Gewahrsam Überblick, formelle, materielle RMK

21. November 2024

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leichtmittelschwer

+++ Sachverhalt (reduziert auf das Wesentliche)

Jurafuchs

Bürgermeisterin B erhält Mails mit Morddrohungen. Die Polizei schickt verstärkt Streifen zum Wohnhaus der B. Die Streifenpolizisten S und P entdecken auf ihrer nächtlichen Runde den Wutbürger W, der offen eine Waffe mit sich führt. S und P nehmen B mit zur nächsten Polizeidienststelle und sperren ihn bis zum Morgen in eine Zelle.

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Einordnung des Falls

Gewahrsam Überblick, formelle, materielle RMK

Die Jurafuchs-Methode schichtet ab: Das sind die 6 wichtigsten Rechtsfragen, die es zu diesem Fall zu verstehen gilt

1. Das PolG NRW enthält eine Standardermächtigung zur Ingewahrsamnahme (§ 35 PolG NRW)? Wurde B in Gewahrsam genommen?

Genau, so ist das!

Der Gewahrsam (§ 35 PolG NRW) ist ein mit hoheitlicher Gewalt hergestelltes Rechtsverhältnis, kraft dessen die Polizei eine Person derart verwahrt, dass die Person daran gehindert ist, sich von einem bestimmten Ort zu entfernen. Das Festhalten muss eine gewisse zeitliche Erheblichkeit haben und darf nicht nur kurzfristiger Natur sein. Der Akt der Festnahme nennt sich Ingewahrsamnahme, das Aufrechterhalten der Festnahme nennt sich Gewahrsam. W befindet sich kraft hoheitlicher Gewalt im einem eng umgrenzten Raum der Zelle, wodurch er am Verlassen des Ortes gehindert ist. Das Festhalten reicht bis zum nächsten Morgen und ist nicht bloß kurzfristig. W ist in Gewahrsam genommen.
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2. Der Gewahrsam nach § 35 PolG NRW stellt eine Freiheitsentziehung i.S.d. Art. 104 Abs. 2 S. 1 GG dar.

Ja, in der Tat!

Dauer und Intensität der Einschränkung der körperlichen Bewegungsfreiheit sind beim Gewahrsam derart hoch, dass es sich um eine Freiheitsentziehung und keine bloße Freiheitsbeschränkung handelt. Durch das Festhalten in einem eng umgrenzten Raum ist die Bewegungsfreiheit praktisch aufgehoben. Als Konsequenz folgt aus Art. 104 Abs. 2 S. 1 GG der Richtervorbehalt. Der Richtervorbehalt wird einfachgesetzlich im PolG NRW bestätigt (§ 36 PolG NRW).

3. Die Polizei muss unverzüglich eine richterliche Entscheidung einholen (§ 36 Abs. 1 S. 1 PolG NRW). Die Entscheidung ist unverzüglich, wenn kein schuldhaftes Zögern des Polizisten vorliegt.

Nein!

Der Richtervorbehalt ist eine spezielle formelle Rechtmäßigkeitsvoraussetzung für den Gewahrsam. Die Polizei hat unverzüglich eine richterliche Entscheidung einzuholen (§ 36 Abs. 1 S. 1 PolG NRW). Die Entscheidung wurde „unverzüglich“ eingeholt, solange eine Verzögerung auf einem sachlichen Grund beruht. Sachliche Gründe können „die Länge des Weges, Schwierigkeiten beim Transport [...], renitentes Verhalten des Festgenommenen“ (BVerfGE 103, 142 (156); 105, 239 (249)) sein. Es kommt nicht auf das Verschulden des einzelnen Polizeibeamten an. Der Richtervorbehalt gilt nicht ausnahmslos. Wenn die richterliche Entscheidung erst nach Wegfall der Gewahrsamsgrundes eingeholt werden könnte, kann auf sie verzichtet werden (§ 36 Abs 2 PolG NRW)

4. Der Gewahrsam nach § 35 PolG NRW verfolgt das Ziel der Strafverfolgung.

Nein, das ist nicht der Fall!

Der Gewahrsam nach § 35 PolG NRW verfolgt nicht das Ziel der Strafverfolgung. Vielmehr wird die betroffene Person zur Gefahrenabwehr in Gewahrsam genommen. § 35 PolG NRW ist präventiver Natur, nicht repressiver. Die Polizei kann eine Person auch zum repressiven Zweck der Strafverfolgung festnehmen. Rechtsgrundlage sind dann die Normen der StPO wie § 127 Abs. 2 StPO. In der Klausur musst Du gegebenenfalls die Zielrichtung der Maßnahme schon auf Ebene der Zulässigkeit thematisieren. Verfolgt die Festnahme repressive Zwecke, ist der Rechtswegs zu den ordentlichen Gerichten durch die abdrängende Sonderzuweisung von Art. 23 Abs. 1 EGGVG eröffnet.

5. Der Gewahrsam kann zum Schutz der festgenommen Person selbst erfolgen. Liegt der Gewahrsamsgrund im Falle von W vor?

Nein, das trifft nicht zu!

Der sog. Schutzgewahrsam nach § § 35 Abs. 1 Nr. 1 PolG NRW dient dem Schutz der festgenommenen Person selbst. Es muss eine Gefahr für Leib und Leben für die festgenommenem Person bestehen, wobei kleinere Verletzung für eine Leibesgefahr nicht ausreichen. „Insbesondere“ kann der Schutzgewahrsam auch angeordnet werden, wenn sich die Person in einem die freie Willensbestimmung ausschließenden Zustand oder sonst in hilfloser Lage befindet. Dies betrifft vor allem Volltrunkene oder Kleinkinder. Hier besteht keine Gefahr für W, sondern eine Gefahr für Dritte geht von W aus. Der Schutzgewahrsam ist nicht einschlägig. Trotz grundrechtlicher Bedenken kann die Polizei die gefährdete Person auch gegen ihren Willen in Gewahrsam nehmen. Es sind dann aber besonders hohe Anforderungen an die Verhältnismäßigkeit zu stellen. Der Gewahrsam stellt das ultima ratio dar.

6. Eine Person kann zur Verhinderung einer Straftatbegehung festgenommen werden (§ 35 Abs. 1 Nr. 2 PolG NRW). Liegt der Gewahrsamsgrund im Falle von W vor?

Ja!

Die Polizei kann eine Person zur Verhinderung einer Straftat oder Ordnungswidrigkeit in Gewahrsam nehmen (§ 35 Abs. 1 Nr. 2 PolG NRW, sog. Vorbeuge- oder Sicherheitsgewahrsam). Allerdings muss die Begehung unmittelbar bevorstehen oder fortgesetzt werden. Die Ordnungswidrigkeit muss zudem von erheblicher Bedeutung für die Allgemeinheit sein. Ein Indiz für die erhebliche Bedeutung ist die Geldbußbewertheit der Ordnungswidrigkeit. Die Polizei trifft W mit einer Waffe in der Hand auf dem Weg zu B an. Daraus lässt sich der Rückschluss ziehen, dass W die körperlichen Unversehrtheit der B beeinträchtigen oder sie gar töten will. Es liegt der Gewahrsamsgrund von § 35 Abs. 1 Nr. 2 PolG NRW vor.
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Fragen und Anmerkungen aus der Jurafuchs-Community

LAI

Laireme

16.10.2022, 17:38:51

Wieso ist die Allgemeinheit betroffen, wenn W es gezielt auf B abgesehen hat? Hier wäre mMn doch Nr. 5 einschlägig, oder ist das anders zu beurteilen weil W die Waffe offen mit sich führt und somit jeden treffen KÖNNTE?

TO

TomTom1

27.1.2023, 16:45:26

Erhebliche Bedeutung für die Allgemeinheit bezieht sich mWn nur auf die OWi, nicht die Straftat.


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