+++ Sachverhalt (reduziert auf das Wesentliche)
Rechtsanwalt R soll für Mandant M Berufung einlegen beim OLG. Seine langjährige, verlässliche Mitarbeiterin G adressiert den Schriftsatz fälschlicherweise an das LG. R fällt es nach Unterzeichnung auf. Er weist G an, den Schriftsatz an das OLG zu adressieren. G verschickt irrtümlich das Exemplar an das LG.
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Einordnung des Falls
Anweisung der Kanzleikraft zur Versendung eines korrigierten Schriftsatzes
Die Jurafuchs-Methode schichtet ab: Das sind die 5 wichtigsten Rechtsfragen, die es zu diesem Fall zu verstehen gilt
1. Die Frist für das Einlegen einer Berufung (§ 517 ZPO) ist eine Notfrist. Sie kann nicht verlängert werden.
Genau, so ist das!
Die ZPO kennt verschiedene Arten von Fristen: (1) Notfristen im Sinne des § 224 Abs. 1 S. 2 ZPO. Diese sind im Gesetz ausdrücklich bezeichnet, etwa in § 517 ZPO: "Die Berufungsfrist beträgt einen Monat; sie ist eine Notfrist..." Notfristen können nicht verlängert werden. (2) Gewöhnliche Fristen sind alle anderen gesetzlichen Fristen, die nicht ausdrücklich als Notfristen bezeichnet sind. (3) Schließlich gibt es richterliche Fristen, wie die Einlassungsfrist zwischen Klagezustellung und mündlicher Verhandlung (§ 274 Abs. 3 S. 1 ZPO) oder die Ladungsfrist (§ 217 ZPO).
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2. Wenn eine Partei unverschuldet eine Notfrist versäumt, wird ihr auf Antrag eine Wiedereinsetzung in den vorigen Stand gewährt (§ 233 ZPO).
Ja, in der Tat!
Die Wiedereinsetzung in den vorherigen Stand kommt bei der Versäumung von Notfristen oder anderen im Gesetz bezeichneten Fristen (Frist zur Begründung der Berufung, der Revision, der Nichtzulassungsbeschwerde oder der Rechtsbeschwerde oder die Frist des § 234 Abs. 1 ZPO) in Betracht. Sie setzt voraus, dass die Frist ohne eigenes Verschulden versäumt wurde (§ 233 S. 1 ZPO). Binnen zwei Wochen (bzw. eines Monats) ist die Wiedereinsetzung zu beantragen und die versäumte Prozesshandlung nachzuholen (§ 234 Abs. 1 ZPO). Die Wiedereinsetzung kann auch ohne den erforderlichen Antrag gemäß § 236 Abs. 1 ZPO erfolgen, wenn die versäumte Prozesshandlung nachgeholt wurde, § 236 Abs. 2 S. 2 ZPO.
3. Die Berufungsfrist wird dadurch gewahrt, dass die Berufungsschrift beim unzuständigen LG eingeht.
Nein!
Die Berufung wird durch Einreichung der Berufungsschrift bei dem Berufungsgericht eingelegt (§ 519 ZPO). Richtiger Adressat ist das Berufungsgericht, hier das OLG. Die Berufung wird erst wirksam, wenn der Schriftsatz nach Weiterleitung durch das unzuständige LG beim OLG eingeht (Reichold, in: Putzo, ZPO, 40. Aufl. 2019, § 519 RdNr. 5).
4. M muss sich ein Verschulden seines Anwalts R und dessen Angestellter G zurechnen lassen (§ 278 BGB).
Nein, das ist nicht der Fall!
Die ZPO enthält eine eigene Vorschrift für die Zurechnung von Verschulden in § 85 Abs. 2 ZPO. Danach ist nur das Verschulden des R dem Mandanten zurechenbar, nicht das der G. Eine Zurechnung kommt nur in Betracht, wenn dem Bevollmächtigten ein Organisationsverschulden zur Last liegt, wenn er also seine Angestellten nicht ordnungsgemäß ausgesucht und überwacht hat. Aus diesem Grund ist der Rechtsanwalt verpflichtet, seine Angestellten anzuweisen, nach einer Übermittlung per Telefax anhand des Sendeprotokolls zu überprüfen, ob die Übermittlung vollständig und an den richtigen Empfänger erfolgt ist (sog. Pflicht zur wirksamen Ausgangskontrolle fristwahrender Schriftsätze). Dieser Aspekt ist hier unerheblich, weil auch eine Ausgangskontrolle den Fehler im vorliegenden Fall nicht beseitigt hätte (BGH, RdNr. 7).
5. R musste die unterschriebene Klage eigenständig vernichten, um seiner Organisationspflicht nachzukommen.
Nein, das trifft nicht zu!
BGH: Ein Rechtsanwalt, der einen falsch adressierten Schriftsatz unterschreibt, den Fehler dann aber bemerkt und einen korrigierten Schriftsatz unterzeichnet, genüge der von ihm geforderten üblichen Sorgfalt, wenn er eine sonst zuverlässige Kanzleikraft anweise, den korrigierten Schriftsatz zu versenden. Der eigenhändigen Vernichtung, eigenhändiger Durchstreichungen des ursprünglichen Schriftsatzes oder einer ausdrücklichen Anweisung hierzu bedürfe es grundsätzlich nicht. Beauftragt der Rechtsanwalt die zuverlässige Kanzleikraft damit, einen neuen Schriftsatz zu erstellen, und weist er sie an, den korrigierten Schriftsatz zu versenden, sei damit die Anweisung verbunden, den fehlerhaften Schriftsatz zu vernichten. (BGH, RdNr. 10f.)