Öffentliches Recht

Europarecht

Warenverkehrsfreiheit, Art. 34 AEUV

Verpflichtete der Warenverkehrsfreiheit – Unmittelbare Drittwirkung

Verpflichtete der Warenverkehrsfreiheit – Unmittelbare Drittwirkung

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+++ Sachverhalt (reduziert auf das Wesentliche)

Jurafuchs

D, ein gemeinnütziger, privater Verein deutschen Rechts, erteilt als Einziger bestimmte Zertifizierungen. Verkaufsbedingungen im Bereich der Wasserversorgung setzen die Zertifizierung voraus, sodass faktisch nur zertifizierte Bauprodukte vertrieben werden. D lehnt die Zertifizierung eines italienischen Bauproduktes der Firma F ab.

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Einordnung des Falls

Verpflichtete der Warenverkehrsfreiheit – Unmittelbare Drittwirkung

Die Jurafuchs-Methode schichtet ab: Das sind die 4 wichtigsten Rechtsfragen, die es zu diesem Fall zu verstehen gilt

1. Die Grundfreiheiten verpflichten nur die Mitgliedstaaten. Die Ablehnung der Zertifizierung durch D als privater Verein kann daher keine Beschränkung der Warenverkehrsfreiheit darstellen.

Nein, das trifft nicht zu!

Die Grundfreiheiten verpflichten in erster Linie die Mitgliedstaaten und ihre Institutionen und Körperschaften. Allerdings kann das Handeln Privater den Mitgliedstaaten unter gewissen Voraussetzungen zuzurechnen sein.
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2. Das Handeln des D ist der deutschen Regierung vorliegend zuzurechnen.

Nein!

D ist eine private und gemeinnützige Einrichtung. D wird weder von der deutschen Regierung finanziert, noch bestehen sonstige Möglichkeiten der Einflussnahme durch die Regierung. Das Handeln bzw. Unterlassen von D kann Deutschland als Mitgliedstaat daher nicht zugerechnet werden.

3. Auch ohne Zurechnung kommt unter bestimmten Umständen eine Bindung Privater an die Warenverkehrsfreiheit in Betracht.

Genau, so ist das!

Nach dem EuGH kommt eine unmittelbare Drittwirkung der Warenverkehrsfreiheit dann in Betracht, wenn private Akteure zumindest in tatsächlicher Hinsicht über den Zugang von Waren zum nationalen Markt zu entscheiden. D ist die einzige Einrichtung, die entsprechende Zertifizierungen vergibt. Zwar handelt es sich bei den verwendeten Verkaufsbedingungen um unverbindliche Regelung. Allerdings verfügt D "insbesondere aufgrund ihrer Ermächtigung zur Zertifizierung von Erzeugnissen in Wirklichkeit über die Befugnis, den Zugang von Erzeugnissen [...] zum deutschen Markt zu regeln." (RdNr. 31) Vor diesem Hintergrund ist D daher als Verpflichtungsadressat der Warenverkehrsfreiheit anzusehen.

4. Vor diesem Hintergrund sind Private immer als Adressaten der Warenverkehrsfreiheit verpflichtet.

Nein, das trifft nicht zu!

Grundsätzlich entfaltet die Warenverkehrsfreiheit keine unmittelbare Drittwirkung zwischen Privaten. Der EuGH verpflichtet daher nicht alle Privaten zur Beachtung der Warenverkehrsfreiheit. Vielmehr geht es darum, intermediäre Gewalten in den Kreis der Verpflichteten einzubeziehen. Die Frage, wann Private als intermediäre Gewalten einzustufen sind, hängt dabei entscheidend von der Intensität ihrer Eingriffsmöglichkeiten auf zwischengemeinschaftlichen Warenverkehr ab.
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Fragen und Anmerkungen aus der Jurafuchs-Community

F. Rosenberg 🦅

F. Rosenberg 🦅

7.7.2023, 15:12:00

Manchmal ist hier die Rede von sachlichem/gegenständlichem Schutzbereich, dann wieder von sachlichem/gegenständlichem Anwendungsbereich. Welchen Begriff sollte man eher nutzen - Schutzbereich oder Anwendungsbereich?

SN

Sniter

12.7.2023, 18:01:18

Ich (persönlich) prüfe beides. Im Anwendungsbereich die Frage nach dem vorrangigen Sekundärrecht und dem grenzüberschreitenden Sachverhalt, im Schutzbereich die Definition der Ware. Juracademy spricht von "Schutzbereich". Am Ende des Tages ist es mE aber nicht entscheidend... :)

F. Rosenberg 🦅

F. Rosenberg 🦅

12.7.2023, 21:08:21

Du meinst wohl ,,Anwendbarkeit" statt ,,Anwendungsbereich". :) Anwendungsbereich und Schutzbereich meint das gleiche. Ich frage mich nur, welcher Begriff vorzuziehen ist.

der unerkannt geisteskranke E

der unerkannt geisteskranke E

12.1.2024, 12:20:42

So, wie es mir beigebracht wurde, ist es nicht falsch, Schutzbereich zu schreiben. Es wird aber wohl teils gern gesehen, wenn man stattdessen Anwendungsbereich schreibt, um sich in der Terminologie von der Prüfung von Grundrechten zu unterscheiden.

SN

Sniter

12.7.2023, 18:07:21

Hi, ist das ein Originalfall? Ich habe nämlich gelernt, dass der EuGH die unmittelbare Drittwirkung der WVF nicht bestätigt hat; eher im Gegenteil. Bei anderen Grundfreiheiten hat er eine horizontale Wirkung bejaht (zB Arbeitnehmerfreizügigkeit Entscheidung Bosman). Auch Eure Quelle (Schroer, Grundkurs EuropaR § 14. Grundfreiheiten, Rn 63) besagt, dass der EuGH die WVF nur zu Lasten der MS und der EU anwendet.

Lukas_Mengestu

Lukas_Mengestu

12.7.2023, 18:46:29

Hallo Sniter, vielen Dank für die Nachfrage. Der Fall beruht auf dem Urteil des EuGH Fra.bo SpA/DVGW (https://curia.europa.eu/juris/document/document.jsf?text=&docid=124997&pageIndex=0&doclang=DE&mode=req&dir=&occ=first&part=1). In dieser besonderen Konstellation hat der EuGH tatsächlich erstmals eine direkte Bindung bestimmter Privatpersonen angenommen (vgl. auch M. Pechstein, Entscheidungen des EuGH, 11. A. 2020, RdNr. 146). Schroeder nimmt hierauf nur am Rande in Fußnote 49 Bezug. Ausschlaggebend war hier allerdings vor allem die starke Eingriffsintensität des privaten Vereins, sodass die Entscheidung nur bedingt verallgemeinerungsfähig ist und keinesfalls dahingehend zu verstehen ist, dass der EuGH eine allgemeine horizontale Drittwirkung der Warenverkehrsfreiheit statuiert. Ich hoffe, das hilft Dir weiter :-) Beste Grüße, Lukas - für das Jurafuchs-Team

SN

Sniter

13.7.2023, 15:05:02

Super, danke für die Antwort!

MAT

Matschegenga

11.7.2024, 17:39:44

Das klingt als müsste der EuGH hier Verrenkungen vornehmen, um plötzlich auch eine unmittelbare Bindung von Privaten durch die Warenverkehrsfreiheit annehmen zu können. Könnte er nicht solche Gatekeeper-Konstellationen über das Kartellrecht lösen, statt eine solche Konstruktion zu schaffen?

FW

FW

11.9.2024, 11:33:15

Hi, Ist das denn überhaupt notwendig einen Privaten zur Wahrung der Warenverkehrsfreiheit zu verpflichten? Man könnte doch auch einfach - ähnlich wie beim vorherigen Sitzblockadenfall hinsichtlich der Transitroute - ein Unterlassen des Mitgliedsstaates prüfen. Somit müsste der EuGH den jeweilige Mitgliedsstaat dazu verpflichten, dass dieser wiederum den privaten Verein dazu verpflichtet, die jeweilige Lizenz zu erteilen.

FW

FW

11.9.2024, 11:34:20

*Zertifizierung mein ich natürlich

Sebastian Schmitt

Sebastian Schmitt

24.9.2024, 16:54:09

Hallo @[FW](139488), eine schwierige Frage! Klar ist jedenfalls, dass der EuGH die unmittelbare Bindung Privater an die Warenverkehrsfreiheit (nach wie vor) im Grundsatz ablehnt. Es ist im Schrifttum durchaus verbreitet, die unserem Fall zugrunde liegende Fra.bo-Entscheidung (EuZW 2012, 797) nicht einmal als Ausnahme davon und als unmittelbare Bindung Privater zu sehen (so aber zB Grabitz/Hilf/Nettesheim/Leible/Streinz, Recht der EU, 82. EL Mai 2024,

Art 34 AEUV

Rn 41), sondern funktional als Ausübung von Staatsgewalt (so Calliess/Ruffert/Kingreen, EUV/AEUV, 6. Aufl 2022,

Art 34 AEUV

Rn 114, in diese Richtung auch Schwarze/Becker/Hatje/Schoo, EU-Kommentar, 4. Aufl 2019,

Art 34 AEUV

Rn 89). Begründet wird das mit der besonderen Stellung der Zertifizierungsinstitution auf dem Markt. In der Tat folgte aus einer bundesrechtlichen Verordnung, dass bei Produkten mit entsprechender Zertifizierung vermutet wurde, dass sie den anerkannten Regeln der Technik entsprachen. Weil es nach den gerichtlichen Feststellungen keine andere Möglichkeit gab, an diese Zertifizierung zu kommen, entscheide die nicht-staatliche Zertifizierungsstelle damit über den Marktzugang für ausländische Produkte - und zwar durch staatliche "Absolution" in Form der Rechtsverordnung. Das allein beantwortet allerdings noch nicht Deine Frage, warum der EuGH nicht einfach von einer Bindung der Bundesrepublik ausgegangen ist, die dann wiederum auf die Zertifizierungsstelle hätte Einfluss nehmen müssen. Inhaltlich sagt der EuGH dazu leider wenig Wesentliches. Ein Grund mag aber gewesen sein, dass das italienische Unternehmen, das die Zertifizierung anstrebte, aus mir nicht bekannten Gründen die deutsche Zertifizierungsstelle verklagt hat - und eben nicht die Bundesrepublik. Das zweitinstanzlich zuständige OLG Düsseldorf hat sich dann im Wege des Vorabentscheidungsverfahrens an den EuGH gewandt. Im zivilrechtlichen Verfahren hätte eine bloße Bindung der Bundesrepublik aber wohl nicht dazu geführt, dass das italienische Unternehmen den Rechtsstreit gewinnt. Letzendlich muss man aber leider sagen, dass die Frage der Bindung Privater und die Abgrenzung zur Verantwortlichkeit der Mitgliedstaaten für das Handeln Privater leider noch nicht abschließend vom EuGH geklärt ist (so auch Grabitz/Hilf/Nettesheim/Leible/Streinz, Recht der EU, 82. EL Mai 2024,

Art 34 AEUV

Rn 38). Viele Grüße, Sebastian - für das Jurafuchs-Team


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