Öffentliches Recht

Grundrechte

Versammlungsfreiheit (Art. 8 Abs. 1 GG)

Corona: Milderes Mittel als Versammlungsverbot

Corona: Milderes Mittel als Versammlungsverbot

22. November 2024

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leichtmittelschwer

+++ Sachverhalt (reduziert auf das Wesentliche)

Jurafuchs

A meldet am 10.04.2020 eine Versammlung von 50 Personen gegen Corona-Beschränkungen für den 18.04.2020 an. Nach der BWCoronaVO sind Versammlungen verboten, die Erteilung einer Ausnahme vom Verbot steht im Ermessen der Behörde. Die Behörde verweist A pauschal auf das Verbot.

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Einordnung des Falls

Corona: Milderes Mittel als Versammlungsverbot

Die Jurafuchs-Methode schichtet ab: Das sind die 6 wichtigsten Rechtsfragen, die es zu diesem Fall zu verstehen gilt

1. Die von A geplante Versammlung ist vom Schutzbereich der Versammlungsfreiheit (Art. 8 Abs. 1 GG) erfasst.

Ja, in der Tat!

Art. 8 Abs. 1 GG schützt die Freiheit, mit anderen Personen zum Zwecke einer gemeinschaftlichen, auf die Teilhabe an der öffentlichen Meinungsbildung gerichteten Erörterung oder Kundgebung örtlich zusammenzukommen. Durch die geplante Versammlung des A sollten bestimmte Überzeugungen und Standpunkte über die Corona-Pandemie nach außen kundgemacht werden. Damit ist der Schutzbereich der Versammlungsfreiheit (Art. 8 Abs. 1 GG) eröffnet.
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2. Die Nichterteilung bzw. Versagung einer Ausnahme vom in der VO vorgesehenen Versammlungsverbot stellt einen Eingriff in die Versammlungsfreiheit dar.

Ja!

Beschränkungen der Versammlungsfreiheit sind stets im Lichte der grundlegenden Bedeutung auszulegen, die die Versammlungsfreiheit für das demokratische Gemeinwesen innehat. Eingriffe in Art. 8 Abs. 1 GG sind daher nur zum Schutz gleichgewichtiger anderer Rechtsgüter unter strikter Wahrung der Verhältnismäßigkeit zulässig. Die Nichterteilung bzw. Versagung der Ausnahme vom Versammlungsverbot der VO stellt einen eigenständigen Eingriff dar, weil damit eine endgültige Verwaltungsentscheidung über die Ausnahmemöglichkeit einhergeht.

3. Die verwaltungsgerichtliche Versagung einer Ausnahme ist bereits deshalb ungerechtfertigt, weil die BWCoronaVO die Ausübung der Versammlungsfreiheit einem Verbot mit Erlaubnisvorbehalt unterwirft.

Nein, das ist nicht der Fall!

Es ist problematisch, dass die Rechtsgrundlage in der BWCoronaVO die Ausübung der Versammlungsfreiheit einem Verbot mit Erlaubnisvorbehalt unterwirft, denn Art. 8 Abs. 1 GG bestimmt ausdrücklich: Alle Deutschen haben das Recht, sich ohne Anmeldung oder Erlaubnis zu versammeln. Mit Blick auf den dadurch möglichen effektiven Schutz gleichwertiger Rechtsgüter (hier Leben und Gesundheit) dürfte dies gleichwohl - zumindest vorübergehend - zulässig sein. Das BVerfG hat die Frage im Eilverfahren (§ 32 BVerfGG) offen gelassen und die Klärung dieser schwierigen Rechtsfrage dem Hauptverfahren vorbehalten (RdNr. 23).

4. Bei der Ausübung ihres Ermessens in Bezug auf die Erteilung oder Versagung einer Ausnahme muss die Behörde der Versammlungsfreiheit des A hinreichend Rechnung tragen.

Ja, in der Tat!

Dem Grundrecht der Versammlungsfreiheit muss im Rahmen der Ermessensausübung hinreichend Rechnung getragen werden. BVerfG: Dies erfordere v.a. eine hinreichende Berücksichtigung der Einzelfallumstände (Teilnehmerzahl, Ort, Schutzmaßnahmen usw.). Pauschale Erwägungen, die jeder Versammlung entgegengehalten werden könnten, werden diesen Anforderungen nicht gerecht (RdNr. 23).

5. Der pauschale Hinweis auf das Versammlungsverbot stellt eine fehlerhafte Ermessensausübung seitens der Behörde dar, da die Versammlungsfreiheit des A nicht hinreichend berücksichtigt wurde.

Ja!

BVerfG: Die in der VO vorgesehene Möglichkeit der Ausnahmeerlaubnis liefe weitgehend leer, wenn der Behörde erlaubt wäre, die Verhinderung der weiteren Ausbreitung des Corona-Virus pauschal als Begründung für die Nichtzulassung einer Versammlung anzuführen. Vor der Beschränkung der Versammlungsfreiheit müsse sich die Behörde um eine kooperative Lösung bemühen, z.B. indem über die Durchführung der Versammlung unter bestimmten Auflagen diskutiert wird. Hier habe die Behörde jedoch keine Überlegungen angestellt, um das Infektionsrisiko auf ein in Abwägung mit Art. 8 GG vertretbares Maß zu reduzieren (RdNr. 24ff.).

6. Ein starker Anstieg der Corona-Infektionszahlen befreit die Versammlungsbehörde von der Pflicht zur vollständigen Ermessensausübung.

Nein, das ist nicht der Fall!

BVerfG: Auch der starke Anstieg der Infektionszahlen befreie nicht davon, vor der Versagung einer Versammlung möglichst alle in Betracht kommenden Schutzmaßnahmen in Betracht zu ziehen und sich so um eine Lösung zu bemühen, die die Herstellung praktischer Konkordanz zwischen dem Ziel des Infektionsschutzes (staatliche Schutzpflicht für Leib und Leben (Art. 2 Abs. 2 S. 1 GG)) und der Versammlungsfreiheit (Art. 8 Abs. 1 GG) ermöglicht (RdNr. 27). Die Behörde wird somit verpflichtet, unter Berücksichtigung der Rechtsauffassung des BVerfG erneut über die von A angemeldete Versammlung zu entscheiden.
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Fragen und Anmerkungen aus der Jurafuchs-Community

TeamRahad 🧞

TeamRahad 🧞

1.10.2020, 10:35:23

Super, dass so aktuelle Entscheidungen gleich umgesetzt werden - danke! :) Wäre es evtl möglich, eine eigene Kategorie von Fällen mit Corona-Bezug einzurichten?

Marilena

Marilena

1.10.2020, 11:42:33

Hallo TeamRahad, vielen Dank für Dein Lob und den tollen Vorschlag! Über eine eigene Kategorie haben wir auch schon nachgedacht, setzen wir in Kürze um! Lieben Gruß Marilena für das Jurafuchs-Team

Oli

Oli

20.7.2021, 09:33:56

Gibt es die Kategorie mittlerweile? :)

Marilena

Marilena

20.7.2021, 09:48:24

Hi Oli, danke für Deine Nachfrage! Wir haben die Kategorie bisher doch noch nicht umgesetzt, weil es uns noch zu wenig erschien und ja alle Rechtsgebiete betrifft. Du findest aber an 11. Stelle der Playlisten eine Liste mit allen Aufgaben mit Corona-Bezug. Liebe Grüße für das Jurafuchs-Team, Marilena

Oli

Oli

20.7.2021, 09:50:02

Klasse! Danke für die schnelle Antwort

Isabell

Isabell

10.12.2020, 15:38:42

Dejure.org hat alle Entscheidungen zu Corona nach Bundesland sortiert aufgelistet. Da sind ein paar echte "Highlights" bei 😅

inchen9

inchen9

28.8.2024, 16:25:23

Hallo Isabell, Leider finde ich die entsprechende Seite nicht. Hast du einen Link für mich? Liebe Grüße

jura🐈

jura🐈

26.9.2024, 20:08:55

https://dejure.org/corona-pandemie enthält eine Auflistung nach Gerichten

jura🐈

jura🐈

26.9.2024, 20:10:55

https://dejure.org/corona-pandemie?s=nach_Rechtsgebieten#rechtsprechung und hier nach Rechtsgebieten

ri

ri

17.7.2021, 19:20:39

Verbot mit Erlaubnisvorbehalt jedenfalls zeitlich beschränkt möglich (str) Erfordert fehlerfreie Ermessensausübung, insb. Verhältnismäßigkeit - nicht möglich: pauschaler Verweis (

Ermessensnichtgebrauch

?) - nicht möglich: allgemeine Erwägungen ohne konkreten Bezug zur Versammlung (

Ermessensfehlgebrauch

?)

TO

TomBombadil

30.5.2024, 14:03:11

Ist in einer der Fragen wirklich eine verwaltungsgerichtliche Untersagung gemeint? Ein solches wird hier ja überhaupt nicht tätig.

PETE

Peter

25.9.2024, 08:55:51

Darüber bin ich auch gestolpert :) Könntet ihr das nochmals checken?

DAV

david1234

12.11.2024, 22:05:07

Würde es hierbei nicht naheliegen einen Verstoß gegen die Wesentlichkeitstheorie anzunehmen ? Bei einem so wichtigen GR wird eine Verordnung dem Ganzen nicht gerecht ?


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