Öffentliches Recht

Verwaltungsrecht AT

Ermessen und Verhältnismäßigkeit

Missachtung Ermessensreduzierung auf Null (Fall 2)

Missachtung Ermessensreduzierung auf Null (Fall 2)

22. November 2024

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leichtmittelschwer

+++ Sachverhalt (reduziert auf das Wesentliche)

Jurafuchs
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Klassisches Klausurproblem

Trotz intensiver Bemühungen konnte F, die kein Obdach hat, keine Unterkunft für den Winter finden. Die städtischen Notunterkünfte in Berlin sind überfüllt. F wendet sich an die zuständige Polizeibehörde P und verlangt eine Einweisung in eine leerstehende Privatwohnung. P prüft Fs Anliegen und weist es zurück.

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Einordnung des Falls

Missachtung Ermessensreduzierung auf Null (Fall 2)

Die Jurafuchs-Methode schichtet ab: Das sind die 4 wichtigsten Rechtsfragen, die es zu diesem Fall zu verstehen gilt

1. Zunächst bedarf es einer Anspruchsgrundlage für Fs Begehren. Kommt hier die allgemeine polizeiliche Befugnisklausel in Betracht (§ 17 ASOG)?

Ja!

Begehrt der Bürger ein Tätigwerden der Behörde, so bedarf es einer entsprechenden Anspruchsgrundlage. Mangels speziellerer Normen kommt hier nur die polizeirechtliche Generalklausel in Betracht. Da F ein Handeln der Polizeibehörde in Berlin verlangt ist § 17 Abs. 1 ASOG einschlägig. In der Klausur müsstest Du noch feststellen, dass § 17 Abs. 1 ASOG nicht nur das Allgemeininteresse, sondern auch das Individualinteresse schützen soll und damit ein subjektives Recht verleiht. Schaue Dir dazu auch diesen Fall aus der Rechtsprechung an. Die nachfolgenden Ausführungen gelten entsprechend für die anderen Bundesländer. Du musst lediglich die Generalklausel aus Deinem Bundesland als Anspruchsgrundlage nennen.
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2. Angenommen, der Tatbestand von § 17 Abs. 1 ASOG ist vorliegend erfüllt. Hat P auf Rechtsfolgenseite von ihrem Ermessen Gebrauch gemacht?

Genau, so ist das!

Liegt der Tatbestand einer Norm vor, so muss die Behörde die richtige Rechtsfolge wählen. Sieht die Norm auf Rechtsfolgenseite Ermessen vor, muss die Behörde ihr Ermessen fehlerfrei ausüben (vgl. § 40 VwVfG). Ermessensentscheidungen sind rechtswidrig, wenn diese ermessensfehlerhaft ergangen sind. Ermessensfehler können in Form von (1) Ermessensüberschreitung, (2) Ermessensnichtgebrauch, (3) Ermessensfehlgebrauch, (4) der Verstoß gegen Grundrechte und allgemeine Verwaltungsgrundsätze sowie (5) der Missachtung einer Ermessensreduzierung auf Null auftreten. Ein Ermessensnichtgebrauch liegt vor, wenn die Behörde keinerlei Ermessenserwägungen anstellt. Hier bestehen keine Anhaltspunkte dafür, dass P keinerlei Erwägungen angestellt hat. Vielmehr hat P Fs Anliegen geprüft. Wenn die Klausur keine gezielten Hinweise dazu enthält, dass die Behörde ihr Ermessen nicht erkannt und nicht ausgeübt hat, dann kommt ein Ermessensnichtgebrauch nicht in Betracht.

3. In Betracht kommt allerdings eine Missachtung der Ermessensreduzierung auf Null.

Ja, in der Tat!

Mit der Ermessensreduzierung auf Null ist gemeint, dass es in bestimmten Konstellationen keine echte Wahlmöglichkeit der Behörde mehr gibt, auch wenn ihr grundsätzlich ein Ermessen zusteht. Missachtet die Behörde das Vorliegen einer Ermessensreduzierung auf Null, handelt sie ermessensfehlerhaft und damit rechtswidrig. Insbesondere (gewichtige) Grundrechte können im konkreten Einzelfall zu einer Ermessensreduzierung auf Null führen. Ein Verstoß gegen eine Ermessensreduzierung auf Null läge hier vor, wenn die Behörde aufgrund gewichtiger Grundrechte der F nur noch rechtmäßig handeln könnte, indem sie Fs Antrag auf Einweisung in einer Privatwohnung stattgäbe.

4. F droht ohne Obdach in der Kälte zu erfrieren. Ergibt sich eine Ermessensreduzierung auf Null aus Art. 2 Abs. 2 S. 1 GG?

Ja!

Insbesondere (gewichtige) Grundrechte können im konkreten Einzelfall zu einer Ermessensreduzierung auf Null führen. Zu nennen ist insbesondere das Recht auf Leben und körperliche Unversehrtheit (Art. 2 Abs. 2 S. 1 GG), der Gleichheitssatz (Art. 3 Abs. 1 GG), die Meinungsfreiheit (Art. 5 Abs. 1 S. 1 GG), die Kunstfreiheit (Art. 5 Abs. 3 GG) und die Versammlungsfreiheit (Art. 8 Abs. 1 GG). Es bestehen wegen der winterlichen Temperaturen ernsthafte Gefahren für Fs Gesundheit und Leben. Das Ermessen der P ist wegen des notwendigen Schutzes von Fs Rechten aus Art. 2 Abs. 2 S. 1 GG auf Null reduziert. Sie handelt nur ermessensfehlerfrei, wenn sie tätig wird. Das Entschließungsermessen der P ist damit auf Null reduziert. Die durch die Polizei zu treffenden Einweisungsverfügung wäre zugleich mit dem Erlass einer Duldungsverfügung gegenüber dem Eigentümer der Privatwohnung verbunden. Das hier betroffene Eigentumsrecht aus Art. 14 Abs. 1 GG wird in solchen Notfällen i.d.R. zurücktreten müssen.
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Fragen und Anmerkungen aus der Jurafuchs-Community

SvzW

SvzW

24.9.2023, 22:28:27

Das Interesse von S ist hier doch aber garnicht von den Ausnahmen nach § 3 Abs. 2 BtMG umfasst, oder liegt die Schmerzreduzierung der S hier im öffentlichen Interesse? Oder habe ich etwas übersehen?

SE.

se.si.sc

25.9.2023, 09:10:33

Dein Grundgedanke ist völlig richtig: Partikularinteressen eines Einzelnen sind eben nicht öffentliches Interesse und damit auf den ersten Blick nicht von § 3 II BtMG erfasst. Nun hat allerdings das BVerwG zu § 3 II BtMG entschieden, dass das öffentliche Interesse ausnahmsweise auch dann vorliegen soll, wenn es um die Therapie eines einzelnen Schwerkranken geht, dem das BtM Linderung verschaffen kann und für den kein anderer gleich wirksamer Therapieansatz zur Verfügung steht (Urt v 6.4.2016 - 3 C 10/14). In diesem Zusammenhang sei dann auch eine Ausnahmeerlaubnis für den Eigenanbau zu erteilen, weil das Ermessen der

Behörde

dadurch auf Null reduziert sei, dass das Grundrecht des Einzelnen aus Art. 2 II 1 GG im Zusammenspiel mit Art. 1 GG bei schweren Leiden das Interesse der Allgemeinheit am Verbot überwiegt. Das BVerwG begründet das in seiner Entscheidung damit, dass die Effektivität der medizinischen Versorgung der Bevölkerung (zweifellos ein öffentliches Interesse) sich eben nicht "abstrakt" verwirkliche, sondern anhand von konkreten Fällen, anhand der Therapie einzelner Patienten. Außerdem klage zwar häufig nur eine Person, die gleiche Frage stelle sich aber immer auch bei ähnlich gelagerten Fällen, einer Vielzahl von Fällen, in denen (bisher) nicht geklagt worden sei. Ob man das inhaltlich angesichts des eindeutigen Gesetzeswortlauts für nachvollziehbar hält, muss jeder selbst entscheiden. ME muss man das zumindest vorher mal gehört haben, sonst leuchtet nur bedingt ein, warum die Behandlung eines Einzelnen im öffentlichen Interesse liegen soll.

SvzW

SvzW

25.9.2023, 09:22:28

Dankeschön, jetzt leuchtet es mir auch ein.

kaan00

kaan00

16.2.2024, 14:09:03

Liegt hier wirklich keine

Ermessensreduzierung auf Null

vor? Es wäre doch auf möglich medizinisches Cannabis auf Rezept von der Apotheke zu erhalten. Gründe hierfür könnten bspw. die Gefahr des illegalen Weiterverkaufs bei Eigenanbau sein. Spricht man dann dennoch von einer

Ermessensreduzierung auf Null

? =)

Blan

Blan

26.3.2024, 13:45:32

Naja, der Sachverhalt sagt ja eindeutig, dass es keine andere Alternative gibt. Deine Gedanken sind durchaus richtig, aber passen nicht zum SV :)

Jakob

Jakob

16.4.2024, 20:55:08

Vielleicht sollte der Fall aufgrund des neuen CanG abgeändert werden. LG Jakob

Artur Schönhals

Artur Schönhals

5.7.2024, 18:20:01

Nicht vielleicht, er sollte auf jeden Fall abgeändert werden. Richtiger Streakkiller

Linne_Karlotta_

Linne_Karlotta_

22.8.2024, 11:43:42

Hallo in die Runde, danke für die Hinweise! Ich habe nun einen anderen Sachverhalt gewählt, um Eure Streaks zu schonen ;) Viele Grüße - Linne, für das Jurafuchs-Team


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