Öffentliches Recht

Examensrelevante Rechtsprechung ÖR

Entscheidungen von 2017

Faktischer Eingriff in Versammlungsfreiheit durch Tiefflug eines Tornados

Faktischer Eingriff in Versammlungsfreiheit durch Tiefflug eines Tornados

23. November 2024

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+++ Sachverhalt (reduziert auf das Wesentliche)

Jurafuchs

Wegen mehrtägiger gewalttätiger Großdemonstrationen machen Kampfflugzeuge der Bundeswehr im Auftrag der Polizeibehörde (Amtshilfe) Fotos der Umgebung zur frühzeitigen Gefahrerkennung. Dafür fliegt ein Jet in nur 114 m Höhe über ein Unterkunfts-Camp, in dem sich Demonstrantin D aufhält.

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Einordnung des Falls

Faktischer Eingriff in Versammlungsfreiheit durch Tiefflug eines Tornados

Die Jurafuchs-Methode schichtet ab: Das sind die 7 wichtigsten Rechtsfragen, die es zu diesem Fall zu verstehen gilt

1. Ermächtigungsgrundlage für die Anfertigung der Fotos und den dafür erforderlichen Überflug ist § 19a i.V.m. § 12a Abs. 1 VersG, Art. 125a GG.

Nein, das trifft nicht zu!

§§ 19a, 12a Abs. 1 VersG i.V.m. Art. 125a GG (bzw. entsprechende Vorschriften des LandesVersG) ermächtigen zur Anfertigung von Bild- und Tonaufnahmen von Teilnehmern bei oder im Zusammenhang mit öffentlichen Versammlungen. Sie erfassen die zielgerichtete Erhebung personenbezogener Daten. Übersichtsaufnahmen, die – wie hier – eine Personenidentifizierung nicht zulassen, fallen nicht darunter. Rechtsgrundlage ist die polizei- und ordnungsrechtliche Generalklausel. Sie ermächtigt nicht nur zur unmittelbaren Gefahrenabwehr, sondern auch zur Aufklärung einer noch ungewissen Gefahrenlage (Gefahrerforschung). §§ 19a, 12a VersG entfalten keine Sperrwirkung, weil sie keine abschließenden Regelungen für Befugnisse im Versammlungsvorfeld enthalten (RdNr. 15ff.).
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2. Die Demonstrationen starten am 6. Juni, das Flugzeug überfliegt das Camp aber schon einen Tag früher, am 5. Juni. Der Schutzbereich des Art. 8 Abs. 1 GG ist zu diesem Zeitpunkt gleichwohl bereits eröffnet.

Ja!

Damit Handlungen vor der Versammlung selbst von der Vorwirkung der Versammlungsfreiheit erfasst werden, muss ein unmittelbarer räumlicher und zeitlicher Zusammenhang mit der Versammlung bestehen. Gerade bei mehrtägigen Großdemonstrationen ist die Teilnahme für viele Personen nur durch frühzeitige Anreise und ortsnahe Unterkunft möglich. Der Aufenthalt in einem Camp für potenzielle Demonstrationsteilnehmer ist vergleichbar mit der Anreise zu einer bevorstehenden Versammlung und wird dem durch Art. 8 Abs. 1 GG geschützten Sichversammeln zugerechnet. Der Schutzbereich der Versammlungsfreiheit war hier folglich zum Zeitpunkt des Überflugs bereits eröffnet (RdNr. 29).

3. Unterkunfts-Camps, von denen aus die Demonstranten zu ihren Demonstrationen aufbrechen, sind selbst eine Versammlung.

Nein, das ist nicht der Fall!

Eine Versammlung im Sinne von Art. 8 Abs. 1 GG ist nach der Rspr. eine örtliche Zusammenkunft mehrerer – mindestens zwei – Personen zur gemeinschaftlichen, auf Teilhabe an der Meinungsbildung gerichteten, Erörterung oder Kundgebung. Entscheidend ist, dass die Meinungsäußerung darauf abzielt, auf die Öffentlichkeit entsprechend einzuwirken. Hier dient das Camp aber lediglich der Unterkunft der Personen, die die Absicht haben, an Versammlungen teilzunehmen. Das ist jedoch noch nicht ausreichend, um durch gemeinsame Meinungsbildung und -äußerung auf die öffentliche Meinungsbildung einzuwirken (RdNr. 24ff.; Kingreen/Poscher, Grundrechte Staatsrecht II, 33.A. 2017, RdNr. 807ff.).

4. Der Überflug des Kampfflugzeugs in nur 114 m Höhe ist als Eingriff in die Versammlungsfreiheit der Personen, die sich im Camp befinden, zu werten.

Ja, in der Tat!

BVerwG: Hier liege ein faktischer Eingriff in Art. 8 Abs. 1 GG vor. Dies sei der Fall, wenn das staatliche Handeln aus Sicht eines verständigen Dritten einschüchternd oder abschreckend wirken kann oder geeignet ist, die Entschließungsfreiheit potenzieller Demonstranten zu beeinflussen. Ein verständiger Dritter könne auch einen Bezug der Maßnahme zur späteren Versammlung erkennen und deshalb die geplante Teilnahme überdenken. Der angsteinflößende Anblick, der extreme Lärm und der Überraschungseffekt eines tieffliegenden Jets könne die Campenden einschüchtern. Diese könnten den Überflug als Aufforderung des Staates deuten, den Demonstrationen fernzubleiben (RdNr. 30ff.).

5. D begehrt die gerichtliche Feststellung, dass der Überflug sie in ihrem Grundrecht aus Art. 8 Abs. 1 GG verletzt hat. Die Feststellungsklage ist statthaft.

Ja!

D begehrt die Feststellung des Bestehens eines Rechtsverhältnisses (§ 43 Abs. 1 VwGO), also rechtlicher Beziehungen, die sich aus einem Sachverhalt aufgrund einer öffentlich-rechtlichen Norm für das Verhältnis von natürlichen oder juristischen Personen untereinander ergeben. Überflug und Fotoaufnahmen begründen rechtliche Beziehungen zwischen D und der Polizeibehörde, der der Jet-Überflug zuzurechnen ist. Das Feststellungsinteresse – jedes schutzwürdige Interesse rechtlicher, wirtschaftlicher oder ideeller Art – ist gegeben: D könnte durch den Überflug in Art. 8 Abs. 1 GG verletzt worden sein und hatte keine Möglichkeit zum Rechtsschutz vor Beendigung der Maßnahme. Die Subsidiarität ist gewahrt, § 43 Abs. 2 VwGO, die Feststellungsklage zulässig (RdNr. 12ff.).

6. Die Camps fallen unter dem Gesichtspunkt der Vorwirkungen der Versammlungsfreiheit in den Schutzbereich des Art. 8 Abs. 1 GG. Der Schutzbereich des Grundrechts ist eröffnet.

Genau, so ist das!

Um die Gefahr einer Aushöhlung des Grundrechts durch staatliche Maßnahmen vor der eigentlichen Versammlung zu bannen, entfaltet Art. 8 Abs. 1 GG seine Wirkung bereits in deren Vorfeld. Geschützt ist der gesamte Vorgang des Sichversammeln, also auch der Zugang und die Anreise zur bevorstehenden Versammlung. Oft ist vielen eine Teilnahme an Demonstrationen - insb. bei mehrtägigen Großdemos - nur dann möglich, wenn sie irgendwo - z.B. in einem Camp - unterkommen können. Dabei ist der räumliche und zeitliche Zusammenhang mit den Demonstrationen entscheidend, damit ein Aufenthaltsort den Schutz der Versammlungsfreiheit genießt (RdNr. 27ff.).

7. Der Eingriff in Art. 8 Abs. 1 GG hätte auch verfassungsrechtlich gerechtfertigt sein müssen.

Ja, in der Tat!

Bei der Auslegung und Anwendung versammlungsbeschränkender Gesetze i.S.d. Art. 8 Abs. 2 GG ist der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit strikt zu beachten. Dieser verlangt, dass Eingriffe in die Versammlungsfreiheit einem legitimen Zweck dienen und zu dessen Erreichung geeignet, erforderlich und angemessen sind. Maßgeblich dafür sind die tatsächliche Gefahrenlage, das Ausmaß der Gewalt vorlaufender Demonstrationen, die Verfügbarkeit anderer, gegenüber Luftaufnahmen gleich aussagekräftiger Informationsquellen und die sich hieraus ergebenden Handlungsoptionen der Polizei.Das BVerwG verwies den Fall zur weiteren Sachverhaltsaufklärung und -würdigung an das Tatsachengericht zurück (RdNr. 49).
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Fragen und Anmerkungen aus der Jurafuchs-Community

PPAA

Philipp Paasch

23.7.2022, 23:50:47

Habt ihr die Entscheidung des Tatgerichts dazu?

Lukas_Mengestu

Lukas_Mengestu

3.8.2022, 15:23:39

Hallo Phillipp, die Entscheidung der Ausgangsinstanz (VG Schwerin, 29. September 2011, 1 A 1180/07) findest Du hier: https://openjur.de/u/343230.html und jetzt auch in den Literaturnachweisen :-) Beste Grüße, Lukas - für das Jurafuchs-Team

Rick-energie🦦

Rick-energie🦦

23.9.2023, 07:18:23

Woraus ergibt sich, dass 12a VersG keine Übersichtsaufnahmen gestattet? Hätte das nämlich nach eigener Auslegung (vom Wortlaut her finde ich es passend und der Telos ist meines Erachtens auch in die Richtung) falsch beantwortet

Johannes -

Johannes -

12.1.2024, 10:32:37

Grds. Geht es, glaube ich, um die Einschüchterungswirkung, dass Personen nicht mehr demonstrieren wollen, wenn sie aufgrund der Nahaufnahmen und Identifizierung mit Folgen rechnen müssen. Mittlerweile gibt es aber, glaube ich, neue Rechtsprechung, die auch bei Übersichtsaufnahmen einen Eingriff annimmt, aufgrund der Hohen Auflösung von heutigen Kameras und der Möglichkeit sehr Nahe heranzuzoomen und Personen dadurch zu identifizieren.

JANAC

JanaC

4.4.2024, 21:41:42

Liebed Jurafuchsteam, mir leuchtet nicht ein, wo und wieso man jetzt eine Verletzung von Art 8 GG prüft? (anstatt EGL Form. Materielle RMK - TB und RF) Soll die Prüfung ein Unterpunkt der materiellen VFM sein?

Merle_Breckwoldt

Merle_Breckwoldt

9.4.2024, 18:17:42

Hallo JanaC, ganz genau! Vorliegend ist die

allgemeine Feststellungsklage

(§ 43 I VwGO) statthaft. Deren einzige Maßgabe in der

Begründetheit

lautet: "Die Klage ist begründet, soweit das behauptete Rechtsverhältnis tatsächlich besteht". Das Rechtsverhältnis ist hier die (von D behauptete) Unzulässigkeit des zur Anfertigung von Luftaufnahmen durchgeführten Überflugs. Und Unzulässigkeit liegt vor, wenn (1) keine

Ermächtigungsgrundlage

gegeben ist, das Handeln (2) formell oder (3)

materiell rechtswidrig

ist: (1) EGL: Polizei- und ordnungsrechtliche Generalklausel (im Fall: § 13 MVSOG a.F.) (2) Formelle RMK (3) Materielle RMK: TB (+), RF/Ermessen: Verletzung von Art. 8 Abs. 1 GG (+/-) Beste Grüße, Merle für das Jurafuchs-Team


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Licht-aus-bei-Dügida-Fall (BVerwG 13.9.2017): examensrelevante Rechtsprechung | Jurafuchs

Als Reaktion auf eine Demonstration der Initiative „Düs­sel­dor­fer gegen die Is­la­mi­sie­rung des Abend­lan­des“ (Dü­gi­da) rief der Düsseldorfer Oberbürgermeister auf der offiziellen Homepage der Stadt dazu auf, die Außenbeleuchtung an Gebäuden auszuschalten, um ein „Zeichen gegen Intoleranz und Rassismus“ zu setzen. Zusätzlich bat er darum, an einer Gegendemonstration teilzunehmen. Der Oberbürgermeister schaltete tatsächlich das Licht an städtischen Gebäuden aus. Das Bundesverwaltungsgericht hatte sich 2017 mit der Frage auseinanderzusetzen, ob das Verhalten des Oberbürgermeisters rechtmäßig war. Im Mittelpunkt stehen Probleme des Staatsorganisationsrechts. Im Kern geht es um die Frage, in welchem Umfang Amtsträger in Ausübung ihres Amtes in öffentlichen politischen Auseinandersetzungen Stellung beziehen dürfen. Nehmen staatliche Amtsträger Einfluss auf die freie Bildung der öffentlichen Meinung, steht dies in Konflikt mit dem Demokratieprinzip (Art. 20 Abs. 1 GG). Denn die Willensbildung des Volkes soll sich frei, offen, unreglementiert und grundsätzlich „staatsfrei“ vollziehen. Die Entscheidung des Bundesverwaltungsgerichts enthält wichtige Weichenstellungen zu den Grenzen zulässiger politischer Kommunikation von kommunalen Amtsträgern, insbesondere zum Sachlichkeitsgebot.

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