„Berliner Raserfall“

9. Mai 2023

23 Kommentare

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leichtmittelschwer

+++ Sachverhalt (reduziert auf das Wesentliche)

Jurafuchs Illustration zum Berliner Raserfall (BGH, 18.06.2020 - 4 StR 482/19): Zwei Fahrer liefern sich auf öffentlichen Straßen nachts ein Autorennen.

H und N liefern sich auf öffentlichen Straßen nachts ein Autorennen. Beide überschreiten die zulässige Geschwindigkeit. H fährt ca. 140 km/h schnell, als er bewusst eine rote Ampel überfährt. H hält es für möglich, mit einem Dritten zu kollidieren und diesen dabei zu töten. Er kollidiert mit dem Auto des von rechts über die grüne Ampel fahrenden W. W stirbt.

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Einordnung des Falls

Dreh- und Angelpunkt des Berliner-Raserfalls ist ein absoluter Klausurklassiker: Die Abgrenzung zwischen bewusster Fahrlässigkeit und bedingtem Vorsatz. Bei einem illegalen Wettrennen auf dem Berliner Ku'damm stieß einer der beteiligten Autofahrer mit einem querenden Fahrzeug zusammen, dessen Insasse verstarb. Hatte der Rennfahrer den Tod von unbeteiligten billigend in Kauf genommen (=bedingter Vorsatz) und verwirklichte den Tatbestand des Mordes oder vertraute er darauf, dass alles gut gehen würde (=bewusste Fahrlässigkeit), sodass hier fahrlässige Tötung anzunehmen wäre? Der Unterschied der Rechtsfolgen (Lebenslängliche Freiheitsstrafe vs. maximal drei Jahre Freiheitsstrafe) ist enorm, insofern verwundert es nicht, dass der Fall gleich zweimal beim BGH landete und letztlich auch Anlass für die Einführung einer neuen Strafvorschrift war: § 315d StGB.

Die Jurafuchs-Methode schichtet ab: Das sind die 7 wichtigsten Rechtsfragen, die es zu diesem Fall zu verstehen gilt

1. Ist Mörder, wer einen anderen Menschen tötet und dabei mindestens eines von neun "Mordmerkmalen" erfüllt (§ 211 Abs. 2 StGB)?

Ja, in der Tat!

Mörder ist, wer aus Mordlust, zur Befriedigung des Geschlechtstriebs, aus Habgier oder sonst aus niedrigen Beweggründen, heimtückisch oder grausam oder mit gemeingefährlichen Mitteln oder um eine andere Straftat zu ermöglichen oder zu verdecken, einen Menschen tötet (§ 211 Abs. 2 StGB).
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2. Erfordert der subjektive Tatbestand des Mordes mindestens bewusste Fahrlässigkeit?

Nein!

Der Tatbestand des Mordes erfordert – ebenso wie der des Totschlags (§ 212 Abs. 1 StGB) – mindestens bedingten Vorsatz (dolus eventualis). Bewusste Fahrlässigkeit reicht nicht aus. Fahrlässige Tötung wird deutlich milder bestraft (§ 222 StGB). Bedingter Vorsatz ist nach der Möglichkeitstheorie gegeben, wenn der Täter die konkrete Möglichkeit des Erfolgseintritts erkennt (Wissenselement) und dennoch handelt (Willenselement). Merke: Bei bewusster Fahrlässigkeit denkt der Täter: „Wird schon gut gehen!“, bei bedingtem Vorsatz: „Und, wenn schon!“.

3. Schließt dies automatisch den Vorsatz aus, wenn der Täter denkt, dass er auch sich selbst bei der Tat verletzen kann?

Nein, das ist nicht der Fall!

BGH: Eine vom Täter erkannte Eigengefährdung kann dafür sprechen, dass er auf einen guten Ausgang vertraut. Der Vorsatz wird dadurch aber nicht automatisch ausgeschlossen. Erforderlich ist stets eine einzelfallbezogene Prüfung der konkreten Tatsituation. Bei einer Tat im Verkehr sind wesentliche Indizien das vom Täter genutzte Verkehrsmittel und das konkrete Unfallszenario (Rdnr. 32).

4. Handelte H vorsätzlich hinsichtlich des Todes von W?

Ja, in der Tat!

BGH: Bei der Prüfung, ob bedingter Vorsatz vorliegt, ist neben der Vorstellung des Täters auch die objektive Gefährlichkeit der Handlung und der Grad der Wahrscheinlichkeit des Erfolgseintritts zu berücksichtigen. Gemessen daran, handelte H vorsätzlich. Er hatte das Wissenselement, weil er bewusst riskant fuhr. Das Willenselement ergab sich daraus, dass er ein unkalkulierbares Risiko einging, stark beschleunigte und daraus, dass das Unfallszenario naheliegend war (Rdnr. 26 ff.).

5. Handelte H heimtückisch (§ 211 Abs. 2 StGB)?

Ja!

Heimtückisch handelt, wer die auf Arglosigkeit beruhende Wehrlosigkeit des Opfers in feindseliger Willensrichtung bewusst ausnutzt. BGH: Für Heimtücke genügt es, dass der Täter sich bewusst ist, einen durch seine Ahnungslosigkeit schutzlosen Menschen zu überraschen. W rechnete nicht mit einem über rot fahrenden Auto, als er über die grüne Ampel fuhr. Er musste wegen der grünen Ampel auch nicht besonders vorsichtig sein. H wusste das und nutzte die Situation dennoch aus, um das Rennen zu gewinnen. Für das Ausnutzungsbewusstsein ist weder erforderlich, dass der Täter das Opfer sinnlich wahrnimmt noch, dass er die Arg- und Wehrlosigkeit instrumentalisiert (Rdnr. 53, 54).

6. Tötete H mit gemeingefährlichen Mitteln (§ 211 Abs. 2 StGB)?

Nein, das ist nicht der Fall!

Mit gemeingefährlichen Mitteln tötet, wer ein Medium einsetzt, das in der konkreten Tatsituation abstrakt geeignet ist, eine unbestimmte Mehrzahl von Menschen an Leib und Leben zu gefährden, weil er die Ausdehnung der Gefahr nicht in seiner Gewalt hat. BGH: Das LG hatte nicht ausreichend belegt, dass H bewusst gewesen sei, dass die von ihm geschaffene Gefahr nicht auf die Insassen eines von rechts kommenden Fahrzeugs (hier: das Fahrzeug des W) beschränkt sei. Weiterreichende Unfallfolgen lagen hier zwar nahe. Das Bewusstsein des H darüber hätte aber nachgewiesen werden müssen (Rdnr. 49-51).

7. Tötete H aus niedrigen Beweggründen (§ 211 Abs. 2 StGB).

Ja, in der Tat!

Niedrige Beweggründe liegen vor, wenn die Motive einer Tötung nach allgemeiner sittlicher Anschauung verachtenswert sind und auf tiefster Stufe stehen. Die Beurteilung erfolgt anhand rechtlicher, nicht moralischer Maßstäbe. Es sind die Gesamtumstände der Tat zu berücksichtigen. BGH: Die Billigung der Tötung eines Zufallopfers steht in einem krassen Missverhältnis zu ihrem Anlass: der vom unbedingten Willen zum Sieg getragenen Durchführung eines illegalen Straßenrennens. Um das Ziel zu erreichen, setzte sich H in selbstsüchtiger und rücksichtsloser Weise über das Lebensrecht anderer Verkehrsteilnehmer hinweg. Dieses Verhalten ist nicht einmal ansatzweise menschlich verständlich, hochverwerflich und rechtfertigt die Stigmatisierung als Mord (Rdnr. 56-58).
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