Öffentliches Recht

Grundrechte

Versammlungsfreiheit (Art. 8 Abs. 1 GG)

Fuckparade – ist das noch eine grundrechtlich geschützte Versammlung? („Fuckparade“)

Fuckparade – ist das noch eine grundrechtlich geschützte Versammlung? („Fuckparade“)

22. November 2024

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leichtmittelschwer

+++ Sachverhalt (reduziert auf das Wesentliche)

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Klassisches Klausurproblem

Veranstalter A meldet bei Polizeipräsidentin P in Berlin die „Fuckparade“ als Versammlung an. Geplant sind Wagen mit Techno-Musik und Bannern gegen die Kulturpolitik der Stadt. Flyer und Podiumsdiskussion gehören zum Programm. P meint, die Veranstaltung sei keine Versammlung.

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Einordnung des Falls

Fuckparade – ist das noch eine grundrechtlich geschützte Versammlung? („Fuckparade“)

Die Jurafuchs-Methode schichtet ab: Das sind die 6 wichtigsten Rechtsfragen, die es zu diesem Fall zu verstehen gilt

1. Eine Versammlung setzt voraus, dass die Teilnehmer einen gemeinsamen Zweck verfolgen.

Ja!

Der gemeinsame Zweck sowie die innere Verbundenheit sind das Abgrenzungskriterium zur bloßen Ansammlung, die nicht in den Schutzbereich von Art. 8 Abs. 1 GG fällt. Umstritten ist, ob bzw. welche Anforderungen an den gemeinsamen Zweck zu stellen sind.
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2. Nach dem weiten Versammlungsbegriff stellt die „Fuckparade“ eine Versammlung dar.

Genau, so ist das!

Nach dem weiten (teilweise auch offen genannten) Versammlungsbegriff ist eine Versammlung das Zusammenkommen mehrerer Menschen zur gemeinsamen Zweckverfolgung. An den Zweck, der verfolgt wird, werden nach dem weiten Versammlungsbegriff keine Anforderungen gestellt. Geschützt sind nach dem weiten Versammlungsbegriff daher auch reine Spaßveranstaltungen. Für den weiten Versammlungsbegriff spricht der offene Wortlaut des Art. 8 Abs. 1 GG, dagegen, dass er auch Veranstaltungen umfasst, die keines Schutzes über Art. 8 GG bedürfen (z.B. Mannschaftssport).

3. Auch nach dem erweiterten Versammlungsbegriff stellt die „Fuckparade“ eine Versammlung dar.

Ja, in der Tat!

Nach einem erweiterten Versammlungsbegriff setzt eine Versammlung voraus, dass die Teilnehmer gemeinsam eine Meinung bilden bzw. kundtun. Eine Teilhabe an der öffentlichen Meinungsbildung ist dabei nicht erforderlich. Gegen dieses Begriffsverständnis spricht, dass die Meinungsbildung und -äußerung auch über Art. 5 Abs. 1 GG geschützt ist; dafür spricht wiederum, dass eine Versammlung ohne Meinungsbildung oder Kundgabe nur schwer von einer Ansammlung zu unterscheiden ist. Auf der "Fuckparade" bilden und äußern die Teilnehmer ihre Meinung in Bezug auf die Kulturpolitik der Stadt. Eine Versammlung liegt vor.

4. Nach der Rechtsprechung wird eine Musik- und Tanzveranstaltung allein dadurch zu einer Versammlung, dass bei ihrer Gelegenheit auch Meinungskundgaben erfolgen.

Nein!

Es reicht nicht aus, wenn die Meinungskundgabe nur beiläufiger Nebenakt ist. Die Veranstaltung muss ihrem Gesamtgepräge nach eine Versammlung darstellen. Dies ist ausgeschlossen, wenn der Spaß-, Tanz- oder Unterhaltungszweck im Vordergrund steht.

5. Entscheidend für die Einordnung des Gesamtgepräges der Veranstaltung ist der Wille der Beteiligten.

Nein, das ist nicht der Fall!

Ob eine Veranstaltung ihrem Gesamtgepräge nach eine Versammlung darstellt, ist im Wege einer Gesamtschau unter Berücksichtigung aller relevanten tatsächlichen Umstände vorzunehmen. Alle Modalitäten, die auf die Teilhabe an der öffentlichen Meinungsbildung gerichtet sind, werden mit allen Modalitäten, die nicht auf die Meinungsbildung abzielen, wie etwa Tanz, Musik und Unterhaltung, aus Sicht eines durchschnittlichen Betrachters gegeneinander abgewogen.

6. Im Zweifel liegt eine Versammlung vor.

Ja, in der Tat!

Wenn es nicht möglich ist, ein Übergewicht des einen oder anderen Bereichs festzustellen, so bewirkt der hohe verfassungsrechtliche Rang des Versammlungsrechts, dass die Veranstaltung wie eine Versammlung behandelt wird. Auf der "Fuckparade" verteilen die Beteiligten Flyer, die Wägen zieren Spruchbanner gegen die Kulturpolitik der Stadt und eine Podiumsdiskussion findet auch statt. Daher lässt sich das Gesamtgepräge nicht eindeutig feststellen. Die "Fuckparade" lässt sich daher mit dem BVerwG als Versammlung behandeln. Demgegenüber hatte es das BVerfG in zwei Eilverfahren im Jahre 2001 nicht beanstandet, dass die vorangegangenen Fachgerichte sowohl die Loveparade als auch „Fuckparade“ überwiegend als Musik- und Tanzveranstaltungen qualifiziert und den Versammlungscharakter ausgeschlossen haben. Es hatte indes klargestellt, dass es im Rahmen des Eilverfahrens nur geprüft habe, ob die Einschätzung offensichtlich fehlerhaft war.
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Fragen und Anmerkungen aus der Jurafuchs-Community

PEKU

Pekunia

13.2.2020, 18:43:55

„Noch 2001 hat das BVerfG...“ Und was hat sich seit 2001 geändert? Warum wird es jetzt anders bewertet? Ist hier nicht so verständlich formuliert.

GRA

Gravenstein

26.2.2020, 10:24:43

Dem Sachverhalt hier lässt sich m. E. kein klares Gewicht des einen oder anderen Zwecks erkennen, so dass die Zweifelsregel m. E. eingreift. Der abschließende Satz in der Erklärung wirkt für mich wie ein disclaimer.

GI

GingerCharme

11.4.2020, 13:23:07

So wie ich das verstanden habe, hat das BVerfG diese Veranstaltungen noch als überwiegend der Musik und dem Tanz gewidmet gewertet - es liegt also keine Versammlung vor. Das Bundesverwaltungsgericht hat 6 Jahre später keinen solchen Schwerpunkt ausmachen können - im Zweifel gilt es ist eine Versammlung. Habe aber die Urteile nicht gelesen, vllt liegt es auch einfach daran, dass die "Fuckparade" ja auch Podiumsdiskussionen beinhaltete und die "Loveparade" rein Ausdruck eines Lebensgefühls war.

Lukas_Mengestu

Lukas_Mengestu

6.5.2021, 09:51:46

Hallo zusammen, vielen Dank für den wertvollen Hinweis. An den rechtlichen Maßstäben hat sich tatsächlich nichts geändert. Diese wurden bereits vom BVerfG in seinen Beschlüssen vom 12.Juli 2001 (1 BvQ 28/01 bzw. 1 BvQ 30/01) so aufgestellt. Der zentrale Unterschied ist indes die Prüfdichte. Es handelte sich bei den Verfahren vor dem BVerfG um Eilverfahren. Aus diesem Grund hat es klargestellt, dass es die Beurteilung des Gesamtgepräges einer Veranstaltung im Eilverfahren nur bedingt überprüfen kann und von der Einschätzung der Fachgerichte nur dann abweicht, wenn diese Einschätzung offensichtlich fehlerhaft ist. Dies konnte es nicht feststellen. Das Bundesverwaltungsgericht hat dagegen das Gesamtgepräge eigenständig und vollumfänglich überprüft und ist insoweit aufgrund des Zweifelsatzes

Lukas_Mengestu

Lukas_Mengestu

6.5.2021, 09:52:24

zum Ergebnis gekommen, dass hier eine Versammlung vorliegt. Wir haben das nun in einem Vertiefungshinweis noch etwas mehr ausgeführt. Beste Grüße, Lukas - für das Jurafuchs-Team

QUIG

QuiGonTim

27.10.2024, 14:16:10

Wie sind der enge und der erweiterte Versammlungsbegriff voneinander abzugrenzen? Eine Ansammlung, die zwar der Meinungskundgabe, aber nicht der Teilhabe an der öffentlichen Meinungsbildung dient ist doch kaum vorstellbar. Denn dann müssten die Teilnehmer der Ansammlung davon ausgehen, dass die von ihnen kundgetane Meinung für andere völlig irrelevant sei.

Wendelin Neubert

Wendelin Neubert

30.10.2024, 14:20:31

Danke für Deine Nachfrage @[QuiGonTim](133054). Ich kann Deine Kritik nachvollziehen, dass der enge und der erweiterte Versammlungsbegriff im Einzelfall oft zu den gleichen Ergebnissen führen. Dennoch sind Konstellationen vorstellbar, in denen die Meinungskundgabe nicht auf die Teilhabe an der öffentlichen Meinungsbildung abzielt. So haben wir das ja in dem Fall, der diesem hier vorangeht, ausführlich dargestellt (hier zu finden: https://applink.jurafuchs.de/ufbWpcwj7Nb). In dem dargestellten Fall – ausgehend von der Diskussion des Falles durch Rechtsprechung und Literatur – gegen die Teilnehmerinnen und Teilnehmer der „Love Parade“ Ender 1990er Jahre zwar ihre Meinung in Bezug auf ihr Lebensgefühl kund, aber zielen damit nicht auf eine Teilhabe an der öffentlichen Meinungsbildung ab (das kann man – je nach Sachverhalt – natürlich auch anders sehen). Hoffe das hilft! Beste Grüße - Wendelin für das Jurafuchs-Team


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