich.

5. Die nationale Vorschrift verstößt jedoch auch gegen das Verbot der Altersdiskriminierung als allgemeinem Grundsatz des Unionsrechts. Das nationale Recht muss daher auch im Verhältnis zwischen Privaten unangewendet bleiben.

Ja!

Entgegenstehendes nationaleS Recht muss auch dann unangewendet bleiben, wenn ein Verstoß gegen einen primärrechtlichen Rechtssatz vorliegt, der mit den Zielen der Richtlinie gleichlaufend ist. Dies gilt auch für Rechtsstreitigkeiten zwischen Privaten. Zum Zeitpunkt der Entscheidung war das Verbot der Altersdiskriminierung als allgemeiner Grundsatz bereits als Grundrecht in Art. 6 EUV, Art. 21 GRCh umgesetzt. Die Unanwendbarkeit der Norm folgt daher eigentlich aus dem Verstoß gegen Unionsgrundrechte als Primärrecht und der objektiven Wirkung der Unionsgrundrechte.

6. Das Gericht muss den EuGH gemäß Art. 267 AEUV anrufen, um die Unvereinbarkeit einer Vorschrift mit Unionsrecht klären zu lassen, bevor es die Vorschrift unangewendet lassen kann.

Nein, das ist nicht der Fall!

Nach dem Grundsatz des Vorrangs des Unionsrechts ist eine unionsrechtswidrige nationale Regelung, die in den Anwendungsbereich des Unionsrechts fällt, unangewendet zu lassen. Eine Verpflichtung zur Vorlage ergibt sich aus Sicht des EuGH jedoch nicht daraus, dass Gerichte nach nationalem Recht Regelungen erst dann unangewendet lassen dürfen, wenn sie vom Bundesverfassungsgericht für verfassungswidrig erklärt worden sind. Das nationale Gericht ist zwar nicht verpflichtet, aber auch nicht gehindert, den EuGH um Vorabentscheidung zu ersuchen, bevor es eine Vorschrift unangewendet lässt.
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