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Entscheidungen von 2021

Corona-bedingte Ausgangs- und Kontaktbeschränkungen ("Bundesnotbremse I")

Corona-bedingte Ausgangs- und Kontaktbeschränkungen ("Bundesnotbremse I")

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+++ Sachverhalt (reduziert auf das Wesentliche)

Jurafuchs

Das IfSG in der Fassung von April 2021 sah als Maßnahme zur Bekämpfung der Corona-Pandemie Ausgangs- und Kontaktbeschränkungen vor, sofern ein bestimmter Inzidenzwert an Coronainfektionen überschritten ist.

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Einordnung des Falls

Corona-bedingte Ausgangs- und Kontaktbeschränkungen ("Bundesnotbremse I")

Die Jurafuchs-Methode schichtet ab: Das sind die 20 wichtigsten Rechtsfragen, die es zu diesem Fall zu verstehen gilt

1. Die Beschwerdeführer sehen sich hierdurch in ihren Grundrechten verletzt und erheben Verfassungsbeschwerde. Damit diese zulässig ist, müssen die Beschwerdeführer unter anderem beschwerdebefugt sein.

Ja!

Die Beschwerdebefugnis setzt voraus, dass der Beschwerdeführer sowohl die Möglichkeit der Grundrechtsverletzung als auch dieMöglichkeit der eigenen, unmittelbaren und gegenwärtigen Betroffenheit den Begründungsanforderungen nach §§ 23 Abs. 1 S. 2, 92 BVerfGG entsprechend darlegt. Diese Begründungs- und Darlegungsanforderungen waren hier nicht hinsichtlich aller gerügten Grundrechtsverletzungen erfüllt. Hinsichtlich der in § 28b Abs. 1 S. 1 Nr. 1 und 2 IfSG a.F. angeordneten Ausgangs- und Kontaktbeschränkungen haben die Beschwerdeführer aber die Möglichkeit einer Grundrechtsverletzung hinreichend substantiiert dargelegt (RdNr. 84ff.). Die Beschwerdeführer seien auch selbst, unmittelbar und gegenwärtig in ihren Grundrechten betroffen (RdNr. 85f.). Insbesondere betreffen die angegriffenen Bestimmungen des IfSG sie unmittelbar, weil sie keines weiteren Vollzugsakts bedürfen, sondern direkt in ihre Rechtsstellung eingreifen (selbstvollziehendes Gesetz).
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2. Zum Zeitpunkt der Entscheidung des BVerfG galten die Regelungen nicht mehr. Fehlt den Beschwerdeführern deswegen das allgemeine Rechtschutzbedürfnis?

Nein, das ist nicht der Fall!

Das Rechtsschutzbedürfnis kann ausnahmsweise nach Erledigung des mit der Verfassungsbeschwerde verfolgten Begehrens fortbestehen, wenn der gerügte Grundrechtseingriff besonders belastend erscheint, eine Wiederholung der angegriffenen Maßnahme zu besorgen ist oder die gegenstandslos gewordene Maßnahme den Beschwerdeführer noch weiterhin beeinträchtigt. Die mit dem Auftreten des Coronavirus verbundenen Gefahren bestehen weiterhin fort. Somit könnten auch in Zukunft Maßnahmen zur Eindämmung der Pandemie ergriffen werden, die sich in Regelungstechnik und -inhalt an den angegriffenen Vorschriften orientieren. Daher besteht das Rechtsschutzbedürfnis trotz des Ablaufs der Geltungsdauer der angegriffenen Vorschriften fort (RdNr. 99).

3. Die Beschwerdeführenden haben direkt Verfassungsbeschwerde erhoben, ohne vorher die Fachgerichte anzurufen. Sind ihre Verfassungsbeschwerden deswegen unzulässig?

Nein, das trifft nicht zu!

Der Grundsatz der Rechtswegerschöpfung (§ 90 Abs. 2 BVerfGG) verlangt, dass vor Anrufung des BVerfG der fachgerichtliche Rechtsweg ausgeschöpft wird, soweit ein solcher gegeben ist. Nach dem Grundsatz der Subsidiarität müssen vor Anrufung des BVerfG alle Mittel ergriffen werden, die der geltend gemachten Grundrechtsverletzung abhelfen können. Ein Rechtsweg unmittelbar gegen die angegriffenen gesetzlichen Bestimmungen existiert nicht. Zudem war hier eine vorherige Anrufung der Fachgerichte nicht geboten, weil hiervon keine Vertiefung des tatsächlichen und rechtlichen Materials zu erwarten wäre, sondern die Entscheidung allein von der Auslegung und Anwendung der verfassungsrechtlichen Maßstäbe abhängt (RdNr. 100ff.).

4. Die Verfassungsbeschwerden sind begründet, wenn die gesetzlichen Bestimmungen in die Grundrechte der Beschwerdeführenden eingreifen und dieser Eingriff nicht verfassungsrechtlich gerechtfertigt ist.

Ja!

So sollte der Obersatz in deiner Klausur lauten. Die Begründetheitsprüfung einer Verfassungsbeschwerde (Art. 93 Abs. 1 Nr. 4a GG) ist immer gleich aufgebaut: (1) Eröffnung des Schutzbereich des Grundrechts (persönlicher und sachlicher Schutzbereich), (2) Eingriff in den Schutzbereich, (3) verfassungsrechtliche Rechtfertigung des Eingriffs.

5. Die in § 28 Abs. 1 S. 1 Nr. 1 IfSG a.F. angeordneten Kontaktbeschränkungen und deren Bußgeldbewährung griffen in das Familiengrundrecht und die Ehegestaltungsfreiheit (Art. 6 Abs. 1 GG) ein.

Genau, so ist das!

Das Familien- und Ehegrundrecht (Art. 6 Abs. 1 GG) gewährleistet die Freiheit, über die Art und Weise der Gestaltung des familiären Zusammenlebens selbst zu entscheiden, und das Recht, sich mit seinen Angehörigen bzw. seinem Ehepartner in frei gewählter Weise und Häufigkeit zusammenzufinden und die familiären Beziehungen zu pflegen (RdNr. 108). Die angegriffene Regelung machte vollstreckungsfähige Vorgaben für private Zusammenkünfte sowohl im öffentlichen als auch im privaten Raum. Damit beschnitten die Kontaktbeschränkungen die Möglichkeiten, über die Ausgestaltung sowohl des familiären als auch des ehelichen Zusammenlebens selbst frei zu entscheiden. Die Regelung griff damit in Familien- und Ehegrundrecht ein (RdNr. 109). Stehen in Deiner Klausur mehrere Maßnahmen im Raum, so prüfe sie separat (hier zunächst die Kontaktbeschränkungen, später dann die Ausgangsbeschränkungen).

6. Die Beschneidung zwischenmenschlicher Kontakte durch § 28b Abs. 1 S. 1 Nr. 1 IfSG a.F. griff in mehrfacher Hinsicht zudem in das Grundrecht auf freie Entfaltung der Persönlichkeit (Art. 2 Abs. 1 GG) ein.

Ja, in der Tat!

Das Grundrecht auf freie Entfaltung der Persönlichkeit (Art. 2 Abs. 1 GG) schützt familienähnlich intensive Bindungen auch jenseits des Schutzes von Ehe und Familie. Darüber hinaus schützt das Recht in der Form der allgemeinen Handlungsfreiheit die Freiheit, sich mit beliebigen anderen Menschen zu treffen (RdNr. 111f.). In diese Rechte griffen die Kontaktbeschränkungen ein, die zwischenmenschliche Zusammenkünfte in großem Maße beschnitten (RdNr. 111f.). BVerfG: Zudem griffen die Kontaktbeschränkungen auch in das allgemeine Persönlichkeitsrecht (Art. 2 Abs. 1 i.V.m. Art. 1 Abs. 1 GG ) ein. Dieses bietet Schutz davor, dass sämtliche Zusammenkünfte mit anderen Menschen unterbunden werden und die einzelne Person zu Einsamkeit gezwungen wird. Denn anderen Menschen überhaupt begegnen zu können, ist für die Persönlichkeitsentfaltung von konstituierender Bedeutung (RdNr. 113f.). Du merkst, dass eine Vielzahl grundrechtlicher Gewährleistungen durch ein und dasselbe staatliche Maßnahmenpaket betroffen sein können. Das verdeutlicht, wie umfassend und differenziert die Grundrechte die menschliche Freiheitsausübung schützen. In Deiner Klausur bekommst Du Punkte, dieses differenzierte Grundrechtssystem wiederzugeben.

7. Eine verfassungsrechtliche Rechtfertigung der Eingriffe setzt zunächst voraus, dass § 28b Abs. 1 S. 1 Nr. 1 IfSG a.F. formell verfassungsgemäß war.

Ja!

Ein Grundrechtseingriff ist nur dann verfassungsrechtlich gerechtfertigt, wenn er sich innerhalb der verfassungsrechtlichen Schranken hält. Art. 2 Abs. 1 GG sieht als explizite Schranke die verfassungsmäßige Ordnung vor. Das Familien- und Ehegestaltungsgrundrecht (Art. 6 Abs. 1 GG) ist dagegen vorbehaltlos gewährleistet. Es unterliegt aber verfassungsimmanenten Schranken. Erforderlich ist jedenfalls, dass § 28 Abs. 1 IfSG a.F. verfassungsmäßig zustande gekommen ist. Die formelle Verfassungsmäßigkeit eines Gesetzes prüfst Du immer in drei Schritten: (1) Gesetzgebungskompetenz, (2) Gesetzgebungsverfahren, (3) Form. Dem Bund stand für die Anordnung der Kontaktbeschränkungen durch § 28b Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 IfSG a.F. die konkurrierende Gesetzgebungszuständigkeit nach Art. 74 Abs. 1 Nr. 19 GG zu, da es sich um Maßnahmen gegen übertragbare Krankheiten bei Menschen handelte. Zudem ist das Gesetz wirksam zustande gekommen und ist demnach formell verfassungsgemäß (RdNr. 117ff.).

8. § 28b Abs. 1 S. 1 Nr. 1 IfSG a.F. kann nur verfassungsrechtlich gerechtfertigt sein, wenn er nicht gegen den Grundsatz der Gewaltenteilung verstieß.

Genau, so ist das!

Der Gewaltenteilungsgrundsatz ist ein tragendes Organisations- und Funktionsprinzip des Grundgesetzes. Er bezweckt eine politische Machtverteilung sowie die gegenseitige Kontrolle und Begrenzung der drei Gewalten. Darüber hinaus soll er sicherstellen, dass staatliche Entscheidungen von den Organen getroffen werden, die über die besten Voraussetzungen für eine möglichst sachgerechte Entscheidung verfügen . Einer Gewalt dürfen nicht die zur Erfüllung ihrer verfassungsmäßigen Aufgaben erforderlichen Zuständigkeiten weggenommen werden. Der Kernbereich ihrer jeweiligen Entscheidungsbefugnisse ist unantastbar (RdNr. 140).

9. Die Ausgestaltung der Maßnahmen in § 28b Abs. 1 S. 1 IfSG a.F. bewirkten eine Gewichtsverlagerung von der Exekutive auf die Legislative. Verstießen sie damit gegen den Gewaltenteilungsgrundsatz?

Nein, das trifft nicht zu!

Punktuelle Gewichtsverlagerungen zugunsten des Parlaments sind mit dem Prinzip der Gewaltenteilung solange vereinbar, wie der Kernbereich der Exekutive nicht berührt wird. Entscheidungen aufgrund eines schlicht subsumierenden Normenvollzugs sind funktional typischerweise der Verwaltung vorbehalten. Zieht das Parlament solche Verwaltungstätigkeit an sich, müssen hierfür im Einzelfall hinreichende sachliche Gründe bestehen (RdNr. 141f.). Zwar bedurften die in § 28b Abs. 1 S. 1 IfSG a.F keines Verwaltungsvollzugs, um im Einzelfall Wirkung zu entfalten. Die Verwaltungsbehörden waren aber weiterhin für die Subsumtion der Tatbestände sowie die Überprüfung von deren Einhaltung zuständig. Damit ließ die Regelung die konkret-individuelle Normanwendung als Proprium der vollziehenden Gewalt weitgehend unberührt. Zudem bestanden für die Ausgestaltung der Bestimmungen als selbstvollziehendes Gesetz hinreichende sachliche Gründe. Denn nach Ansicht des Gesetzgebers, die sich im Rahmen des ihm zustehenden Beurteilungsspielraums hielt, ließen sich die Gesetzeszwecke durch bundeseinheitliche Regelungen besser erreichen (RdNr. 144ff.).

10. Damit die angegriffene Regelung materiell verfassungsmäßig ist, muss sie insbesondere verhältnismäßig sein.

Ja!

Jeder staatliche Eingriff in Grundrechte muss verhältnismäßig sein. Das heißt er muss (1) einem verfassungsrechtlich legitimen Zweck dienen und zur Verfolgung dieses Zweckes (2) geeignet, (3) erforderlich und (4) angemessen sein. Ob der Grundrechtseingriff verhältnismäßig ist, musst Du im Rahmen der verfassungsrechtlichen Rechtfertigung des Eingriffs immer prüfen. Auf andere Punkte der materiellen Verfassungsmäßigkeit, wie Bestimmtheitsgebot und das Verbot von Einzelfallgesetzen (Art. 19 Abs. 1 S. 1 GG), musst Du dagegen nur eingehen, wenn hierfür Anhaltspunkte bestehen. Hier hat das BVerfG auch ausführlich geprüft, ob die angegriffenen Normen den aus dem Rechtsstaatsprinzip bzw. für Ordnungswidrigkeitstatbestände aus Art. 103 Abs. 2 GG folgenden Bestimmtheitsgrundsatz verletzten, dies aber im Ergebnis abgelehnt.

11. Die angegriffenen gesetzlichen Regelungen dienten dem Schutz von Leben und Gesundheit sowie der Funktionsfähigkeit des Gesundheitssystems. Sind dies verfassungsrechtlich legitime Zwecke?

Genau, so ist das!

Verfassungslegitime Zwecke sind Gemeinwohlziele, die nicht im Widerspruch zur Verfassung stehen. Durch das Verbot des Präsenzunterrichts wollte der Gesetzgeber Infektionen vermeiden und so seine grundrechtlichen Schutzpflichten aus Art. 2 Abs. 2 S. 1 erfüllen. Auch das mit der Regelung verfolgte Ziel die Funktionsfähigkeit des Gesundheitssystems und damit eine bestmögliche Krankheitsversorgung sicherzustellen, stellt ein überragend gewichtiges Gemeingut dar. Damit dienten die Beschränkungen legitimen Zwecken (RdNr. 173ff.). Das BVerfG betont: Bei Gesetzten, mit denen der Gesetzgeber angenommenen Gefahrenlagen für die Allgemeinheit oder für Rechtsgüter Einzelner begegnen will, erstreckt sich die Prüfung des BVerfG auch darauf, ob den Annahmen des Gesetzgebers hinreichend tragfähige Grundlagen zugrunde lagen. Dies sei aber hier der Fall gewesen (RdNr. 170ff.).

12. Die Kontaktbeschränkungen waren auch zum Schutz von Leib und Leben der Bevölkerung und der Aufrechterhaltung eines funktionsfähigen Gesundheitssystems geeignet.

Ja, in der Tat!

Eine Maßnahme ist bereits dann im verfassungsrechtlichen Sinne geeignet, wenn die Möglichkeit besteht, durch sie den Gesetzeszweck zu erreichen. Der Gesetzgeber verfügt in der Beurteilung der Eignung einer Regelung über eine Einschätzungsprärogative. Tatsächliche Unsicherheiten dürfen bei schwerwiegenden Grundrechtseingriffen grundsätzlich nicht zulasten der Grundrechtsträger gehen. Allerdings ist die verfassungsrechtliche Prüfung auch hier auf die Vertretbarkeit der gesetzgeberischen Einschätzungsprognose beschränkt, wenn es um den Schutz gewichtiger verfassungsrechtlicher Güter geht und es dem Gesetzgeber nur begrenzt möglich ist, sich ein hinreichend sicheres Bild zu machen (RdNr. 187). Nach Ansicht des BVerfG waren die Kontaktbeschränkungen nach diesen Maßstäben geeignet, die vom Gesetzgeber bezweckten Ziele – den Schutz der Bevölkerung vor infektionsbedingten Gefahren für Leib und Leben sowie die Aufrechterhaltung eines funktionsfähigen Gesundheitssystems – zu fördern (RdNr. 192 ff.).

13. Eine Maßnahme ist zur Zweckerreichung erforderlich, wenn kein gleich wirksames, die betroffenen Grundrechte weniger stark einschränkendes Mittel zur Verfügung steht.

Ja!

Grundrechtseingriffe dürfen nicht weitergehen, als es der Schutz des Gemeinwohls erfordert. Dem Gesetzgeber steht grundsätzlich auch für die Beurteilung der Erforderlichkeit ein Einschätzungsspielraum zu. Der Umfang des Einschätzungsspielraums wird durch verschiedene Parameter bestimmt: - Der Umfang des Spielraums verengt sich umso mehr, je wichtiger das betroffene Grundrecht und je intensiver der Eingriff ist. - Umgekehrt reicht der Spielraum umso weiter, je höher die Komplexität der zu regelnden Materie ist (RdNr. 204). Gemessen an diesen Maßstäben hätten zum Zeitpunkt der Verabschiedung und Geltung des Gesetzes keine anderen Maßnahmen zur Verfügung gestanden, die in ihrer Wirksamkeit den angeordneten Kontaktbeschränkungen gleichen, aber weniger eingriffsintensiv sind (RdNr. 207 ff.). Zum damaligen Zeitpunkt lag die Impfquote in der Bevölkerung aber aufgrund von Herstellungsdauer und Lieferengpässen erst bei 6,9 %, was das BVerfG in seinen Überlegungen auch berücksichtigte (RdNr. 206).

14. Die Angemessenheit einer Maßnahme (Verhältnismäßigkeit im engeren Sinne) erfordert, dass der mit der Maßnahme verfolgte Zweck und die zu erwartende Zweckerreichung nicht außer Verhältnis zu der Schwere des Eingriffs stehen.

Genau, so ist das!

„Es ist Aufgabe des Gesetzgebers, in einer Abwägung Reichweite und Gewicht des Eingriffs in Grundrechte einerseits der Bedeutung der Regelung für die Erreichung legitimer Ziele andererseits gegenüberzustellen. Um dem Übermaßverbot zu genügen, müssen hierbei die Interessen des Gemeinwohls umso gewichtiger sein, je empfindlicher die Einzelnen in ihrer Freiheit beeinträchtigt werden.“ Der Gesetzgeber hat auch bei der Prüfung der Angemessenheit grundsätzlich einen Einschätzungsspielraum. Die verfassungsrechtliche Prüfung bezieht sich dann darauf, ob der Gesetzgeber seinen Einschätzungsspielraum in vertretbarer Weise gehandhabt hat (RdNr. 216 ff.).

15. Die Kontaktbeschränkungen griffen mit erheblichem Gewicht in Grundrechte ein. Waren die Kontaktbeschränkungen deswegen aus Sicht des BVerfG unangemessen?

Nein, das trifft nicht zu!

Das BVerfG betont die hohe Eingriffsintensität der Maßnahme, die stark in das private Leben eingreift und zur Vereinzelung insbesondere von alleine lebenden Personen führen kann. Zudem werde das Eingriffsgewicht durch die Sanktionsregelungen verstärkt. Auf der anderen Seite milderten die zeitliche Befristung des Gesetzes und der dynamisch am Pandemiegeschehen ausgerichteten und regional differenzierenden Regelungsansatz die Eingriffsintensität (RdNr. 217 ff.). Zudem ist zu berücksichtigen, dass den durch die Kontaktbeschränkungen bewirkten, erheblichen Grundrechtseingriffen mit dem Lebens- und Gesundheitsschutz sowie der Aufrechterhaltung eines funktionsfähigen Gesundheitssystems Gemeinwohlbelange von überragender Bedeutung gegenüberstanden, zu deren Wahrung zum Zeitpunkt der Verabschiedung Gesetzes dringlicher Handlungsbedarf bestand (RdNr. 227 ff.).

16. Angesichts der zum Geltungszeitraums des Gesetzes bestehenden Unsicherheiten über das Bedrohungspotenzial der Pandemie sowie der zu ihrer Bekämpfung angezeigten Maßnahmen waren die Kontaktbeschränkungen angemessen.

Ja!

BVerfG: Der Gesetzgeber habe in der Abwägung einen verfassungsgemäßen Ausgleich zwischen den mit den Kontaktbeschränkungen verfolgten besonders bedeutsamen Gemeinwohlbelangen und den erheblichen Grundrechtsbeeinträchtigungen gefunden und insbesondere nicht einseitig den Gemeinwohlbelangen Vorrang eingeräumt. So waren in dem Gesetz selbst Vorkehrungen zur Begrenzung grundrechtlich bedeutsamer Belastungen angelegt. Zudem seinen die zeitliche Befristung des Gesetzes und der dynamisch am Pandemiegeschehen ausgerichtete und regional differenzierende Regelungsansatz zu berücksichtigen (RdNr. 230 ff.). Die zum Teil vehement gegen die Regelungen vorgebrachte rechtliche Kritik verkennt in unseren Augen, dass dem Gesetzgeber zum Schutz überragender Schutzgüter in außergewöhnlichen Gefahrenlagen ein weiter Spielraum zusteht, sofern er – wie hier – die Eingriffstiefe seiner Regelungen mit außerordentlichen Schutzmechanismen – etwa Befristungen oder regionaler Differenzierung – auf das Mindestmaß beschränkt.

17. Die in § 28b Abs. 1 S. 1 Nr. 2 IfSG angeordneten Ausgangsbeschränkungen griffen in das Freiheitsgrundrecht aus Art. 2 Abs. 2 S. 2 i.V.m. Art. 104 Abs. 1 GG ein.

Genau, so ist das!

Art. 2 Abs. 2 S. 2 i.V.m. Art. 104 Abs. 1 GG schützt die im Rahmen der geltenden allgemeinen Rechtsordnung gegebene tatsächliche körperliche Bewegungsfreiheit vor staatlichen Eingriffen. Die Fortbewegungsfreiheit setzt in objektiver Hinsicht die Möglichkeit voraus, von ihr tatsächlich und rechtlich Gebrauch machen zu können. Subjektiv genügt ein darauf bezogener natürlicher Wille. Eingriffe in die Fortbewegungsfreiheit können auch bei staatlichen Maßnahmen mit lediglich psychisch vermittelt wirkendem Zwang vorliegen, wenn deren Zwangswirkung in Ausmaß und Wirkungsweise einem unmittelbaren physischen Zwang vergleichbar ist. Nach diesen Maßstäben stellten die Ausgangsbeschränkungen eine Freiheitsbeschränkung dar und griffen durch ihre psychische Zwangswirkung in die Fortbewegungsfreiheit ein (RdNr. 242 ff.). Das Vorliegen einer Freiheitsentziehung lehnte das BVerfG dagegen ab, da die Beschränkung tageszeitlich begrenzt war und Zeiten regelmäßig geringer Mobilität betraf. Auch wurde kein bestimmter Ort des Aufenthalts vorgegeben. Ist in Deiner Klausur die Rechtmäßigkeit mehrerer Maßnahmen zu prüfen – wie hier –, empfehlen wir Dir dringend, die einzelnen Maßnahmen jeweils separat zu prüfen.

18. Nach Art. 2 Abs. 2 S. 3 bzw. Art. 104 Abs. 1 GG dürfen Eingriffe in die Fortbewegungsfreiheit nur „auf Grund eines Gesetzes“ erfolgen. War der unmittelbar durch das IfSG bewirkte Eingriff deswegen verfassungswidrig?

Nein, das trifft nicht zu!

BVerfG: Die Schutzrichtung der Schrankenregelung (Art. 2 Abs. 2 S. 3, Art. 104 Abs. 1 GG) ist grundsätzlich auf solche Eingriffe in die Fortbewegungsfreiheit zugeschnitten, die selbst unmittelbar körperlichen Zwang entfalten oder solchen für den Einzelfall gestatten. Nach der Auslegung des BVerfG können aber nunmehr aber auch gesetzliche Maßnahmen, die für sich genommen niemals körperliche Zwangswirkung zu entfalten vermögen, – wie hier – als Eingriffe gelten, wenn von ihnen dem körperlichen Zwang ähnliche Wirkungen ausgehen. Teleologische Gründe sprechen daher bei einem erweiterten Eingriffsverständnis dagegen, die Schrankenregelungen in Art. 2 Abs. 2 S. 3 und Art. 104 Abs. 1 S. 1 GG kompetenziell als Verwaltungsvorbehalt auszulegen (RdNr. 271 f.). Zudem drohe bei Eingriffen in die Fortbewegungsfreiheit unmittelbar durch Gesetz kein mit dem Schutzzweck der Schranken unvereinbarer Verlust an Rechtsschutz.

19. Die in § 28b Abs. 1 S. 1 Nr. 2 IfSG angeordneten nächtlichen Ausgangsbeschränkungen müssten verhältnismäßig gewesen sein.

Ja!

Eine Maßnahme ist verhältnismäßig, wenn sie einem verfassungsrechtlich legitimen Zweck dient und zu dessen Verfolgung (2) geeignet, (3) erforderlich und (4) angemessen ist. Auch die Ausgangsbeschränkungen dienten dem Schutz von Leben und Gesundheit sowie der Funktionsfähigkeit des Gesundheitssystems und damit verfassungsrechtlich legitimen Zwecken, zu deren Erreichung sie auch geeignet waren. Zudem durfte der Gesetzgeber vertretbar annehmen, auf nächtliche Ausgangssperren als Mittel zur Absicherung der Kontaktbeschränkungen nicht verzichten zu können, ohne die Gesetzeszwecke zu gefährden (Erforderlichkeit) (RdNr. 274 ff.).

20. Waren die Ausgangsbeschränkungen aus Sicht des BVerfG angemessen, also verhältnismäßig im engeren Sinne?

Genau, so ist das!

Die Verhältnismäßigkeit der Ausgangsbeschränkung lässt sich nur im Zusammenhang mit dem gesamten Maßnahmenbündel beurteilen. Mehrere für sich betrachtet zumutbare Eingriffe in grundrechtlich geschützte Bereiche können in ihrer Gesamtwirkung zu einer schwerwiegenden Beeinträchtigung führen, die das Maß der rechtsstaatlich hinnehmbaren Eingriffsintensität überschreitet (RdNr. 290). BVerfG: Insgesamt seien die Ausgangsbeschränkungen trotz ihrer schon für sich genommen erheblichen Eingriffsintensität angemessen gewesen. Denn die Nachteile für die Betroffenen überwiegen nicht gegenüber deren Bedeutung für die überragend wichtigen Gemeinwohlbelange des Lebens- und Gesundheitsschutzes sowie der Aufrechterhaltung eines funktionsfähigen Gesundheitssystems. Der Gesetzgeber habe insgesamt einen verfassungsgemäßen Ausgleich zwischen Individual- und Gemeinwohlbelangen gefunden (RdNr. 289 ff.). Demnach waren die Verfassungsbeschwerden unbegründet. Auch wenn die angegriffenen Bestimmungen erheblich in Grundrechte eingriffen, war der Eingriff gerechtfertigt und die Beschwerdeführer somit nicht in ihren Grundrechten verletzt.
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