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Klassisches Klausurproblem

T erscheint auf der Polizeiwache und berichtet ungefragt dem Polizisten P, soeben ihren fremdgehenden Ehemann im Streit erstochen zu haben. P nimmt sie daraufhin vorläufig fest und fährt sie mit dem Kollegen K zur Staatsanwaltschaft. Während der langen Fahrt berichtet T den beiden Beamten die Einzelheiten der Tat, ohne dass diese sie zuvor belehrt haben (§ 136 Abs. 1 StPO).

Einordnung des Falls

Spontanäußerung

Die Jurafuchs-Methode schichtet ab: Das sind die 3 wichtigsten Rechtsfragen, die es zu diesem Fall zu verstehen gilt

1. T ist Beschuldigte.

Ja, in der Tat!

Für die Beschuldigteneigenschaft sind erforderlich (1) ein Tatverdacht und (2) ein Verfolgungswille . (1) Tatverdacht bedeutet, dass als Beschuldigter nur derjenige in Betracht kommt, gegen den zumindest ein Anfangsverdacht besteht. (2) Verfolgungswille meint, dass zum Tatverdacht noch ein Willensakt der Strafverfolgungsbehörde hinzutreten muss, das Verfahren gegen den Verdächtigen als Beschuldigten zu führen (Inkulpationsakt). Dieser Willensakt liegt schon dann vor, wenn eine Maßnahme getroffen wird, die erkennbar der Strafverfolgung einer bestimmten Person dient. Aus Sicht des P besteht ein Anfangsverdacht gegen A und durch die vorläufige Festnahme der P wird eine Strafverfolgungsmaßnahme vorgenommen, sodass T Beschuldigte ist.

2. Bei der Interaktion in der Polizeiwache handelt es sich um eine Vernehmung.

Nein!

Es handelt sich um eine Vernehmung, wenn der Vernehmende der Auskunftsperson in amtlicher Funktion gegenübertritt und in dieser Eigenschaft von ihr eine Auskunft verlangt (formeller Vernehmungsbegriff, hM). Nimmt ein Polizeibeamter lediglich passiv Spontanäußerungen entgegen, handelt es sich nicht um eine Vernehmung. Spontanäußerungen sind Äußerungen, die der Beschuldigte von sich aus ohne Aufforderung trifft. Sie sind verwertbar, weil keine Befragung durchgeführt wurde. Ist der Betroffene nun tatverdächtig, muss er vor jeder weiteren Frage belehrt werden. T äußert sich dem P gegenüber ohne Aufforderung, ein weiteres Gespräch findet nicht statt. Es liegt keine Vernehmung vor.

3. Bei der Interaktion während der langen Autofahrt handelt es sich um eine Vernehmung.

Genau, so ist das!

Die bloß passive Entgegennahme einer Spontanäußerung schlägt in eine Vernehmung um, wenn sich die Polizisten nach dem pauschalen Geständnis einer schweren Straftat und der darauf erfolgten Festnahme des Tatverdächtigen von der von ihnen ersichtlich als Beschuldigten behandelten Person über eine längere Zeit Einzelheiten der Tat berichten lassen. P und K haben sich hier nach dem Geständnis eines Tötungsdeliktes über längere Zeit sämtliche Einzelheiten berichten lassen, sodass die passive Entgegennahme zu einer Vernehmung mit der Folge der Belehrungspflicht (§ 136 StPO) umgeschlagen ist.

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BL

Blotgrim

8.5.2023, 19:24:18

Aber die Polizisten verlangten doch keine Auskunft, ist das kein abweichen vom formellen

Vernehmungsbegriff

?

SE.

se.si.sc

8.5.2023, 21:12:53

Es ist richtig, dass die Polizeibeamten keine Nachfragen an T richten. Es ist allerdings auch so, dass die Selbstbelastungsfreiheit (und damit verknüpft die Aufklärung darüber) zu den elementaren Rechten des Beschuldigten gehört (bzw desjenigen, der sich durch seine Äußerungen gerade zu einem Beschuldigten macht). Das ist neben § 136 I 2 StPO und dem daraus folgenden Verwertungsverbot auch auf internationaler Ebene anerkannt, zB iRv Art 6 EMRK (MüKo-StPO, Art 6 EMRK Rn 318 ff). Spontanäußerungen sollten vor diesem Hintergrund einen eher engen Anwendungsbereich haben. Wann genau eine Sponanäußerung sich so hinreichend zu einem Anfangsverdacht verdichtet hat, dass sie faktisch zu einer Vernehmungssituation übergeht und dementsprechende Belehrungspflichten auslöst, lässt sich natürlich leider nicht abstrakt und präzise bestimmen. Jedenfalls der vorliegende Fall ist aber mE recht eindeutig so gestrickt, dass gerade die Länge der anschließenden Autofahrt (nachdem T schon festgenommen wurde!) eine Belehrung ohne Weiteres möglich und auch erforderlich gemacht hat.


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