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Verfassungsbeschwerde gegen Klimagesetz teilweise erfolgreich

Verfassungsbeschwerde gegen Klimagesetz teilweise erfolgreich

23. November 2024

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+++ Sachverhalt (reduziert auf das Wesentliche)

Jurafuchs

Das Klimaschutzgesetz (KSG), das auf Grundlage Pariser Klimaabkommens verabschiedet wurde, bestimmt, wie viel CO2 bis 2030 ausgestoßen werden darf, jedoch nicht darüber hinaus. Die Beschwerdeführer finden die Klimaschutzmaßnahmen unzureichend.

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Einordnung des Falls

Verfassungsbeschwerde gegen Klimagesetz teilweise erfolgreich

Die Jurafuchs-Methode schichtet ab: Das sind die 20 wichtigsten Rechtsfragen, die es zu diesem Fall zu verstehen gilt

1. Die Beschwerdeführer sehen sich durch das KSG in ihren Grundrechten verletzt und ziehen vor das BVerfG. Ist die Verfassungsbeschwerde (Art. 93 Abs. 1 Nr. 4a GG) einschlägig?

Genau, so ist das!

Die Verfassungsbeschwerde ist die richtige Verfahrensart, wenn sich der Beschwerdeführer durch einen Akt der öffentlichen Gewalt in einem seiner Grundrechte oder grundrechtsgleichen Rechte verletzt sieht (Art. 93 Abs. 1 Nr. 4a GG). Die Beschwerdeführer meinen, dass mit der im KSG geregelten Reduktion von CO2-Emissionen das sog. „CO2-Restbudget“ nicht eingehalten werden könne, das zur Einhaltung der Temperaturschwelle von 1,5 °C notwendig sei. Sie meinen, dies verletze grundrechtliche Schutzpflichten sowie – hinsichtlich künftiger Emissionsminderungspflichten für Zeiträume nach 2030 – ihre Freiheitsrechte generell (RdNr. 1). Die Verfassungsbeschwerde ist die einschlägige Verfahrensart.
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2. Das Unterlassen des Gesetzgebers kann immer ein tauglicher Beschwerdegegenstand sein.

Nein, das trifft nicht zu!

Eine auf eingesetzgeberisches Unterlassen gestützte Verfassungsbeschwerde ist nur zulässig, wenn der Gesetzgeber trotz bestehender Handlungs- und Schutzpflichten gänzlich untätig geblieben ist. Hat der Gesetzgeber dagegen eine Regelung getroffen (unechtes Unterlassen), muss sich die Verfassungsbeschwerde regelmäßig gegen diese gesetzliche Vorschrift richten (RdNr. 95.). Hier hat der Gesetzgeber mit dem KSG eine Regelung getroffen. Unzulässig war hier deswegen eine Verfassungsbeschwerde, die auch nach der Verabschiedung des KSG gesetzgeberisches Unterlassen als solches rügte. Soweit die Beschwerdeführer geltend machten, dass KSG genüge den verfassungsrechtlichen Anforderungen nicht, bildet das KSG den tauglicher Beschwerdegegenstand (RdNr. 95).

3. Die Beschwerdeführer sind beschwerdebefugt, wenn sie behaupten können, durch die öffentliche Gewalt in einem ihrer Grundrechte oder grundrechtsgleichen Rechte verletzt zu sein.

Ja!

Hierbei ist die Möglichkeit einer Grundrechtsverletzung ausreichend, d.h. die Grundrechtsverletzung darf nicht von vornherein ausgeschlossen sein. Zudem muss der Beschwerdeführer geltend machen, selbst, gegenwärtig und unmittelbar in seinen Grundrechten verletzt zu sein. Hier kamen gleich mehrere möglicherweise verletzte Grundrechte der Beschwerdeführer in Betracht. In der Klausur musst Du für jedes in Betracht kommende Grundrecht die Selbst-, gegenwärtige und unmittelbare Betroffenheit prüfen.

4. Der Klimawandel wird für die Beschwerdeführer voraussichtlich erst zukünftig zu erheblichen Schäden und damit einhergehenden Grundrechtsbeeinträchtigungen führen. Fehlt es deswegen an der gegenwärtigen Betroffenheit?

Nein, das ist nicht der Fall!

Die gegenwärtige Betroffenheit liegt vor, wenn die Verletzung bereits eingetreten ist und sich noch nicht erledigt hat. Dabei können auch Regelungen, die erst im Laufe ihrer Vollziehung zu einer nicht unerheblichen Grundrechtsgefährdung führen, selbst schon mit dem Grundgesetz in Widerspruch geraten; jedenfalls dann, wenn der einmal in Gang gesetzte Verlauf nicht mehr korrigierbar ist (RdNr. 108). BVerfG: Diese Voraussetzungen sind hier erfüllt, da die durch anthropogene Treibhausgasemissionen verursachte Erderwärmung nach heutigem Stand zu weiten Teilen unumkehrbar ist. Die Beschwerdeführer sind demnach gegenwärtig und auch unmittelbar in ihren Rechten aus Art. 2 Abs. 2 S. 1 GG und Art. 14 Abs. 1 GG betroffen (RdNr. 109). Das BVerfG hat auch die Beschwerdebefugnis von Beschwerdeführern aus Bangladesch und Nepal bejaht, da nicht von vornherein ausgeschlossen werden könne, dass die Grundrechte auch gegenüber ihnen wirken. Deren Verfassungsbeschwerden hat das BVerfG aber aus anderen Gründen abgewiesen.

5. Art. 20a GG enthält subjektive Rechte, sodass die Verfassungsbeschwerde auch unmittelbar auf eine Verletzung dieser Norm gestützt werden kann.

Nein, das trifft nicht zu!

Zwar ist Art. 20a GG justiziabel und der Schutzauftrag der Norm erfasst auch den Schutz des Klimas. Allerdings hat sich der verfassungsändernde Gesetzgeber bei Einführung des Art. 20a GG bewusst gegen die Aufnahme eines subjektiven Umweltgrundrechts in die Verfassung entschieden. Art. 20a GG ist somit kein subjektives Recht, sondern lediglich eine Staatszielbestimmung (RdNr. 112). Ob sich aus Art. 1 Abs. 1 GG i.V.m. Art. 20a Abs. 1 GG ein „Grundrecht auf ein ökologisches Existenzminimum“ ableiten lässt, das vor Umweltschäden mit katastrophalem Ausmaß schützt, hat das BVerfG offengelassen. Denn ein solches Recht sei hier aufgrund der vom Staat ergriffenen Aktivitäten wie dem Beitritt zum Pariser Übereikommen und die Verabschiedung des KSG offensichtlich nicht verletzt (RdNr. 113 ff.).

6. Das KSG verlagert die Treibhausgasminderungslasten einseitig in die Zukunft. Sind die Beschwerdeführenden dadurch bereits jetzt unmittelbar und gegenwärtig in ihren Freiheitsrechten verletzt?

Ja!

BVerfG: Durch die Verlagerung der erforderlichen CO2-Einsparungsmaßnahmen auf die Zeit nach 2030 wären ab dann zur Einhaltung der verfassungsrechtlich gebotenen Treibhausgasminderungen erhebliche Grundrechteinschränkungen erforderlich. Damit ist potenziell jegliche Freiheit bedroht. Es besteht demnach die Möglichkeit einer Grundrechtsvorwirkung. Das bedeutet, dass die Grundrechte als intertemporale Freiheitsicherung vor Regelungen schützen, die einen hohen Treibhausgasverbrauch zulassen, ohne zugleich hinreichend Rücksicht auf die hierdurch gefährdete künftige Freiheit zu nehmen (RdNr.116ff.). Die Betroffenheit ist auch gegenwärtig und unmittelbar, da die zukünftigen Beeinträchtigungen im aktuellen Recht unumkehrbar angelegt sind.

7. Die Beschwerdeführer haben direkt Verfassungsbeschwerde erhoben, ohne vorher die Fachgerichte anzurufen. Sind ihre Verfassungsbeschwerden deswegen unzulässig?

Nein, das ist nicht der Fall!

Der Grundsatz der Rechtswegerschöpfung (§ 90 Abs. 2 BVerfGG) verlangt, dass vor Anrufung des BVerfG der fachgerichtliche Rechtsweg ausgeschöpft wird, soweit ein solcher gegeben ist. Nach dem Grundsatz der Subsidiarität müssen vor Anrufung des BVerfG alle Mittel ergriffen werden, die der geltend gemachten Grundrechtsverletzung abhelfen können. Ein Rechtsweg unmittelbar gegen die angegriffenen gesetzlichen Bestimmungen existiert nicht und ebenso wenig eine zumutbare fachgerichtliche Rechtsschutzmöglichkeit. Zudem war hier eine vorherige Anrufung der Fachgerichte nicht geboten, weil hiervon keine Vertiefung des tatsächlichen und rechtlichen Materials zu erwarten wäre, sondern die Entscheidung allein von der Auslegung und Anwendung der verfassungsrechtlichen Maßstäbe abhängt (RdNr. 138ff.).

8. Die Verfassungsbeschwerden sind begründet, wenn die gesetzlichen Bestimmungen in die Grundrechte der Beschwerdeführenden eingreifen und dieser Eingriff verfassungsrechtlich nicht gerechtfertigt ist.

Ja, in der Tat!

So sollte der Obersatz in deiner Klausur lauten. Die Begründetheitsprüfung einer Verfassungsbeschwerde (Art. 93 Abs. 1 Nr. 4a GG) ist immer gleich aufgebaut: (1) Eröffnung des (persönlichen und sachlichen) Schutzbereichs des Grundrechts, (2) Eingriff in den Schutzbereich, (3) verfassungsrechtliche Rechtfertigung des Eingriffs.

9. Das Grundrecht auf Leben und Gesundheit (Art. 2 Abs. 2 S. 1 GG) verpflichtet den Staat zum Schutz vor den Gefahren des Klimawandels.

Ja!

Art. 2 Abs. 2 S. 1 GG enthält eine allgemeine staatliche Schutzpflicht für das Leben und die körperliche Unversehrtheit. Den Staat trifft die Pflicht, sich schützend und fördernd vor die Rechtsgüter Leben und körperliche Unversehrtheit zu stellen und sie vor rechtswidrigen Eingriffen von Seiten anderer zu bewahren. Diese Schutzpflicht umfasst dabei auch die Verpflichtung, Leben und Gesundheit vor den Gefahren des Klimawandels zu schützen (RdNr. 145). Die Pflicht zum Schutz vor Lebens- und Gesundheitsgefahren kann eine Schutzverpflichtung auch in Bezug auf künftige Generationen begründen. Diese intergenerationelle Schutzverpflichtung ist allerdings allein objektivrechtlicher Natur (RdNr. 146).

10. Auch das Grundrecht auf Eigentum (Art. 14 Abs. 1 GG) verpflichtet den Staat zum Schutz vor den Gefahren des Klimawandels.

Genau, so ist das!

BVerfG: Aus Art. 14 Abs. 1 GG folgt eine staatliche Schutzpflicht hinsichtlich der Eigentumsgefahren des Klimawandels. Besonderes Gewicht hat hierbei, dass bei einem ungehinderten Klimawandel z.B. infolge von Überschwemmungen und des ansteigenden Meeresspiegels Häuser oder ganze Siedlungsgebiete unbewohnbar werden könnten.

11. Der deutsche Staat kann den Klimawandel wegen der globalen Wirkung und des globalen Charakters seiner Ursachen nicht allein anhalten. Ist seine Schutzpflicht deswegen ausgeschlossen?

Nein, das trifft nicht zu!

BVerfG: Dass der deutsche Staat den Klimawandel nicht allein, sondern nur in internationaler Einbindung anhalten kann, steht der Annahme der grundrechtlichen Schutzpflicht nicht entgegen. Allerdings hat die globale Dimension des Klimawandels für den Inhalt der Schutzpflicht Bedeutung: Sie verpflichtet den Staat durch Maßnahmen dazu beizutragen, die anthropogene Erderwärmung zu begrenzen und hierbei eine Lösung des Klimaschutzproblems auch auf internationaler Ebene suchen (RdNr. 149). Andererseits verpflichtet die Schutzpflicht den Staat, soweit der Klimawandel nicht aufgehalten werden kann oder bereits eingetreten ist, den Gefahren durch positive Schutzmaßnahmen (sog. Anpassungsmaßnahmen) zu begegnen (RdNr. 150).

12. Bei der Erfüllung der aus den Grundrechten folgenden Schutzpflichten kommt dem Gesetzgeber ein Einschätzungs-, Wertungs- und Gestaltungsspielraum zu.

Ja!

Dem Gesetzgeber kommt bei Erfüllung seiner Schutzpflichten ein weiter Spielraum zu, insbesondere dabei, wie er die Belange der durch den Klimawandel gefährdeten Grundrechtsträger und die einem strengeren Klimaschutz entgegenstehenden Belange in einen angemessenen Ausgleich bringt. Deswegen ist es verfassungsrechtlich nur begrenzt überprüfbar, ob der Gesetzgeber ausreichende Maßnahmen getroffen hat, um grundrechtliche Schutzpflichten zu erfüllen. Das BVerfG stellt die Verletzung einer Schutzpflicht nur dann fest, wenn (1) Schutzvorkehrungen entweder überhaupt nicht getroffen sind, (2) die getroffenen Maßnahmen offensichtlich ungeeignet oder völlig unzulänglich sind, um das gebotene Schutzziel zu erreichen, oder (3) sie erheblich hinter dem Schutzziel zurückbleiben (sog. Untermaßverbot).

13. Hat der Gesetzgeber die Anforderungen des Untermaßverbots unterschritten und damit seine Schutzpflichten aus Art. 2 Abs. 2 S. 1 und Art. 14 Abs. 1 GG verletzt?

Nein, das ist nicht der Fall!

Verfassungsrechtliche Schutzpflichten sind nur verletzt, wenn (1) Schutzvorkehrungen entweder überhaupt nicht getroffen sind, (2) die getroffenen Maßnahmen offensichtlich ungeeignet oder völlig unzulänglich sind, um das gebotene Schutzziel zu erreichen, (3) oder sie erheblich hinter dem Schutzziel zurückbleiben (sog. Untermaßverbot). Nach Ansicht des BVerfG hat der Gesetzgeber hier Schutzvorkehrungen zur Begrenzung des Klimawandels getroffen, die dem Untermaßverbot genügen. Dazu gehöre u.a. die Verabschiedung des KSG. Diese seien auch nicht offensichtlich ungeeignet, weil sie das Ziel der Klimaneutralität verfolgen und die zulässige Emissionsmenge von Treibhausgasen beziffern und begrenzen. Sie seien auch nicht völlig unzulänglich, weil der Gesetzgeber dadurch Beiträge zur Bekämpfung des Klimawandels leistet und dem Klimawandel nicht freien Lauf lässt. Die Maßnahmen blieben auch nicht erheblich hinter dem Schutzziel zurück; denn sie zielen auf die Einhaltung der „Paris-Ziele“ und die Begrenzung der Erderwärmung auf 1,5-2° C, womit das grundrechtliche Schutzniveau gewahrt werden dürfte. Die Schutzpflichten seien daher nicht verletzt (RdNr. 153ff., 172). Die Ablehnung einer Schutzpflichtverletzung war für viele Beobachter überraschend. Sie ist aber angesichts der hohen Anforderungen des Untermaßverbots verfassungsrechtlich gut nachvollziehbar. Damit ist die Entscheidung jedoch noch nicht zu Ende.

14. Das GG schützt jedoch auch solche Verhaltensweisen, die dazu führen, dass unmittelbar oder mittelbar CO2-Emissionen in die Erdatmosphäre gelangen. Durch die gesetzliche Erlaubnis bestimmter Mengen von CO2-Emissionen können diese Grundrechte verletzt sein.

Ja, in der Tat!

BVerfG: Das Grundgesetz schützt umfassend die Freiheitsausübung der Grundrechtsträger, und zwar auch dann, wenn diese Freiheitsausübung unmittelbar oder mittelbar dazu führt, dass CO2-Emissionen in die Atmosphäre gelangen (zu denken ist etwa an den Betrieb von Fabriken, das Fahren von Autos, das Fliegen mit dem Flugzeug etc.). Solche Freiheitsausübung unterliegt aber den vom Gesetzgeber zum Schutz des Klimas zu ziehenden Grenzen. Verfassungsrechtlich maßgeblich ist hierbei das Klimaschutzgebot des Art. 20a GG. Art. 20a GG ist vom Gesetzgeber durch das Ziel konkretisiert, die Erwärmung der Erde auf deutlich unter 2 °C zu begrenzen. Geht aber das dieser Temperaturschwelle entsprechende CO2-Budget zur Neige, dürfen grundrechtlich geschützte Verhaltensweisen, die mit CO2-Emissionen verbunden sind, nur noch zugelassen werden, soweit sich die entsprechenden Grundrechte in der Abwägung mit dem Klimaschutz durchsetzen können (RdNr. 185). Hier bahnt sich die besondere verfassungsrechtliche Argumentation dieser Entscheidung an: Zwar mag die Schutzpflicht nicht verletzt sein. Aber es drohen in der Zukunft Grundrechtsverletzungen, wenn grundrechtliche Freiheitsausübung wegen des aufgebrauchten CO2-Budgets dann nicht mehr zugelassen werden darf, um die Anforderungen des Klimaschutzes (Art. 20a GG) einhalten zu können.

15. Deswegen entfaltet die Entscheidung des Gesetzgebers, bis zum Jahr 2030 die im KSG geregelte Menge an CO2-Emissionen zuzulassen, eingriffsähnliche Vorwirkung auf Freiheit der Beschwerdeführenden nach 2030.

Ja!

BVerfG: Das relative Gewicht der grundrechtlich geschützten Freiheitsbetätigung nimmt in der Abwägung mit dem Klimaschutz bei fortschreitendem Klimawandel immer weiter ab, aufgrund der immer intensiveren Umweltbelastungen. „Vor diesem Hintergrund begründen Vorschriften, die jetzt CO2-Emissionen zulassen, eine unumkehrbar angelegte rechtliche Gefährdung künftiger Freiheit, weil sich mit jeder CO2-Emissionsmenge, die heute zugelassen wird, das verfassungsrechtlich vorgezeichnete Restbudget irreversibel verkleinert und CO2-relevanter Freiheitsgebrauch stärkeren, verfassungsrechtlich gebotenen Restriktionen ausgesetzt sein wird (RdNr. 186).“ Damit erkennt das BVerfG in den gesetzlichen Regeln des KSG einen Grundrechtseingriff, hier in Form der eingriffsähnlichen Vorwirkung. Das ist der Paukenschlag, der Clou dieser Entscheidung. Er hat dem BVerfG zwar viel Kritik eingebracht, lässt sich aber grundrechtsdogmatisch gut begründen. Führ Dir den Gedankengang das BVerfG nochmal vor Augen: Der Gesetzgeber hat zwar seine Schutzpflicht nicht verletzt, aber – schlimmer – er hat durch seine gesetzlichen Regelungen mit Blick auf die Zeit nach 2030 in Grundrechte eingegriffen. Das Merkwort lautet: eingriffsähnliche Vorwirkung.

16. Grundrechtseingriffe lassen sich verfassungsrechtlich nur rechtfertigen, wenn die ihnen zugrundeliegenden Regelungen den elementaren Grundentscheidungen des Grundgesetzes entsprechen.

Genau, so ist das!

Die verfassungsrechtliche Rechtfertigung von Eingriffen in Grundrechte setzt – u.a. – voraus, dass die grundrechtsverkürzenden Regelungen mit elementaren Grundentscheidungen und allgemeinen Grundsätzen der Verfassung vereinbar sind. Auch die Rechtfertigung der Gefahr künftiger Freiheitseinbußen (eingriffsähnliche Vorwirkung) durch das KSG setzt voraus, dass die über das Ausmaß dieser Freiheitseinbußen bestimmenden Normen des KSG nicht gegen elementare Grundentscheidungen des GG verstoßen.
Um eine solche grundlegende Verfassungsbestimmung handelt sich bei Art. 20a GG. Die Vereinbarkeit des KSG mit Art. 20a GG ist daher Voraussetzung für die verfassungsrechtliche Rechtfertigung der im KSG enthaltenen Grundrechtseingriffen. Wenn Du den „Kniff“ mit der eingriffsähnlichen Vorwirkung des KSG nachvollzogen hast, befindest Du Dich hier wieder im bekannten Fahrwasser der verfassungsrechtlichen Rechtfertigung des Eingriffs. Das BVerfG argumentiert an dieser Stelle nicht ganz methodenrein. Es rekurriert für die Eingriffsrechtfertigung auf einen grundlegenden Maßstab für sämtliche voraussichtlich betroffenen Grundrechte, ohne zwischen Grundrechten mit Gesetzesvorbehalt oder vorbehaltlosen Grundrechten zu differenzieren.

17. Verpflichtet Art. 20a GG den Staat zum Klimaschutz?

Ja, in der Tat!

Art. 20a GG ist eine justiziable Staatszielbestimmung. Sie verpflichtet den Staat zum Klimaschutz und zielt auf die Herstellung von Klimaneutralität. Ihr Schutzauftrag lässt dem Gesetzgeber einen erheblichen Spielraum, dessen Einhaltung das BVerfG aber überprüft (RdNr. 197ff.)Den gesetzgeberischen Spielraum habe der Gesetzgeber hier nicht überschritten. Das im KSG festgelegte Ziel, die Erderwärmung auf deutlich unter 2° C zu begrenzen, konkretisiert das verfassungsrechtliche Klimaschutzgebot. Daran gemessen, verstießen die angegriffenen Normen des KSG nicht gegen Art. 20a GG (RdNr. 208ff.). Das BVerfG betont dabei auch die „internationale Dimension“ des Klimaschutzgebots des Art. 20a GG: Es verpflichte den Staat, die Lösung des Klimaschutzproblems gerade auch auf überstaatlicher Ebene zu suchen.

18. Die durch das KSG ausgelösten Grundrechtseingriffe sind nur verfassungsrechtlich gerechtfertigt, wenn sie verhältnismäßig sind.

Ja!

BVerfG: „Aus dem Gebot der Verhältnismäßigkeit folgt, dass nicht einer Generation zugestanden werden darf, unter vergleichsweise milder Reduktionslast große Teile des CO2-Budgets zu verbrauchen, wenn damit zugleich den nachfolgenden Generationen eine radikale Reduktionslast überlassen und deren Leben schwerwiegenden Freiheitseinbußen ausgesetzt würde“ (RdNr. 192).

19. Obwohl ungewiss ist, ob künftig wirklich unzumutbare Grundrechtsbeeinträchtigungen notwendig sind, muss der Gesetzgeber die Reduktion von CO2-Emissionen über die Zeit verteilen.

Genau, so ist das!

Die in § 3 Abs. 1 S. 2 und § 4 Abs. 1 S. 3 KSG in Verbindung mit Anlage 2 bis zum Jahr 2030 vorgesehenen Emissionsmengen reduzieren die Emissionsmöglichkeiten erheblich, die zur Einhaltung des verfassungsrechtlichen Klimaschutzgebots für anschließende Zeiträume – also nach 2030 – verbleiben. Es besteht demnach ein hohes Risiko gravierender Grundrechtsbelastungen ab 2030. Eine Rechtfertigung der Regelungen verlangt, dass hinreichende Vorkehrungen getroffen werden, um die ab 2031 auf die Beschwerdeführer zukommende Minderungslast zu lindern und die damit verbundene Grundrechtsgefährdung einzudämmen (RdNr. 244 ff.).Dies verlangt, dass der Gesetzgeber einen entwicklungsfördernden Planungshorizont schafft und konkrete Anforderungen an die weitere Ausgestaltung des Reduktionspfads stellt, um einen weiterhin freiheitschonenden Übergang in die Klimaneutralität zu gewährleisten.

20. Die angegriffenen Bestimmungen des KSG sind verhältnismäßig.

Nein, das trifft nicht zu!

BVerfG: „§ 3 Abs. 1 S. 2 KSG und § 4 Abs. 1 S. 3 KSG in Verbindung mit Anlage 2 sind insoweit verfassungswidrig, als sie die derzeit nicht hinreichend eingedämmte Gefahr künftiger Grundrechtsbeeinträchtigungen begründen; damit verletzen sie die sich aus dem Gebot der Verhältnismäßigkeit ergebende Pflicht des Gesetzgebers, die nach Art. 20a GG verfassungsrechtlich notwendigen Reduktionen von CO2-Emissionen bis hin zur Klimaneutralität vorausschauend in grundrechtsschonender Weise über die Zeit zu verteilen (Rn. 243).“Der Gesetzgeber hat die Entscheidung des BVerfG zum Anlass genommen, den Pfad für die Reduktion der Treibhausgasemissionen im KSG nachzuschärfen. Die Entscheidung wird als zentraler verfassungsrechtlicher Rahmen für die Klimaschutzanstrengungen in Deutschland angesehen. Auch international hat die Entscheidung große Aufmerksamkeit erfahren.
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