Zivilrecht

BGB Allgemeiner Teil

Grundbegriffe der Rechtsgeschäftslehre

Kiosk-Fall mit Wechselgeld (Trennungs- und Abstraktionsprinzip)

Kiosk-Fall mit Wechselgeld (Trennungs- und Abstraktionsprinzip)

3. Dezember 2024

4,6(81.485 mal geöffnet in Jurafuchs)

leichtmittelschwer

+++ Sachverhalt (reduziert auf das Wesentliche)

Jurafuchs

K kauft am Kiosk des V eine Zeitung, die €1 kostet. Er bezahlt mit einem 2-Euro-Stück und bekommt von V ein 1-Euro-Stück zurück und die Zeitung ausgehändigt.

Diesen Fall lösen 80,5 % der 15.000 Nutzer:innen unseres digitalen Tutors "Jurafuchs" richtig.

Einordnung des Falls

Kiosk-Fall mit Wechselgeld (Trennungs- und Abstraktionsprinzip)

Die Jurafuchs-Methode schichtet ab: Das sind die 3 wichtigsten Rechtsfragen, die es zu diesem Fall zu verstehen gilt

1. Bilden das Verpflichtungsgeschäft (z.B. Kaufvertrag) und das dazugehörige Verfügungsgeschäft (z.B. Übereignung einer Sache) ein Rechtsgeschäft?

Nein, das trifft nicht zu!

Das BGB unterscheidet streng zwischen dem schuldrechtlichen Verpflichtungsgeschäft und der Änderung der Rechtszuordnung (= Verfügungsgeschäft). Dies bezeichnet man als Trennungsprinzip. Zu trennen sind die beiden Rechtsgeschäfte auch dann, wenn sie wirtschaftlich gesehen – wie zumeist beim Barkauf im täglichen Leben – einen einheitlichen Vorgang bilden.
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2. K und V haben insgesamt mindestens vier Rechtsgeschäfte geschlossen

Ja!

Es sind mindestens vier Rechtsgeschäfte: (1) Der Kaufvertrag (§ 433 BGB), (2) die dingliche Einigung (§ 929 S. 1 BGB) zur Übereignung der Zeitung, (3) die dingliche Einigung (§ 929 S. 1 BGB) zur Übereignung der 2€-Münze von K an V und (4) die dingliche Einigung (§ 929 S. 1 BGB) zur Übereignung der 1€-Münze von V an K.Schließlich könnte man noch annehmen, dass V sich durch die Annahme der 2€-Münze konkludent dazu verpflichtet hat, Wechselgeld zurückzugeben. Dann lägen sogar fünf Rechtsgeschäfte vor. Hier bitte sauber arbeiten. Fehler werden hier sehr negativ gewichtet. Gerade in Anfängerklausuren musst Du hier die einzelnen Geschäfte für den Korrektor erkennbar unterscheiden.

3. Die Wirksamkeit des Verfügungsgeschäfts ist unabhängig von der Wirksamkeit des Verpflichtungsgeschäfts.

Genau, so ist das!

Nicht nur hinsichtlich des Zustandekommens zwischen Verpflichtungs- und Verfügungsgeschäft ist zu trennen, sondern auch hinsichtlich der rechtlichen Wirksamkeit (Abstraktionsprinzip): Die Wirksamkeit des einen Rechtsgeschäfts ist losgelöst („abstrakt“) von der Wirksamkeit des anderen Rechtsgeschäfts zu beurteilen. Mängel des einen Geschäfts beeinträchtigen die Wirksamkeit des anderen Geschäfts nicht. Bedeutung hat dies insbesondere bei der Anfechtung (§ 142 Abs. 1 BGB), der beschränkten Geschäftsfähigkeit (§§ 107 ff. BGB) sowie bei Verstoß gegen gesetzliche Verbote (§ 134 BGB) und bei Sittenwidrigkeit (§ 138 BGB).
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Fragen und Anmerkungen aus der Jurafuchs-Community

JO

Jose

19.7.2021, 14:34:30

Die sog.

Fehleridentität

stellt nach vorzugswürdiger Ansicht keine Ausnahme zum Abstraktionsprinzip dar. Der identische Fehler führt zur Unwirksamkeit beider Geschäfte, aber es "schlägt" NICHT der Fehler beim

Verpflichtungsgeschäft

auf das

Verfügungsgeschäft

"durch". Gab vor kurzem (2021) einen guten JuS-Artikel dazu, weiß leider gerade nicht genau wo.

Wendelin Neubert

Wendelin Neubert

21.7.2021, 10:18:12

Hallo Jose und danke für deinen Hinweis! Du hast vollkommen Recht: Fälle der

Fehleridentität

sind keine Ausnahme von Abstraktionsprinzip! Sie beschreiben Konstellationen, in denen Verpflichtungs- und

Verfügungsgeschäft

an demselben Fehler leiden und deshalb jeweils - aber eben unabhängig voneinander - unwirksam sind. Der Begriff der

Fehleridentität

wird von Klausurkorrektoren oft erwartet, verleitet aber zu unsauberem Arbeiten und provoziert nicht selten Verstöße gegen das Abstraktionsprinzip (vgl. die verlinkte Fundstelle zum Fall bei Faust, BGB AT). Wir haben daher im Fall den Hinweis auf die

Fehleridentität

herausgenommen und gehen an anderer Stelle nochmal darauf ein. Beste Grüße - Wendelin für das Jurafuchs-Team

CLAUD

Claudia

24.11.2021, 19:52:36

Ein Fall zur

Gesamtbetrachtungslehre

und dem Bedingungszusammenhang wären toll :-)

Lukas_Mengestu

Lukas_Mengestu

25.11.2021, 11:19:12

Liebe Claudia, da wir an dieser Stelle erst einmal in das Rechtsgebiet einführen, haben wir an dieser Stelle darauf verzichtet, noch weitere Sonderkonstellationen aufzunehmen. In der Tat steht es den Parteien grundsätzlich frei, die Wirksamkeit des

Verpflichtungsgeschäft

s zur Bedingung der Wirksamkeit des dinglichen Geschäfts zu machen (Ausnahme: § 925 Abs. 2 BGB). Wir schauen gerne, wo wir hierzu noch einen Fall einbauen können. Meintest Du mit

Gesamtbetrachtungslehre

die "Geschäftseinheit" (§

139 BGB

). Diese widerspricht im Grundsatz dem ganzenn Wesen des Abstraktionsprinzip und kann deshalb nur in sehr begrenztem Umfang angenommen werden (Vgl. BGH NJW

199

1, 317; NJW-RR 1989, 519). Beste Grüße, Lukas - für das Jurafuchs-Team

🦊²

🦊²

22.8.2022, 18:45:15

Hi, sehr schöne Einführung zum fundamentalen Prinzip im Zivilrecht! :) Möglicherweise könnte man noch als Vertiefung den Sinn&Zweck des ganzen Procedere aufnehmen. Es gibt ja durchaus andere Rechtstraditionen (Schweiz, Frankreich) die den Rechtsverkehr anderweitig gestalten. Beste Grüße 🦊²

Nora Mommsen

Nora Mommsen

25.8.2022, 15:10:29

Hallo Fuchs², vielen Dank für das Feedback. Wir überlegen uns eine gute Weise, den Vergleich möglicherweise mit einzubringen. Viele Grüße, Nora - für das Jurafuchs-Team

🦊²

🦊²

25.8.2022, 15:40:12

Hey Hey, ich meinte tatsächlich eher weniger einen direkten Vergleich(schadet aber auch nicht), als vielmehr den Sinn des Trennungs- und Abstraktionsprinzip als Vertiefungshinweis festzuhalten und kurz darzustellen. Also, warum gibt es das so überhaupt in unsere Rechtsordnung? Was nützt es? Wer profitiert davon und warum? Liebe Grüße 🦊 ²

Paul

Paul

18.11.2022, 19:15:38

Handelt es sich hier nicht um fünf Geschäfte? Ich meine mich zu erinnern, dass mir mal beigebracht wurde, dass ein weiteres,

konkludent

es

Verpflichtungsgeschäft

zur

Übereignung

des Rückgelds geschlossen wird. Oder liege ich da falsch?

Lukas_Mengestu

Lukas_Mengestu

23.11.2022, 09:56:05

Hallo Paul, gut gesehen! Es ließe sich hier in der Tat gut vertreten, dass K hier durch die Hingabe der 2€ Münze dem V den Abschluss eines "Wechselgeldrückgabevertrages" angetragen hat, den V dann durch die Annahme der Münze

konkludent

angenommen hat. Dann lägen in der Tat sogar fünf Rechtsgeschäfte vor. Beste Grüße, Lukas - für das Jurafuchs-Team

JMT

JMT

31.12.2023, 08:52:25

Dann wäre es doch gut in der Frage mindestens vier zu schreiben, oder?

WASAB

wasabi

21.5.2023, 22:04:44

Weshalb trennen wir Verfügungs- und

verpflichtungsgeschäft

auf diese Weise voneinander?

SE.

se.si.sc

22.5.2023, 09:55:08

Die einfache Antwort lautet: Weil das BGB so konzipiert ist und wir es müssen. Die schon etwas komplexere lautet: Weil der historische Gesetzgeber des BGB unter Berufung auf römisch-rechtliche Prinzipien es so im BGB verankert und mit einer "Nothwendigkeit" begründet hat, die aus der "Stellung des Sachenrechts im Systeme des Privatrechts" folge (Motive zum BGB, III, S 6). Im Detail ist das alles nicht ganz unumstritten und die Quellen zum römischen Recht, das wohl ebenfalls schon in gewisser Form die Wirksamkeit des schuldrechtlichen von der des dinglichen Geschäfts getrennt hat, sind nicht gerade lückenlos oder eindeutig. Wenn du es ganz genau wissen willst, kommst du um die Lektüre eines rechtshistorischen Aufsatzes dazu leider kaum herum.

WASAB

wasabi

22.5.2023, 10:14:32

Danke, ich werde mir Mal solch einen Aufsatz zu Gemüte führen. Hast du zufällig eine Empfehlung?

SE.

se.si.sc

22.5.2023, 10:58:45

Spontane google-Recherche ergabe das hier als frei verfügbar: https://studzr.de/medien/beitraege/2012/3/pdf/StudZR_2012-3_Neumann_Grundlagen_Trennungsp_Abstraktionsp.pdf

WASAB

wasabi

22.5.2023, 11:24:18

Alles klar, danke dir. Ich werd auch Mal bei Beck schauen was die da haben, dich für mich googlen lassen war nicht meine Intention :D Dachte du hättest einen parat, den du empfehlenswert findest. Danke für die Mühen. :)

LAW

Law_yal_life

18.9.2023, 11:10:19

Was sind die abschließende Fälle der

Fehleridentität

? Gibt es sowas überhaupt?

LAW

Law_yal_life

18.9.2023, 11:12:09

Was meint ihr mit der Vertiefung? Also das gerade bei AF, GF, GESTZL VERBOT, SITTENW das Abstraktionsprinzip besonders zu betrachten ist? Könnt ihr zu den jeweiligen ein Beispiel nennen? Kann mir da konkret nicht was darunter vorstellen..

SW

Swiss

18.11.2023, 13:18:48

Um die wesentlichen Bedeutung einer sauberen Unterscheidung zwischen Verfügung und Verpflichtung hervorzuheben, schlage ich folgende Aufgabe vor: „Kauf einer Packung Spaghetti 500 g zu einem Preis von 2,39 EUR im Einkaufsmarkt“. Dann bitte jeden Spaghetti Strang auflisten als Vertrag:)


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