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Corona-bedingte Schulschließungen („Bundesnotbremse II“)

Corona-bedingte Schulschließungen („Bundesnotbremse II“)

leichtmittelschwer

+++ Sachverhalt (reduziert auf das Wesentliche)

Jurafuchs

Während des zweiten Coronalockdowns 2020/2021 waren viele Schulen mehrere Monate lang ganz oder teilweise geschlossen. Gegen dieses Verbot von Präsenzunterricht bzw. das Gebot von Wechselunterricht, das im Infektionsschutzgesetz (IfSG) vorgesehen war, erheben einige Schüler und ihre Eltern Verfassungsbeschwerde.

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Einordnung des Falls

Corona-bedingte Schulschließungen („Bundesnotbremse II“)

Die Jurafuchs-Methode schichtet ab: Das sind die 11 wichtigsten Rechtsfragen, die es zu diesem Fall zu verstehen gilt

1. Damit die Verfassungsbeschwerden zulässig sind, müssen die Beschwerdeführer unter anderem beschwerdebefugt sein.

Genau, so ist das!

Die Beschwerdebefugnis setzt voraus, dass der Beschwerdeführer sowohl die Möglichkeit der eigenen, unmittelbaren und gegenwärtigen Betroffenheit als auch die Möglichkeit der Grundrechtsverletzung den Begründungsanforderungen nach § 23 Abs. 1 S. 2, § 92 BVerfGG entsprechend dargelegt (RdNr. 25). Diese Begründungs- und Darlegungsanforderungen erfüllten hier nur ein Teil der Beschwerdeführer. Und zwar die Schülerinnen, die sich durch das Verbot des Präsenzunterrichts in ihrem Recht auf schulische Bildung verletzt sahen und die Eltern, die eine Verletzung ihres Rechts auf freie Bestimmung des Bildungsganges ihres Kindes (Art. 6 Abs. 2 Satz 1 GG) und des Familiengrundrechts (Art. 6 Abs. 1 GG) geltend gemacht haben. (RdNr. 29ff.)
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2. Die Verfassungsbeschwerden sind begründet, wenn die angegriffenen Bestimmungen in die Grundrechte der Beschwerdeführer eingreifen und dieser Eingriff nicht gerechtfertigt ist.

Ja, in der Tat!

Die Begründetheitsprüfung einer Verfassungsbeschwerde (Art. 93 Abs. 1 Nr. 4a GG) ist immer gleich aufgebaut: (1) Eröffnung des Schutzbereich des Grundrechts (persönlicher und sachlicher Schutzbereich), (2) Eingriff in den Schutzbereich, (3) verfassungsrechtliche Rechtfertigung des Eingriffs.

3. Kinder haben einen aus ihrem Persönlichkeitsrecht (Art. 2 Abs. 1 GG) abgeleiteten Anspruch gegen den Staat auf Unterstützung und Förderung bei ihrer Entwicklung zu einer eigenverantwortlichen Persönlichkeit in der sozialen Gemeinschaft.

Ja!

Kinder und Jugendliche haben ein eigenes Recht auf freie Entfaltung ihrer Persönlichkeit. Allerdings sind sie auf Schutz und Hilfe angewiesen, um sich zu einer eigenverantwortlichen Persönlichkeit in der sozialen Gemeinschaft entwickeln zu können. Diese Aufgabe kommt nach dem Grundgesetz zuvörderst den Eltern zu (Art. 6 Abs. 2 GG) (RdNr. 45). BVerfG: „Doch auch Kinder selbst haben ein aus Art. 2 Abs. 1 GG abgeleitetes, gegen den Staat gerichtetes Recht auf Unterstützung und Förderung bei ihrer Entwicklung zu einer eigenverantwortlichen Persönlichkeit in der sozialen Gemeinschaft; der Staat muss diejenigen Lebensbedingungen sichern, die für ihr gesundes Aufwachsen erforderlich sind. Diese im grundrechtlich geschützten Entfaltungsrecht der Kinder wurzelnde besondere Schutzverantwortung des Staates erstreckt sich auf alle für die Persönlichkeitsentwicklung wesentlichen Lebensbedingungen“ (RdNr. 46).

4. Korrespondiert mit dem staatlichen Bildungsauftrag aus Art. 7 Abs. 1 GG auch ein subjektives Recht auf schulische Bildung?

Genau, so ist das!

Nach Art. 7 Abs. 1 GG hat der Staat die Aufgabe, ein Schulsystem zu schaffen, das allen Kindern und Jugendlichen Bildungsmöglichkeiten eröffnet, um so ihre Entwicklung zu einer eigenverantwortlichen Persönlichkeit innerhalb der sozialen Gemeinschaft umfassend zu fördern und zu unterstützen. Das Grundgesetz garantiert demnach eine staatliche Schulbildung als eine Grundbedingung für die chancengerechte Entwicklung der Kinder zu einer eigenverantwortlichen Persönlichkeit. Diese dem Staat zugewiesene Aufgabe verfolgt das gleiche Ziel wie das in Art. 2 Abs. 1 GG verankerte Recht der Kinder und Jugendlichen gegenüber dem Staat auf Unterstützung ihrer Persönlichkeitsentwicklung. Folglich ist dieses Recht das subjektiv-rechtliche „Gegenstück“ zur objektiv-rechtlichen Pflicht des Staates aus Art. 7 Abs. 1 GG. (RdNr. 48). BVerfG: „Das Recht der Kinder und Jugendlichen auf freie Entfaltung ihrer Persönlichkeit nach Art. 2 Abs. 1 GG enthält auch ein Recht gegenüber dem Staat, ihre Entwicklung zu einer eigenverantwortlichen Persönlichkeit auch in der Gemeinschaft durch schulische Bildung gemäß dem Bildungsauftrag nach Art. 7 Abs. 1 GG zu unterstützen und zu fördern (Recht auf schulische Bildung)“ (RdNr. 47)

5. Ist der Präsenzunterricht vom Schutzbereich des Rechts auf schulische Bildung erfasst?

Ja, in der Tat!

BVerFG: Der Schutzbereich umfasse die Schulbildung als Ganze (RdNr. 49). Insbesondere die in der Schule stattfindende soziale Interaktion der Schüler untereinander und mit dem Lehrpersonal leiste einen wesentlichen Beitrag zur Herausbildung sozialer Kompetenzen und damit zur Persönlichkeitsentwicklung der Kinder und Jugendlichen (RdNr. 50). Das Urteil des BVerfG hat vor allem deswegen große Relevanz, weil es zum ersten Mal ein subjektives Recht auf schulische Bildung statuiert. Um diesen Anspruch zugleich wieder etwas zu begrenzen, verwendet das Gericht viel Aufwand darauf, die verschiedenen Gewährleistungsdimensionen dieses „neu erfundenen“ Grundrechts herauszuarbeiten (vgl. Art. 51ff.) Das Recht auf schulische Bildung gebe z.B. keinen originären Leistungsanspruch. Vielmehr sei es derivativer Natur (RdNr. 60) und es habe eine teilhaberechtliche Gewährleistungsdimension (Art. 58ff.). Zudem betont es, dass der Staat sich in diesem Zusammenhang auf den Vorbehalt das Möglichen berufen kann (Art. 55ff.). Schülerinnen könnten deswegen grundsätzlich keine bestimmte Gestaltung von Schule verlangen. Aus dem Recht auf schulische Bildung folge jedoch „ein grundrechtlich geschützter Anspruch von Schülerinnen und Schülern auf Einhaltung eines nach allgemeiner Auffassung für ihre chancengleiche Entwicklung zu einer eigenverantwortlichen Persönlichkeit unverzichtbaren Mindeststandards von Bildungsangeboten an staatlichen Schulen.“ Diesem Anspruch könnten zwar ausnahmsweise überwiegende Gründe des Schutzes von Verfassungsrechtsgütern entgegenstehen, nicht jedoch die staatliche Entscheidungsfreiheit bei der Verwendung knapper öffentlicher Mittel. (RdNr 57).

6. Das Verbot von Präsenzunterricht (§ 28b Abs. 3 S. 2 und 3 IfSG a.F.) griff in das Recht der Schülerinnen auf schulische Bildung (Art. 2 Abs. 1 i.V.m. Art. 7 Abs. 1 GG) ein.

Ja!

Ein Eingriff ist jedes staatlich-zurechenbare Handeln, das dem Einzelnen ein Verhalten, welches in den Schutzbereich fällt, ganz oder teilweise unmöglich macht oder erschwert. § 28b Abs. 3 S. 2 und 3 IfSG a.F. verbietet den Präsenzunterricht an Schulen ab einem bestimmten Inzidenzwert. Diese Maßnahme schränkte die spezifisch schulische Entfaltungsmöglichkeit der beschwerdeführenden Schülerinnen ein, sodass ein staatlicher Eingriff in das Recht auf schulische Bildung vorliegt. Dem stehe auch nicht entgegen, dass sich das gesetzliche Verbot der Durchführung von Präsenzunterricht nicht unmittelbar an die Schüler, sondern ausschließlich an der staatlichen und privaten Träger dieser Schulen richtete. BVerfG: „Das Verbot kam sowohl nach seiner Zielrichtung, in der Schule Kontakte der Schüler untereinander und mit den Lehrern zu verhindern, als auch nach seiner faktischen Wirkung einem an die Schüler selbst gerichteten Verbot gleich, die Schule aufzusuchen, um dort am Unterricht teilzunehmen.“ (RdNr. 72ff.)

7. Eine verfassungsrechtliche Rechtfertigung des Eingriffs setzt voraus, dass § § 28b Abs. 3 S. 2 und 3 IfSG a.F. formell verfassungsgemäß war.

Genau, so ist das!

Ein Grundrechtseingriff ist nur dann verfassungsrechtlich gerechtfertigt, wenn er sich innerhalb der verfassungsrechtlichen Schranken hält. Art. 2 Abs. 1 sieht als explizite Schranke die verfassungsmäßige Ordnung vor. Demnach können Eingriffe durch formell und materiell verfassungsmäßige Gesetze gerechtfertigt sein. Folglich ist zunächst zu prüfen, ob die entsprechende Gesetzesbestimmung formell verfassungsgemäß ist. Die formelle Verfassungsmäßigkeit eines Gesetzes prüfst Du immer in drei Schritten: (1) Gesetzgebungskompetenz, (2) Gesetzgebungsverfahren, (3) Form.

8. Das Verbot von Präsenzunterricht ist eine Regelung des Schulrechts. Demnach fehlt dem Bund die Gesetzgebungskompetenz.

Nein, das trifft nicht zu!

Nach dem Grundgesetz sind die Länder für die Gesetzgebung zuständig, soweit das Grundgesetz dem Bund nicht Gesetzgebungsbefugnisse zuweist (Art. 70 Abs. 1 GG). Eine solche Zuweisung findet sich in den Kompetenztiteln der Art. 73 und 74 GG. Das Verbot von Präsenzunterricht greift in die Ausgestaltung des schulischen Unterrichts ein, welche als Bestsandteil des Auftrags zur Gewährleistung schulischer Bildung (Art. 7 Abs. 1 GG) mangels Kompetenzzuweisung an den Bund der Verwaltungs- und Gesetzgebungsbefugnis der Länder unterfällt (Art. 70 Abs. 1 GG). Daraus folgt hier aber nicht, dass die Vorschrift nach ihrem unmittelbaren Regelungsgegenstand und Zweck dem Schulrecht zuzuordnen ist. Infektionskrankheiten wie COVID-19 werden unmittelbar von Mensch zu Mensch übertragen, sodass Maßnahmen zu ihrer Bekämpfung an Situationen anknüpfen, in denen sich Menschen begegnen. Folglich könne eine wirksame Infektionsbekämpfung auch Regelungen zu solchen Kontaktorten notwendig machen, die an sich in anderen Zusammenhängen der Gesetzgebungskompetenz der Länder unterfallen. Da Regelungsgegenstand und Zweck der Vorschrift hier ausschließlich auf die Bekämpfung von übertragbaren Krankheiten im Sinne des Art. 74 Abs. 1 Nr. 19 GG gewesen sei, unterfiele sie diesem Kompetenztitel. (RdNr. 84ff.) Entgegen der Regelzuständigkeit der Länder für die Gesetzgebung nach dem GG, ist der Bund aufgrund der Kompetenzzuweisungen für die meisten Gesetzgebungsmaterien zuständig. Die den Ländern verbleibenden Kerngesetzgebungskompetenzen, die Du in der Klausur im Kopf haben solltest, sind Schule, Kommunalwesen und Gefahrenabwehrrecht.

9. Das Vierte Gesetz dessen Teil die angegriffene Bestimmung ist, kam ohne Zustimmung des Bundesrates zustande. Ist die Vorschrift deswegen formell verfassungswidrig?

Nein!

Die Beteiligung des Bundesrates am Gesetzgebungsverfahren ist in Art. 77 GG geregelt. Je nach Grad der erforderlichen Beteiligung unterscheidet das Grundgesetz zwischen Zustimmungsgesetzen und Einspruchsgesetzen. Wesentlicher Unterschied zwischen diesen beiden Arten von Gesetzen ist, dass der Bundesrat bei den Zustimmungsgesetzen das Zustandekommen das Gesetzes durch sein Veto verhindern kommen. Welche Gesetze zustimmungsbedürftig sind, ist abschließend und ausdrücklich im Grundgesetz geregelt. Eine solche Vorschrift, die die Zustimmung des Bundesrates bei der Gesetzgebung vorschreibt ist Art. 104a Abs. 4 GG. Danach bedürfen Bundesgesetze, die Pflichten der Länder zur Erbringung von Geldleistungen, geldwerten Sachleistungen oder vergleichbaren Dienstleistungen gegenüber Dritten begründen und von den Ländern als eigene Angelegenheit oder nach Absatz 3 Satz 2 dieses Artikels im Auftrag des Bundes ausgeführt werden, der Zustimmung des Bunderates, wenn daraus entstehende Ausgaben von den Ländern zu tragen sind. BVerfG: Diese Voraussetzungen für eine Zustimmungspflicht seinen hier nicht erfüllt (RdNr. 91ff.).

10. Damit die angegriffene Regelung materiell verfassungsmäßig ist, muss sie insbesondere verhältnismäßig sein.

Genau, so ist das!

Jeder staatliche Eingriff in Grundrechte muss verhältnismäßig sein. Das heißt er muss (1) einem verfassungsrechtlich legitimen Zweck dienen und zur Verfolgung dieses Zweckes (2) geeignet, (3) erforderlich und (4) angemessen sein. Ob der Grundrechtseingriff verhältnismäßig ist, musst Du im Rahmen der verfassungsrechtlichen Rechtfertigung des Eingriffs immer prüfen. Auf andere Punkte der materiellen Verfassungsmäßigkeit, wie Bestimmtheitsgebot und das Verbot von Einzelfallgesetzen (Art. 19 Abs. 1 S. 1 GG), musst Du dagegen nur eingehen, wenn hierfür Anhaltspunkte bestehen. Das BVerfG hat sich hier ebenfalls auf die Prüfung des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes beschränkt. Ansonsten verwies es auf seine Ausführungen aus dem am gleichen Tag veröffentlichten Beschluss „Bundesnotbremse I“ (RdNR. 108).

11. Das Gesetz diente dem Schutz von Leben und Gesundheit der Funktionsfähigkeit des Gesundheitssystems. Sind dies verfassungsrechtlich legitime Zwecke?

Ja, in der Tat!

Verfassungslegitime Zwecke sind Gemeinwohlziele, die nicht im Widerspruch zur Verfassung stehen. Durch das Verbot des Präsenzunterrichts wollte der Gesetzgeber Infektionen vermeiden und so seine grundrechtlichen Schutzpflichten aus Art. 2 Abs. 2 S. 1 GG erfüllen. Auch das mit der Regelung verfolgte Ziel die Funktionsfähigkeit des Gesundheitssystems und damit eine bestmögliche Krankheitsversorgung sicherzustellen, stellt ein überragend gewichtiges Gemeingut dar. Damit diente das Verbot des Präsenzunterrichts legitimen Zwecken. (RdNr. 110ff.) In der Klausur solltest Du alle in Betracht kommenden Zwecke herausarbeiten und für diese einzeln die weitere Verhältnismäßigkeitsprüfung durchführen.
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Fragen und Anmerkungen aus der Jurafuchs-Community

Pilea

Pilea

11.9.2022, 11:31:58

Super hilfreicher Fall! Weiter so ☺️ansonsten: Einmal fehlt die Verlinkung zum Infektionsschutzgesetz, es gibt einen Rechtschreibfehler bei 'Bestandteil' und einmal wurde 'kommen' statt 'können' geschrieben.

Nora Mommsen

Nora Mommsen

12.9.2022, 12:36:13

Hallo Pilea, danke dir für das Lob! Den Rest korrigieren wir natürlich :) Viele Grüße, Nora - für das Jurafuchs-Team

Larzed

Larzed

12.10.2022, 20:49:00

Könnte man bzgl der Gesetzgebungskompetenz des Bundes von einer

Annexkompetenz

reden, weil die Materie der Schulen mitgeregelt werden musste?

Nora Mommsen

Nora Mommsen

23.5.2023, 17:45:43

Hallo Larzed, davon würde ich nicht sprechen. Denn Schulrecht ist explizit geregelt als Landeskompetenz. Daher kann es keine

Annexkompetenz

darstellen. Allerdings dient die Regelung hier dem Infektionsschutz, welcher Bundeskompetenz ist. Auch eine

Kompetenz kraft Sachzusammenhang

s ist abzulehnen, da dies Fälle erfasst in denen notwendigerweise ein ungeschriebenes Kompetenzgebiet mitgeregelt werden muss um den Kompetenztitel auszufüllen. Vorliegend liegt im Schwerpunkt eine Gesetzgebung zum Infektionsschutz vor, die dem entsprechenden Kompetenztitel zuzuordnen ist. Beste Grüße, Nora - für das Jurafuchs-Team


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