Zivilrecht

Examensrelevante Rechtsprechung ZR

Entscheidungen von 2021

Haftungsmaßstab für unterlassene Hilfeleistung beim Tischtennis-Training

Haftungsmaßstab für unterlassene Hilfeleistung beim Tischtennis-Training

27. Dezember 2024

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+++ Sachverhalt (reduziert auf das Wesentliche)

Jurafuchs

Der 15-jährige K besucht ein vom TT e.V. veranstaltetes Tischtennistraining, zu dem der TT e.V. den K über dessen Tischtennisclub eingeladen hatte. Beim Training kollabiert K und läuft blau an. Der vom TT e.V. engagierte Trainer T ruft erst nach 20 Minuten den Notarzt. K trägt deshalb bleibende Schäden davon.

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Einordnung des Falls

Haftungsmaßstab für unterlassene Hilfeleistung beim Tischtennis-Training

Dieser Fall lief bereits im 1./2. Juristischen Staatsexamen in folgenden Kampagnen
Examenstreffer Niedersachsen 2022

Die Jurafuchs-Methode schichtet ab: Das sind die 11 wichtigsten Rechtsfragen, die es zu diesem Fall zu verstehen gilt

1. K verlangt Schadensersatz und Schmerzensgeld. Am günstigen ist es für ihn, wenn er vertragliche Ansprüche hat.

Ja, in der Tat!

Vertragliche Ansprüche sind für einen Geschädigten in aller Regel vorteilhafter als deliktische Ansprüche: (1) Gemäß § 280 Abs. 1 S. 2 BGB muss nicht der Geschädigte das Vertretenmüssen des Schädigers beweisen, sondern dem Schädiger obliegt der Entlastungsbeweis. (2) §§ 280ff. BGB gewähren einen umfassenden Vermögensschutz, während § 823 Abs. 1 BGB das Vermögen nur im Hinblick auf bestimmte Rechtsgüter schützt. (3) § 278 S. 1 BGB ermöglicht die Zurechnung von Drittverschulden, während das Deliktsrecht nur die Haftung für eigenes Verschulden kennt. Auch § 831 BGB ist keine Zurechnungsnorm, sondern knüpft an Eigenverschulden des Geschäftsherrn an.Über den Wortlaut des § 278 BGB hinaus, wird nicht nur Verschulden, sondern auch die Pflichtverletzung zugerechnet.
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2. K hat einen vertraglichen Schadensersatzanspruch gegen den TT e.V., wenn die Voraussetzungen des § 280 Abs. 1 BGB erfüllt sind.

Ja!

Die Voraussetzungen des § 280 Abs. 1 BGB sind: (1) Bestehen eines Schuldverhältnisses, (2) Verletzung einer Pflicht aus dem Schuldverhältnis, (3) Vertretenmüssen und (4) Eintritt eines auf der Pflichtverletzung kausal beruhenden Schadens.

3. Da der TT e.V. den K nur indirekt über dessen Tischtennisclub eingeladen hat, scheidet ein vertragliches Schuldverhältnis zwischen dem TT e.V. und K aus.

Nein, das ist nicht der Fall!

Ein Vertrag kommt durch zwei korrespondierende Willenserklärungen zustande. Eine Willenserklärung kann auch in schlüssigem Verhalten liegen, wenn ein objektiver Empfänger das Verhalten als Willenserklärung deuten würde (RdNr. 18). BGH: Die Durchführung eines Trainings mit eigens dafür engagierten Trainern erfordere umfangreiche organisatorische Maßnahmen und verursache Kosten. Im Gegenzug müsse K sich „wohlverhalten“ und dürfe das Training nicht stören. Fehler bei der Durchführung seien für K mit Risiken verbunden. Folglich hätten sich der TT e.V. und K rechtlich binden wollen und deshalb zumindest durch schlüssiges Verhalten einen Trainingsvertrag sui generis geschlossen (RdNr. 16ff.).

4. Der TT e.V. war kraft des Trainingsvertrages verpflichtet, K schnellstmöglich Notfallhilfe zukommen zu lassen.

Ja, in der Tat!

Gemäß § 241 Abs. 2 BGB kann ein Schuldverhältnis jeden Teil zur Rücksicht auf die Rechte, Rechtsgüter und Interessen des anderen Teils verpflichten. Umfang und Inhalt dieser Schutzpflichten sind einzelfallbezogen anhand des Vertragszwecks und mit Rücksicht auf die Verkehrssitte zu ermitteln. Sie müssen für den Schuldner zumutbar sein (RdNr. 24). BGH: Im Rahmen des Trainings habe der TT e.V. die organisatorische Gestaltungsmacht und deshalb gerade gegenüber Minderjährigen Maßnahmen im Hinblick auf mögliche Verletzungen zu treffen (RdNr. 26). Dazu gehöre es, Trainingsteilnehmern den Zugang zu Maßnahmen der Ersten Hilfe zu gewährleisten.

5. Der TT e.V. hat seine Pflicht, Erste Hilfe für K zu gewährleisten, verletzt und die Pflichtverletzung auch zu vertreten.

Ja!

Das Vertretenmüssen wird gemäß § 280 Abs. 1 S. 2 BGB gesetzlich vermutet, solange sich der Schuldner nicht exkulpieren kann. Er muss sich dabei gemäß § 278 S. 1 BGB auch das Verschulden seiner Erfüllungsgehilfen zurechnen lassen. Der TT e.V. hat K nicht schnellstmöglich Erste Hilfe zukommen lassen und so seine Schutzpflichten aus § 241 Abs. 2 BGB verletzt. Dass sich T als Erfüllungsgehilfe des TT e.V. exkulpieren kann, ist nicht ersichtlich. Der TT e.V. hat die Pflichtverletzung also auch zu vertreten. Im Originalfall stand die Dauer der Verzögerung noch nicht fest. Je nach Sachverhalt kann man hier in einer Klausur auch zu einem anderen Ergebnis gelangen!

6. K hat gegen den TT e.V. einen Schadensersatzanspruch aus §§ 280 Abs. 1, 241 Abs. 2 BGB.

Genau, so ist das!

Der TT e.V. hat seine gemäß § 241 Abs. 2 BGB bestehenden Schutzpflichten aus dem Trainingsvertrag mit K verletzt. Dabei muss er sich das Verschulden des T gemäß § 278 S. 1 BGB zurechnen lassen, sodass er die Pflichtverletzung auch zu vertreten hat. K kann deshalb seine materiellen und immateriellen (§ 253 Abs. 2 BGB) Schäden ersetzt verlangen. In einer realen Klausur werden die Pflichtverletzung und das Verschulden des Trainers nicht so eindeutig feststehen wie hier. Dann gilt es, anhand der verfügbaren Informationen zu ermitteln, ob auch ein Tischtennistrainer erkennen musste, dass ein sofortiger Notruf notwendig war.

7. K hat auch gegen T einen vertraglichen Schadensersatzanspruch gemäß § 280 Abs. 1 BGB.

Nein, das trifft nicht zu!

T ist nur Erfüllungsgehilfe des TT e.V. und nicht Vertragspartner des K. Gegenüber T hat K deshalb keine vertraglichen Schadensersatzansprüche.

8. In Betracht kommt aber ein Schadensersatzanspruch aus § 823 Abs. 1 BGB. T hat die Gesundheit des K verletzt.

Ja!

Da T als Leiter des Tischtennistrainings die Obhut des K tatsächlich übernommen hat, gelten für ihn im Deliktsrecht weitgehend dieselben Sorgfaltspflichten wie für den TT e.V. aus dem Vertragsverhältnis mit K (vgl. RdNr. 37). T hat deshalb gemäß § 823 Abs. 1 BGB die Gesundheit des K verletzt.

9. Hinsichtlich des Verschuldens gilt für T aber das Haftungsprivileg des § 680 BGB. Er müsste also grob fahrlässig gehandelt haben.

Nein, das ist nicht der Fall!

§ 680 BGB ist das Haftungsprivileg des Geschäftsführers, wenn eine Geschäftsführung ohne Auftrag vorliegt. Diese erfordert, dass der Geschäftsführer (1) ohne Auftrag (2) ein fremdes Geschäft (des Geschäftsherrn) (3) mit Fremdgeschäftsführungswillen besorgt. BGH: T wolle als Erfüllungsgehilfe des TT e.V. nur für diesen tätig werden und gleichzeitig seine eigenen Pflichten gegenüber dem TT e.V. erfüllen (z. B. aus einem Anstellungsvertrag). Ihm fehle deshalb der Fremdgeschäftsführungswille, sodass keine Geschäftsführung ohne Auftrag vorliege (RdNr. 39).

10. § 680 BGB ist aber analog auf den deliktischen Verschuldensmaßstab des T anwendbar.

Nein, das trifft nicht zu!

Die Rechtsanalogie erfordert (1) eine planwidrige Regelungslücke und (2) eine vergleichbare Interessenlage. BGH: Nach seinem Sinn und Zweck solle § 680 BGB potentielle Geschäftsführer in Augenblicken dringender Gefahr zur spontanen Hilfeleistung ermutigen. Allerdings sei T ohnehin von vornherein schon gegenüber dem TT e.V. dazu verpflichtet, Trainingsteilnehmern Erste Hilfe zukommen zu lassen. Er bedürfe folglich nicht des zusätzlichen Anreizes des § 680 BGB, sodass keine vergleichbare Interessenlage vorliege.

11. K kann auch von T Schadensersatz verlangen.

Ja!

T hat, obwohl K schon blau anlief, erst nach 20 Minuten den Notarzt gerufen, sodass ihm wenigstens leichte Fahrlässigkeit zur Last fällt (§ 276 Abs. 2 BGB). Die übrigen Voraussetzungen des § 823 Abs. 1 BGB liegen vor, sodass K auch von T Ersatz seiner materiellen und immateriellen (§ 253 Abs. 2 BGB) Schäden verlangen kann. Auch hier gilt, dass es in einer Klausur wohl einer vertieften Auseinandersetzung mit den dortigen Sachverhaltsinformationen bedarf, um das Verschulden des T auch tatsächlich bejahen zu können.
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Fragen und Anmerkungen aus der Jurafuchs-Community

DEPA

Der Paragraf

26.11.2021, 12:52:32

Liebes Team, man könnte noch präzisieren, dass über den Wortlaut des § 278 S. 1 BGB dem Verein hier nicht nur das Verschulden des T, sondern auch schon die Pflichtverletzung zuzurechnen ist, da „Verschulden“ insofern nicht im technischen Sinne zu verstehen ist. LG

DEPA

Der Paragraf

26.11.2021, 12:54:14

* hinaus

Lukas_Mengestu

Lukas_Mengestu

26.11.2021, 13:44:04

Danke Paragraf, das haben wir mit aufgenommen :)

DAAZ

Daaz

16.12.2021, 19:46:53

Kann K

ggü

T einen Schadenersatzanspruch aus 280 I, 241 II BGB iVm Grundsätzen des Vertrags mit Schutzwirkung zugunsten Dritter geltend machen? Zwischen T und e.V kann ja ein SV angenommen werden, in das K eingezogen wird oder? Danke im Voraus

Lukas_Mengestu

Lukas_Mengestu

17.12.2021, 08:52:39

Hallo Daaz, vielen Dank für die Frage :-) Die Voraussetzungen für die Anwendung des Vertrages für Schutzwirkung Dritter sind: (1)

LEistungsnähe

, (2)

Gläubigernähe

, (3)Erkennbarkeit und (4) Schutzbedürftigkeit (Merkhilfe: LEGES). Die Schutzbedürftigkeit besteht indes nur, wenn keine anderen gleichwertigen vertraglichen Ansprüche bestehen. Jedenfalls diese Voraussetzung fehlt hier, da K ja gegen den TT e.V. einen vertraglichen Anspruch hat. Deswegen ist der

Vertrag mit Schutzwirkung zugunsten Dritter

hier nicht anwendbar. Beste Grüße, Lukas - für das Jurafuchs-Team

JDHD

Jdhdheue

16.5.2023, 10:02:25

Der Fall lief übrigens im Oktober 2022 in Niedersachsen. :)

Lukas_Mengestu

Lukas_Mengestu

16.5.2023, 10:51:06

Super, lieben Dank für den Hinweis! Beste Grüße, Lukas- für das Jurafuchs-Team

DAV

David.

31.8.2023, 20:53:40

T müsste doch eigentlich auch

Verrichtungsgehilfe

sein oder? Dann müsste § 831 ja auch zumindest angeprüft werden


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