Öffentliches Recht

Grundrechte

Glaubens- und Weltanschauungsfreiheit (Art. 4 GG)

Reichweite des Schutzes: Verhalten muss als plausibel glaubensgeleitet erscheinen (Standardfall)

Reichweite des Schutzes: Verhalten muss als plausibel glaubensgeleitet erscheinen (Standardfall)

leichtmittelschwer

+++ Sachverhalt (reduziert auf das Wesentliche)

Jurafuchs

Der gläubige Muslim S besucht ein Berliner Gymnasium. Während der Pausen verrichtet er alle regelmäßigen Gebete nach islamischem Ritus. Die Schulleitung weist die Eltern von S darauf hin, dass Gebete auf dem Schulgelände verboten seien.

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Einordnung des Falls

Reichweite des Schutzes: Verhalten muss als plausibel glaubensgeleitet erscheinen (Standardfall)

Die Jurafuchs-Methode schichtet ab: Das sind die 2 wichtigsten Rechtsfragen, die es zu diesem Fall zu verstehen gilt

1. Beten als religiöser Ritus fällt in den Schutzbereich des Art. 4 Abs. 1 und 2 GG.

Genau, so ist das!

Die religiöse Betätigungsfreiheit schützt das Recht des Einzelnen, sein Verhalten gänzlich anhand seines Glaubens auszurichten. Dieser weite Schutzbereich läuft jedoch Gefahr, konturlos zu werden. Daher wird der Schutzbereich wie folgt eingeschränkt: (1) Das streitgegenständliche Verhalten muss nach geistigem Gehalt und äußerem Erscheinungsbild eine religiös motivierte Handlung sein. Dies muss der Grundrechtsträger plausibel machen, die bloße Behauptung reicht nicht aus (Plausibilitätskontrolle). Dabei wird auch das Selbstverständnis der betroffenen Religion(sgemeinschaft) berücksichtigt. (2) Es reicht nicht aus, wenn das streitgegenständliche Verhalten nur im äußeren Zusammenhang von religiösem Handeln oder bei dessen Gelegenheit stattfindet. (3) Schließlich reicht es nicht aus, dass der Grundrechtsträger sich zu seinem Handeln religiös motiviert sieht. Vielmehr muss der Grundrechtsträger das Verhalten als verpflichtend ansehen und verständlich darlegen, dass er nicht ohne innere Not von seinem Verhalten abweichen kann. Das Verhalten des Betens ist nach geistigem Gehalt und äußeren Erscheinungsbild eine religiös motivierte Handlung und ist als Ritus muslimischer Glaubensgemeinschaften anerkannt. Unter Anwendung der Plausibilitätskontrolle des BVerfG fällt es unter die religiöse Betätigungsfreiheit (Art. 4 Abs. 1 und 2 GG).
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2. Einige Gläubige sehen regelmäßiges Beten im Islam als nicht zwingend an. Fällt das regelmäßige Beten deshalb aus dem Schutzbereich der Religionsfreiheit heraus?

Nein, das trifft nicht zu!

Ein Verhalten fällt unter die religiöse Betätigungsfreiheit, wenn es nach geistigem Gehalt und äußerem Erscheinungsbild eine religiös motivierte Handlung. Ob dies der Fall ist, richtet sich auch nach dem Selbstverständnis der betroffenen Religion(sgemeinschaft). Das bedeutet, das jeweilige Verhalten muss nach geistigem Gehalt und äußerer Erscheinung als Glaubensregel der betreffenden Religion plausibel erscheinen. Es reicht jedoch aus, dass ein Verhalten unter verschiedenen Richtungen einer Religionsgemeinschaft verbreitet ist. Es muss kein uneingeschränkter Konsens innerhalb der Gemeinschaft bestehen. Beten als Ritus im Islam fällt in den Schutzbereich der Religionsfreiheit (Art. 4 Abs. 1 und 2 GG). Dem steht nicht entgegen, dass einzelne Stimmen innerhalb der Gemeinschaft dieses Verhalten als nicht zwingend vom Glauben vorgeschrieben ansehen. Bei solch eindeutig anerkannten Verhaltensweisen wie Gebeten sollte Deine Subsumtion in der Klausur sehr knapp ausfallen. Dieser Sachverhalt ist kein klassisches Problem der Plausibilitätskontrolle.
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Fragen und Anmerkungen aus der Jurafuchs-Community

Dogu

Dogu

23.12.2023, 11:02:19

Ich darf doch als Individuum meinen Glauben selbst definieren. Wieso sollte dafür die Auffassung anderer Gläubiger maßgebend sein? Es reicht doch die Plausibilitätskontrolle, ob ich mich zur Handlung verpflichtet fühle. der Rest ist keine Frage des Schutzbereichs.

TUBAT

TubaTheo

23.12.2023, 13:38:50

Der Grund für diese Einschränkung liegt in der Missbrauchsgefahr des Glaubensbegriffs. Wenn man als einzige Person einer Glaubensgemeinschaft eine bestimmte Handlung als verpflichtend ansieht, würde der Schutz der Religionsfreiheit ausufern. Man könnte bei jeder Handlung behaupten, dass man sich zu dieser verpflichtet fühle. Aus diesem Grund stellt man auf die Auffassung weiterer Individuen ab.

LELEE

Leo Lee

25.12.2023, 15:56:43

Hallo Dogu, wie TubaTheo zutreffend anmerkt, dient diese Kontrolle einem Missbrauch des Grundrechtsbegriffs. Da die Religionsfreiheit ohnehin so weit definiert wird, braucht man ein Instrument, um einer Uferlosigkeit Einhalt zu gebieten. Ansonsten könnte „jeder kommen“ und etwa behaupten, das Konsumieren harter Drogen, die illegal sind, gehöre zu seiner Religion. Wenn man diesen Gedanken weiterführt, könnten irgendwann auch die absurdesten/illegalsten Handlungen als Religionsfreiheit qualifiziert werden, weshalb hier schon auf der Ebene des Schutzbereichs eine Einschränkung vorgenommen wird. Hierzu kann ich i.Ü. die Lektüre von Jarass/Pieroth GG 17. Auflage, Jarass Art. 4 Rn. 12 sehr empfehlen :). Besinnliche Feiertage und einen guten Rutsch wünscht euch das Jurafuchsteam!

Dogu

Dogu

28.12.2023, 21:40:00

Danke für Eure Antworten. Das heißt, eine Handlung würde faktisch nie unter die Religionsfreiheit fallen, wenn es sich um die erste Person handelt, die die Religion praktiziert (Religionsstifter) oder die eine bestimmte religiöse Auffassung bzw. neue Strömung innerhalb einer bestehenden Religion vertritt? Das verursacht ein gewisses Störgefühl. Ich kann ja trotzdem absolut überzeugt davon sein.

TUBAT

TubaTheo

29.12.2023, 13:59:18

Ich verstehe dein Störgefühl, würde bei Religionsneugründungen aber auf das Abstellen auf Verhalten anderer Glaubensmitglieder verzichten. Denklogisch ist es dort gar nicht möglich, das Verhalten zu "vergleichen". In diesem Sinne würde ich bei Neugründungen nur eine Plausibilitätskontrolle vornehmen, aber diese vielleicht mit einem etwas strengeren Maßstab. Bei bestehenden Religionen ergibt es für mich trotzdem weiter Sinn, das Verhalten mit anderen Mitgliedern zu vergleichen, da in Religionsgemeinschaften ein gemeinsamer Konsens besteht und Abweichungen von einzelnen Personen meist nicht mehr von diesem Konsens umfasst ist.

Dogu

Dogu

29.12.2023, 19:30:01

@[TubaTheo](201157) Danke, damit kann ich leben. :)


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