IT-Grundrecht

24. November 2024

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+++ Sachverhalt (reduziert auf das Wesentliche)

Jurafuchs

Eine gesetzliche Regelung erlaubt es den Behörden sog. Onlinedurchsuchungen durchzuführen. Dabei werden die PCs (sog. informationstechnische Systeme) straftatverdächtiger Personen mittels heimlich installierter Software ausgespäht. Betroffene B legt Verfassungsbeschwerde ein.

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Einordnung des Falls

IT-Grundrecht

Die Jurafuchs-Methode schichtet ab: Das sind die 10 wichtigsten Rechtsfragen, die es zu diesem Fall zu verstehen gilt

1. Die Telekommunikationsfreiheit gem. Art. 10 Abs. 1 GG schützt die B umfassend vor Online-Durchsuchungen.

Nein, das ist nicht der Fall!

Art. 10 Abs. 1 GG schützt die individuelle Kommunikation mithilfe von Fernmeldetechnik jeglicher Art (Telefon, Internet, Mobilfunk). Geschützt sind laufende, nicht aber bereits abgeschlossene Kommunikationsvorgänge. Soweit eine Onlinedurchsuchung laufende Internet-Kommunikation auswertet, ist Art. 10 Abs. 1 GG betroffen. Bei einer Onlinedurchsuchung werden aber auch gespeicherte Inhalte bereits abgeschlossener Kommunikationsvorgänge ausgewertet. Außerdem werden informationstechnische Systeme als solche, unabhängig von etwaigen Kommunikationsvorgängen, überwacht. In beiden Fällen ist Art. 10 Abs. 1 GG nicht betroffen und bietet deshalb keinen umfassenden Schutz.
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2. Art. 13 Abs. 1 GG schützt die B umfassend vor Online-Durchsuchungen, sofern sich der infiltrierte PC in der Wohnung der B befindet.

Nein, das trifft nicht zu!

Das Schutzgut von Art. 13 Abs. 1 ist die räumliche Sphäre der Wohnung. Geschützt ist diese Sphäre auch vor nicht körperlichem Eindringen. Allein die Tatsache, dass bei einer Online-Durchsuchung nicht körperlich in die Wohnung eingedrungen wird, schließt den Schutz durch Art. 13 Abs. 1 GG nicht aus. Allerdings kann das Infiltrieren eines PCs unabhängig von dessen Standort erfolgen. Hieran zeigt sich, dass ein raumbezogener Schutz nicht in der Lage ist, die Gefährdung durch die Infiltration abzuwehren. Eine spezifische Gefährdung der räumlich geschützten Sphäre und damit von Art. 13 Abs. 1 GG liegt deshalb im Regelfall nicht vor. Art. 13 Abs. 1 GG kann indes betroffen sein, wenn über den Trojaner die Wohnung als solche überwacht wird, indem beispielsweise eine Webcam oder ein Mikro am PC infiltriert wird.

3. Der Schutz der Privatsphäre (Art. 2 Abs. 1 i.V.m. Art. 1 Abs. 1 GG) gewährleistet der B umfassenden Schutz vor Online-Durchsuchungen.

Nein!

In seiner Ausprägung als Schutz der Privatsphäre gewährleistet das allgemeine Persönlichkeitsrecht (Art. 2 Abs. 1 i.V.m. Art. 1 Abs. 1 GG) dem Einzelnen einen räumlich und thematisch bestimmten Bereich, der grundsätzlich frei von unerwünschter Einsichtnahme bleiben soll. Bei einer Online-Durchsuchung kann zwar auch der bestimmte Bereich der Privatsphäre betroffen sein. Es werden aber zwangsläufig nicht nur rein private Daten erfasst. Insoweit diese Daten erhoben werden, ist die Privatsphäre nicht betroffen. Sie schützt die B damit nicht umfassend vor Online-Durchsuchungen.

4. Das Recht auf informationelle Selbstbestimmung (Art. 2 Abs. 1 i.V.m. Art. 1 Abs. 1 GG) schützt die B umfassend vor Online-Durchsuchungen.

Nein, das ist nicht der Fall!

Das Recht auf informationelle Selbstbestimmung gibt dem Einzelnen die Befugnis, grundsätzlich selbst über die Preisgabe und Verwendung seiner persönlichen Daten zu bestimmen. Eine Online-Durchsuchung kann zur Folge haben, dass persönliche Daten unbefugt gespeichert oder verwendet werden. Jedoch ist der Einzelne auf die Nutzung informationstechnischer Systeme angewiesen und vertraut dem System deshalb seine persönlichen Daten freiwillig an. Das Vertrauen in die Integrität dieses Systems allein schützt das Recht auf informationelle Selbstbestimmung nicht. Es gewährleistet der B somit keinen Schutz vor dem „bloßen“ Überwachungselement der Online-Durchsuchung.

5. Die Gewährleistungsgehalte des allgemeinen Persönlichkeitsrechts (Art. 2 Abs. 1 i.V.m. Art. 1 Abs. 1 GG) wurden abschließend durch die Rechtsprechung definiert.

Nein, das trifft nicht zu!

Das allgemeine Persönlichkeitsrecht gewährleistet Elemente der Persönlichkeit, die nicht Gegenstand der besonderen Freiheitsgarantien des Grundgesetzes sind, diesen aber in ihrer konstituierenden Bedeutung für die Persönlichkeit nicht nachstehen. Es erfüllt damit eine lückenschließende Funktion. Die Rechtsprechung hat insofern unterschiedliche Fallgruppen entwickelt. Das BVerfG betont aber die grundsätzliche Entwicklungsoffenheit des Schutzbereichs. Das allgemeine Persönlichkeitsrecht kann deshalb infolge neuer technischer oder gesellschaftlicher Entwicklungen um weitere Elemente ergänzt werden.

6. Die B ist durch die Onlinedurchsuchung in konstituierenden Elementen ihrer Persönlichkeit, welche durch das allgemeine Persönlichkeitsrecht geschützt sind, gefährdet.

Ja!

Ein lückenschließender Schutz durch das allgemeine Persönlichkeitsrecht ist insbesondere bei früher nicht absehbaren Gefährdungen der Persönlichkeit anzunehmen. Mit Online-Durchsuchungen lassen sich weitreichende Rückschlüsse über die Persönlichkeit des Einzelnen ziehen. Der Einzelne kann die hierbei genutzten technologischen Abläufe kaum überblicken. Seine Persönlichkeit ist somit in einem für ihn nicht einsehbarem Maße gefährdet. Diese Gefährdung war früher aber noch nicht absehbar. Da die bereits bestehenden Grundrechte nicht umfänglich vor der Gefährdung schützen können, muss das allgemeine Persönlichkeitsrecht insoweit seine lückenschließende Funktion erfüllen.

7. Der B ist vor Online-Durchsuchungen durch das Recht auf Vertraulichkeit und Integrität informationstechnischer Systeme (Art. 2 Abs. 1 i.V.m. Art. 1 Abs. 1 GG) geschützt.

Genau, so ist das!

Das allgemeine Persönlichkeitsrecht trägt dem Schutzbedarf über seine bisher anerkannten Ausprägungen hinaus dadurch Rechnung, dass es die Integrität und Vertraulichkeit informationstechnischer Systeme gewährleistet (sog. IT-Grundrecht). Der Einzelne darf danach bei Nutzung informationstechnischer Systeme darauf vertrauen, nicht vom Staat kontrolliert zu werden. Bei einer Online-Durchsuchung weiß der Einzelne nicht, dass sein informationstechnisches System (z.B. PC) überwacht wird. Sein Vertrauen in die Nichtkontrolle dieses Systems ist aber gerade durch das IT-Grundrecht geschützt. Es schützt den Einzelnen damit vor Online-Durchsuchungen. Das IT-Grundrecht wurde in der zugrundeliegenden Entscheidung im Jahre 2008 entwickelt. Seitdem ist es als eigenständige Gewährleistung des allgemeinen Persönlichkeitsrechts anerkannt. In der Klausur musst du es deshalb nicht als neues Grundrecht herleiten. Behalte aber bei der Auslegung im Hinterkopf, dass es entwickelt wurde, um auf neuartige Gefährdungen der Persönlichkeit zu reagieren.

8. Online-Durchsuchungen sind wegen Verletzung des IT-Grundrechts stets unzulässig.

Nein, das trifft nicht zu!

Das Grundrecht auf Gewährleistung der Vertraulichkeit und Integrität informationstechnischer Systeme ist nicht schrankenlos. Eingriffe können sowohl zu präventiven Zwecken als auch zur Strafverfolgung gerechtfertigt sein. Der Einzelne muss dabei nur solche Beschränkungen seines Rechts hinnehmen, die auf einer verfassungsmäßigen gesetzlichen Grundlage beruhen. Soweit Online-Durchsuchungen auf einer verfassungsmäßigen Grundlage beruhen, können sie gerechtfertigt und damit zulässig sein.

9. Online-Durchsuchungen dürfen zum Schutz jeglicher Verfassungsgüter erfolgen.

Nein!

Online-Durchsuchungen sind nur zulässig, wenn tatsächliche Anhaltspunkte einer konkreten Gefahr für ein überragend wichtiges Rechtsgut bestehen. Überragend wichtig sind Leib, Leben und Freiheit der Person oder solche Güter der Allgemeinheit, deren Bedrohung die Grundlagen des Staates oder der Existenz der Menschen berührt. Online-Durchsuchungen dürfen damit nicht zum Schutz jeglicher, sondern nur bestimmter Rechtsgüter erfolgen. Darüber hinaus müssen diese auch konkret gefährdet sein.

10. An die Ausgestaltung gesetzlicher Regelungen zu Online-Durchsuchungen sind erhöhte verfassungsrechtliche Anforderungen zu stellen.

Genau, so ist das!

Bei heimlichen Maßnahmen wie auch der Online-Durchsuchung muss eine vorbeugende Kontrolle durch eine unabhängige Instanz stattfinden, weil der Betroffene sonst mangels Kenntnis ungeschützt bliebe. Insofern muss die gesetzliche Regelung einen Richter-Vorbehalt enthalten. Zudem muss sichergestellt sein, dass der Kernbereich der Persönlichkeit (Art. 1 Abs. 1 GG) durch den Eingriff nicht berührt wird. Insofern muss die gesetzliche Regelung entsprechende verfahrensrechtliche Vorkehrungen enthalten. Das der BVerfG-Entscheidung zugrundeliegende Gesetz genügte diesen Anforderungen nicht. Es stellte zudem nicht sicher, dass Eingriffe nur zum Schutz überragend wichtiger Rechtsgüter erfolgen würden. Unter anderem deshalb wurde es als verfassungswidrig eingestuft. Der Gesetzgeber musste das Gesetz insoweit nachbessern.
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Fragen und Anmerkungen aus der Jurafuchs-Community

CR7

CR7

3.7.2024, 20:37:11

Mega gut aufgearbeitet! Wir haben den Fall im Rep gemacht. Ich fande es gut, dass dazu das Gesetz, welches den Anforderungen nicht genügte, abgedruckt war. Könntet ihr das eventuell hier auch machen? LG ☺️

K.Attalla

K.Attalla

28.10.2024, 21:30:57

Hi, könnte jemand nochmal erklären, wieso das Recht auf informationelle Selbstbestimmung nicht greift? Komme irgendwie nicht ganz dahinter.


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