Strafrecht

Examensrelevante Rechtsprechung SR

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Straffreier Schwangerschaftsabbruch oder doch schon Totschlag?

Straffreier Schwangerschaftsabbruch oder doch schon Totschlag?

9. Mai 2023

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leichtmittelschwer

+++ Sachverhalt (reduziert auf das Wesentliche)

Jurafuchs Illustration: Ein Arzt entnimmt dem Uterus einer Frau ein Kind, ein anderes Kind ist noch im Bauch der Frau. Es bekommt eine tödliche Spritze.

S erwartet Zwillinge. Zwilling 1 hat einen Hirnschaden. S und Arzt A planen, Zwilling 2 per Kaiserschnitt zu entbinden und Z1 dann zu töten. Diesen Plan setzen sie in der 32. Schwangerschaftswoche um. A holt zuerst Z2 aus dem Mutterleib und spritzt Z1 dann eine tödliche Kaliumchloridlösung.

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Einordnung des Falls

Ab wann ist ein Fötus ein Mensch? Diese ethisch teils hoch umstrittene Frage ist strafrechtlich eigentlich relativ eindeutig: mit Beginn des Geburtsaktes, also in der Regel sobald die Eröffnungswehen einsetzen. Dies hat der BGH nun auch für die Entbindung mittels Kaiserschnitts bestätigt. Dort beginne die Geburt mit der Eröffnung der Gebärmutter, wenn das Kind vom Mutterleib getrennt werden soll. Dies gelte unabhängig davon, wie viele Kinder geboren werden. Das hatte im vorliegenden Fall zur Folge, dass es sich statt eines straffreien Schwangerschaftsabbruchs bereits um einen Totschlag der behandelnden Ärzte handelte.

Die Jurafuchs-Methode schichtet ab: Das sind die 5 wichtigsten Rechtsfragen, die es zu diesem Fall zu verstehen gilt

1. Hat A den Tatbestand des Schwangerschaftsabbruchs erfüllt, wenn er eine Schwangerschaft nach Abschluss der Einnistung des befruchteten Eis abgebrochen hat (§ 218 Abs. 1 StGB)?

Genau, so ist das!

Nach § 218 Abs. 1 StGB wird bestraft, wer eine Schwangerschaft abbricht. Handlungen, deren Wirkung vor Abschluss der Einnistung des befruchteten Eis in der Gebärmutter eintritt, gelten nicht als Schwangerschaftsabbruch (§ 218 Abs. 1 S. 2 StGB). Dieser Zeitpunkt tritt in der Regel zwei bis vier Wochen nach der Empfängnis ein. § 218a StGB lässt darüber hinaus die Strafbarkeit entfallen, wenn ein Arzt die Schwangerschaft vor der dreizehnten Woche abbricht, nachdem die Schwangere sich in einer Beratungsstelle hat beraten lassen.
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2. Hat A sich wegen Schwangerschaftsabbruchs strafbar gemacht (§ 218 Abs. 1 StGB)?

Nein, das trifft nicht zu!

A hat Z1 nach Abschluss der Einnistung des befruchteten Eis und nach der zwölften Schwangerschaftswoche mit der Kaliumchloridlösung getötet. Die Schwangerschaft konnte aber nicht mehr abgebrochen werden, denn sie war schon beendet. BGH: Der getötete Zwilling war im Zeitpunkt der tödlichen Einwirkung bereits ein Mensch im Sinne der §§ 211 ff. StGB und nicht mehr eine lediglich von § 218 StGB geschützte Leibesfrucht (Rdnr. 13).

3. Hat A den Tatbestand des Totschlags (§ 212 Abs. 1 StGB) verwirklicht, wenn er vorsätzlich einen anderen Menschen getötet hat?

Ja!

Wer einen anderen Menschen tötet, ohne Mörder zu sein, wird mit Freiheitsstrafe nicht unter fünf Jahren bestraft (§ 212 Abs. 1 StGB). Der Tatbestand des Totschlags bezeichnet den „Normalfall“ einer vorsätzlichen Tötung. Das Verhältnis von Mord (§ 211 StGB) und Totschlag (§ 212 Abs. 1 StGB) ist umstritten. Der BGH geht davon aus, dass Mord und Totschlag zwei eigenständige Tatbestände darstellen. Die herrschende Lehre sieht im Mord eine unselbstständige Qualifikation des Totschlags.

4. Ist ein Fötus im Mutterleib vor Eintritt der Eröffnungswehen ein „Mensch“ (§ 212 Abs. 1 StGB)?

Nein, das ist nicht der Fall!

Tatopfer des Totschlags ist der Mensch als geborenes Leben. Der Gesetzgeber sieht den Beginn des menschlichen Lebens im Beginn der Geburt (Beginn der Eröffnungswehen). Daher erfasst der Tatbestand des Totschlags pränatale Einwirkungen auf den Fötus grundsätzlich nicht.

5. Hat A sich wegen Totschlags strafbar gemacht, indem er Z1 die Kaliumchloridlösung spritzte (§ 212 Abs. 1 StGB)?

Ja, in der Tat!

BGH: Bei einem vor Beginn der Eröffnungswehen vorgenommenen Kaiserschnitt könne für den Beginn des menschlichen Lebens nicht auf die Eröffnungswehen abgestellt werden. Das menschliche Leben beginne in diesem Fall mit der Eröffnung des Uterus zum Zweck der Beendigung der Schwangerschaft durch Entnahme des Kindes aus dem Mutterleib. Gerade in der mit Risiken für Gesundheit und Leben verbundenen Geburtsphase bedürfe das Kind besonderen Schutzes. Das gelte auch bei Mehrlingsgeburten. Z1 war im Zeitpunkt der tödlichen Einwirkung bereits ein Mensch im Sinne der §§ 211 ff. StGB (Rdnr. 13, 18, 21).
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Fragen und Anmerkungen aus der Jurafuchs-Community

🦊²

🦊²

25.1.2022, 13:30:36

Das Umfragetool ist super.

Lukas_Mengestu

Lukas_Mengestu

26.1.2022, 09:23:06

Vielen Dank Fuchshochzwei, das freut uns sehr :-)

DEPA

Der Paragraf

30.5.2022, 09:41:55

Interessant wäre noch, ob die offensichtliche Einwilligung der S in den Schwangerschaftsabbruch wirksam gewesen wäre.

DEPA

Der Paragraf

30.5.2022, 09:51:26

Achso, das ist wohl mit dem Hinweis abgedeckt, der Abbruch sei nach der 12. Schwangerschaftswoche erfolgt (vgl. § 218a StGB). Zu einem späteren Zeitpunkt steht das Leben des ungeborenen Kindes wohl nicht mehr zur Disposition der Schwangeren.


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