Zivilrecht
Examensrelevante Rechtsprechung ZR
Entscheidungen von 2022
Zeitpunkt des Zugangs einer Email
Zeitpunkt des Zugangs einer Email
+++ Sachverhalt (reduziert auf das Wesentliche)
Die Unternehmerinnen U und G streiten über die Höhe einer Forderung. U schreibt G während der Geschäftszeit per Mail, sie könne €8.000 zahlen. Dann würde U auf den Rest verzichten. 20 Minuten später erklärt U in einer weiteren Mail, dass die erste Mail unberücksichtigt bleiben soll. G zahlt €8.000.
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Einordnung des Falls
Bei empfangsbedürftigen Willenserklärungen ist der Zeitpunkt des Zugangs maßgeblich für deren Wirksamkeit und Unwiderruflichkeit. Neben dem Erreichen des Machtbereichs des Empfängers kommt es für die Frage des Zugangs entscheidend darauf an, wann nach der Verkehrsanschauung mit einer Kenntnisnahme zu rechnen ist. Im analogen Briefverkehr wird dabei regelmäßig auf die Postzustellzeiten am Empfangsort abgestellt. Bei E-Mails war der konkrete Zugangszeitpunkt bislang dagegen streitig. In der vorliegenden Entscheidung positioniert sich nun erstmals der BGH in diesem Streit, allerdings nur für den geschäftlichen Bereich.
Die Jurafuchs-Methode schichtet ab: Das sind die 9 wichtigsten Rechtsfragen, die es zu diesem Fall zu verstehen gilt
1. U und G könnten einen Vergleich (§ 779 BGB) über die Zahlung von €8.000 geschlossen haben.
Ja, in der Tat!
Jurastudium und Referendariat.
2. U hat mit der Mail ein Vergleichsangebot abgegeben (§ 145 BGB).
Ja!
3. Ein Vergleichsangebot ist nach der Abgabe unwiderrufbar (§ 130 BGB).
Nein, das ist nicht der Fall!
4. Für den Zeitpunkt des Zugangs einer empfangsbedürftigen Willenserklärung stellt man auf die tatsächliche Kenntnisnahme des Empfängers ab.
Nein, das trifft nicht zu!
5. Stellt man für die Möglichkeit zur Kenntnisnahme von E-Mails auf das Ende der Geschäftszeit ab, könnte U das Angebot noch widerrufen.
Ja!
6. Der BGH geht jedenfalls im unternehmerischen Verkehr davon aus, dass eine Mail erst zum Ende der Geschäftszeit wirksam zugeht.
Nein, das ist nicht der Fall!
7. Ist ein Angebot bindend geworden, bleibt es solange wirksam, bis der Erklärungsempfänger es annimmt oder ablehnt (§§ 147 ff. BGB).
Nein, das trifft nicht zu!
8. Hat G das Vergleichsangebot wirksam angenommen?
Ja!
9. Kann U gegenüber G nach der erfolgten Zahlung weiterhin die über die €8.000 hinausgehenden, streitigen Forderungen geltend machen?
Nein, das ist nicht der Fall!
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Fragen und Anmerkungen aus der Jurafuchs-Community
swoobii
9.5.2023, 17:29:16
Ich verstehe den Fall ehrlich gesagt nicht ganz, wie kann man ein Angebot annehmen, dass wie hier vorliegend widerrufen wurde?
Edward Hopper
9.5.2023, 20:02:30
Es wurde nur vermeintlich widerrufen also man hat versucht es zu widerrufen. Da der Widerruf aber gleichzeitig oder vorher erfolgen muss, ist das in der Regel schwer. Hier sogar unmöglich, weil der BGH auf den Zeitpunkt des Zugangs der Email abstellt. Und wie willst du du eine zweite Email schneller verschicken als die erste? Mit der anderen Ansicht würde das gehen da dort auf den Ende des Tages abgestellt wird und dann beide Emails (gleichzeitig) drauf sind
swoobii
10.5.2023, 08:07:48
Ich hatte es falsch verstanden - vielen Dank
laura.s
23.4.2024, 18:06:11
Die Frage, ob die Mail wirksam zugegangen ist gemäß
§ 130 BGB, lief als Teil im Examen Brandenburg/Berlin 2024.1 (Hier auch zwischen zwei unternehmen)
Eileen 🦊
26.5.2024, 14:15:41
Bestünde die Möglichkeit, dass man annimmt, dass der Antragende gem. 145 die Gebundenheit durch die zweite Email ausgeschlossen hat?
Leo Lee
27.5.2024, 11:52:04
Hallo Eileen112358, vielen Dank für die sehr gute Frage! In der Tat könnte man der Meinung sein, dass man die Gebundenheit mit der zweiten Mail widerrufen haben könnten. Achte Jedoch darauf, dass ein Angebot dann wirksam zugeht, sobald (nach BGH) die Mail auf dem Server abrufbereit bereitgestellt wird (i.Ü. zählt das auch für den Spamordner). Wenn also wie hier – aufgrund mangelnder Nachweisbarkeit – der genaue Zeitpunkt der Kenntnisnahme nicht klar ist und man der Ansicht mit dem Ende der Geschäftszeit folgt, könnte man in der Tat in der zweiten Mail den Widerruf sehen (der vor oder gleichzeitig mit der ursp. WE zugegangen sein muss)! Da jedoch die wohl h.M. das Bereitstellen im Mailfach (also die Ansicht des BGHs) ausreichen lässt, ist es empfehlenswert, auch in der Klausur dieser Ansicht zu folgen. Hierzu kann ich i.Ü. die Lektüre vom MüKo-BGB 9. Auflage, Einsele § 130 Rn. 18 sehr empfehlen :)! Liebe Grüße – für das Jurafuchsteam – Leo
Eileen 🦊
27.5.2024, 18:19:27
Vielen Dank!
Whale
27.8.2024, 11:37:12
Hi @[Leo Lee](213375), geht die erste Ansicht denn auch davon aus, dass eine tatsächliche Kenntnisnahme, wenn sie besteht, maßgeblich ist? Du setzt das ja in deiner Antwort voraus, sofern man der ersten Ansicht Folge leisten möchte. Ich frage, weil dann ja anscheinend beide Ansichten bei Mails die tatsächliche Kenntnisnahme bevorzugen. Das konterkariert aber den ganzen Sinn und Zweck hinter der „traditionellen“ Konstruktion des Zugangs, oder nicht?
LS2024
27.7.2024, 10:52:43
Nach welcher Norm ist der ursprüngliche Anspruch untergegangen?
Leo Lee
28.7.2024, 07:20:06
Hallo LS2024, vielen Dank für die sehr gute und wichtige Frage! Der Anspruch auf die 8.000 Euro ging hier durch die Zahlung – also Erfüllung nach 362 – unter (siehe hierzu den Text von Frage 9) :)! Liebe Grüße – für das Jurafuchsteam – Leo
CR7
19.8.2024, 12:54:15
Ich glaube, LS2024 meinte nicht die 8.000 EUR, sondern die ursprüngliche Forderung, über die gestritten wurde und letztlich ein Vergleich geschlossen wurde. Ich hätte jetzt gesagt, der Vergleich ist die causa, die Verfügung, also der Erlass dieser restlichen Summe, ist der Erlass (§ 3
97 BGB), das würde man dann bei Anspruch untergegangen prüfen.
YanWing
30.9.2024, 21:48:47
Die 8k € sind ja gerade der ursprüngliche Anspruch. Über dessen Höhe wurde gestritten, mit dem Vergleich hat man sich geeinigt, durch die Zahlung der 8k wurde die Forderung erfüllt und der Anspruch ist untergegangen. Laut eigener Aussage "verzichtet" U auf einen Teil, dabei ist aber zu beachten, dass er über seine Vorstellung der Forderung redet, der andere Teil könnte, zumindest nach diesem verkürzten SV, eine niedrigere Summe als die 8k im Kopf haben und aus seiner Sicht ebenso einen Kompromiss eingegangen sein. Wir können nicht davon ausgehen, dass eine Schuld erlassen wurde i.S.d. § 397 I BGB.