§ 48 Abs. 1 VwVfG

24. Januar 2025

6 Kommentare

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leichtmittelschwer

+++ Sachverhalt (reduziert auf das Wesentliche)

Jurafuchs

Behörde B erlässt einen Gebührenbescheid gegenüber L über 100 Euro. Als der Bescheid bereits bestandskräftig ist, weigert sich L, die 100 Euro zu zahlen, weil die gesetzlich vorgesehene Gebühr nur 50 Euro beträgt. L meint, B müsse den Bescheid zurücknehmen.

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Einordnung des Falls

§ 48 Abs. 1 VwVfG

Die Jurafuchs-Methode schichtet ab: Das sind die 4 wichtigsten Rechtsfragen, die es zu diesem Fall zu verstehen gilt

1. Weil der Bescheid bestandskräftig geworden ist, ist er auch rechtmäßig.

Nein!

Ob ein Verwaltungsakt rechtmäßig ist, ist zu unterscheiden von der Frage, ob dieser bestandskräftig (= unanfechtbar) geworden ist. Ein rechtswidriger Verwaltungsakt wird nicht dadurch rechtmäßig, dass er bestandskräftig wird. Vielmehr ist dieser Verwaltungsakt dann trotz Rechtswidrigkeit nicht mehr anfechtbar. Denn ein Verwaltungsakt wird bestandskräftig, wenn er nicht fristgemäß (vgl. §§ 70, 74 VwVGO) oder erfolglos angefochten wurde. Nichtige Verwaltungsakte hingegen können nicht bestandskräftig werden, da sie von Anfang an unwirksam sind. Der Gebührenbescheid könnte trotz seiner Bestandskraft rechtswidrig sein.
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2. Die Bestandskraft hindert die Behörde daran, den Verwaltungsakt aufzuheben.

Nein, das ist nicht der Fall!

Die Behörde kann grundsätzlich auch einen unanfechtbar gewordenen Verwaltungsakt aufheben, wodurch dieser dann keine Wirkung mehr entfaltet. Die Aufhebung von Verwaltungsakten richtet sich nach den §§ 48ff. VwVfG. Wird ein rechtmäßiger Verwaltungsakt aufgehoben, liegt ein Widerruf vor (§ 49 VwVfG). Die Aufhebung eines rechtswidrigen Verwaltungsakt heißt Rücknahme (§ 48 VwVfG). B könnte den Gebührenbescheid grundsätzlich trotz der Bestandskraft zurücknehmen.

3. Der Gebührenbescheid ist rechtswidrig.

Ja, in der Tat!

Die Rechtswidrigkeit eines Verwaltungsakts kann sich daraus ergeben, dass (1) keine Ermächtigungsgrundlage bestand, (2) der Verwaltungsakt formell rechtswidrig und/oder (3) materiell rechtswidrig ergangen ist. Materielle Rechtswidrigkeit liegt vor, wenn der Tatbestand der Ermächtigungsgrundlage nicht erfüllt ist, die falsche Rechtsfolge gewählt wurde oder der Verwaltungsakt gegen höherrangiges Recht verstößt. Die Ermächtigungsgrundlage sieht hier nur eine Gebühr von 50 Euro vor. Die gewählte Rechtsfolge - Festsetzung einer Gebühr von 100 Euro - ist damit nur teilweise von der Ermächtigungsgrundlage gedeckt. Der Verwaltungsakt ist (materiell) rechtswidrig.

4. Gemäß § 48 Abs. 1 VwVfG muss die Behörde einen rechtswidrigen Verwaltungsakt zwingend zurücknehmen.

Nein!

Die Rücknahme von rechtswidrigen Verwaltungsakten richtet sich nach § 48 VwVfG. Gemäß § 48 Abs. 1 S. 1 VwVfG kann die Verwaltung einen rechtswidrigen Verwaltungsakt zurücknehmen. Durch diese Formulierung wird deutlich, dass die Verwaltung nicht jeden rechtswidrigen Verwaltungsakt zurücknehmen muss. Wäre dies der Fall, so liefen die gesetzlichen Klagefristen in vielen Fällen ins Leere. Im Sinne der Rechtssicherheit muss es der Verwaltung möglich sein, in Einzelfällen von der Rücknahme des Verwaltungsakts abzusehen. B ist nicht verpflichtet, den Gebührenbescheid zurückzunehmen. Sie muss lediglich eine ermessensfehlerfreie Entscheidung treffen. In der Praxis wird die Verwaltung aber wohl in der Regel rechtswidrige Verwaltungsakte aufheben, sofern kein besonderer Grund dafür besteht, dies nicht zu tun.
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Fragen und Anmerkungen aus der Jurafuchs-Community

Sassun

Sassun

15.11.2024, 17:24:18

Weshalb ist bei § 49 II und III (L)VwVfG eig. ein

intendiertes Ermessen

anerkannt und bei § 48 (L)VwVfG nicht?

LELEE

Leo Lee

24.11.2024, 09:55:17

Hallo Sassun, vielen Dank für die sehr gute und wichtige Frage! Der Grund hinter der Verneinung des intendierten Ermessens bei 48 ist der folgende: Bei

48 VwVfG

ist die

Rechtswidrig

keit eines VAs bereits ein TBM. D.h., wenn der VA

rechtswidrig

ist, ist erstmal mit der Subsumtion auf TB-Ebene "Schluss". Die

Rechtswidrig

keit kann also auf der RF-Seite das Ermessen nicht weiter beeinflussen. Denn bei 48 kann auch mit Wirkung für die VERGANGENHEIT zurückgenommen werden (im Ggs. zu 49 nur für die Zukunft), was einen umso härteren Einschnitt für den Betroffenen bedeutet. Hierzu kann ich i.Ü. die Lektüre vom BeckOK VwVfG, J. Müller § 48 Rn. 40 f. sehr empfehlen :)! Liebe Grüße – für das Jurafuchsteam – Leo

Sassun

Sassun

27.11.2024, 15:45:29

Super, vielen Dank!

Kathi

Kathi

16.1.2025, 13:01:48

Hi, sollte L im vorliegenden Fall noch Klage erheben wollen, wäre dann die Feststellungsklage die

statthafte Klageart

, da die Anfechtungsklage bereits verfristet wäre?

LOU

louisaamaria

16.1.2025, 17:46:15

Ich hätte es über den § 51 VwVfG und die

Verpflichtungsklage

gelöst (str.) : L hat selber zu verantworten, dass der Bescheid bestandskräftig wurde, bis dahin hätte sie ohne weiteres Anfechtungsklage erheben können. Aus Gründen des Rechtsfriedens und der Rechtssicherheit sind bestandskräftige VA, Urteile etc nur in Ausnahmefällen erneut angreifbar. Sie müsste also (wohl hM)

Verpflichtungsklage

auf Neubescheidung über § 51 VwVfG erheben. Liegt kein Wiederaufnahmegrund nach § 51 I VwVfG vor (=Wiederaufgreifen im engeren Sinne), dann bleiben die § 48 I 1 und des § 49 I gem. § 51 V VwVfG unberührt (= Wiederaufgreifen im weiteren Sinne). Die Behörde kann also über eine Rücknahme/Widerruf neu bescheiden, muss aber nicht. Ich bin mir aber auch nicht 100%ig sicher. Vielleicht kann @[Sebastian Schmitt](263562) etwas dazu sagen:)

LELEE

Leo Lee

17.1.2025, 09:42:03

Hallo Kathi, vielen Dank für die sehr gute und wichtige Frage! Ergänzend zu louisaamarias sehr guter Anmerkung: In der Tat könnte man sich überlegen, ob L noch eine Feststellungsklage anstrengen könnte. Allerdings gibt es ein paar Hürden, die überwunden werden mussten. Zum einen stellt sich die Frage, ob die FK in diesem Fall nicht subsidiär sein könnte, um das, was mit der AK nicht möglich ist, nicht zu umgehen. Weiterhin dürfte eine allg. FK dem Begehren des L nicht wirklich entsprechen, da die FK keine

Gestaltungsklage

ist, im Wege derer etwa die Rücknahme eines VAs bewirkt werden kann. Hierzu kann ich i.Ü. die Lektüre vom Schoch/Schneider VwGO, Marsch § 43 Rn. 1 ff. sehr empfehlen :)! Liebe Grüße – für das Jurafuchsteam – Leo


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