Referendariat

Die Revisionsklausur im Assessorexamen

Begründetheit IV: Präklusion

Zwischenrechtsbehelf des § 238 Abs. 2 StPO (Einführungsfall)

Zwischenrechtsbehelf des § 238 Abs. 2 StPO (Einführungsfall)

23. November 2024

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+++ Sachverhalt (reduziert auf das Wesentliche)

Jurafuchs

Der verteidigte Angeklagte A wird unzulässigerweise wegen Störung der Ordnung aus der Verhandlung entfernt (§ 177 GVG, § 231b GVG). Er verlässt den Saal murrend, aber ohne sich beim Gericht zu beschweren. A wird verurteilt.

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Einordnung des Falls

Zwischenrechtsbehelf des § 238 Abs. 2 StPO (Einführungsfall)

Die Jurafuchs-Methode schichtet ab: Das sind die 8 wichtigsten Rechtsfragen, die es zu diesem Fall zu verstehen gilt

1. Da A rechtswidrigerweise aus der Sitzung entfernt wurde, liegt ein Verfahrensfehler vor (§ 337 StPO).

Ja, in der Tat!

Ein Verfahrensfehler liegt dann vor, wenn eine Norm verletzt wird, die den Weg bestimmt, auf dem das Gericht zu seinem Urteil gelangt.Hinsichtlich des Weges zur Urteilsfindung bestimmt § 231 Abs. 1 S. 1 StPO, dass die Verhandlung nicht ohne den Angeklagten stattfindet. Es handelt sich um eine Verfahrensvorschrift. Ein Angeklagter, der den zur Aufrechterhaltung der Ordnung getroffenen Anordnungen nicht Folge leistet, kann aus dem Sitzungszimmer entfernt werden (§ 177 S. 1 GVG). Wird der Angeklagte entfernt, kann unter gewissen Voraussetzungen entgegen § 231 Abs. 1 S. 1 StPO in seiner Abwesenheit verhandelt werden (§ 231b Abs. 1 StPO). Hier liegen diese Voraussetzungen aber nicht vor. Damit ist mit § 231 Abs. 1 S. 1 StPO eine Verfahrensvorschrift verletzt.
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2. Um in der Revision gegen die Entfernung vorgehen zu können, musste A aber nach der sogenannten Widerspruchslösung des BGH im Prozess Widerspruch gegen sie erheben.

Nein!

Nach der Widerspruchlösung des BGH muss der Angeklagte beim Vorliegen bestimmter Beweisverwertungsverbote in der Hauptverhandlung einen Widerspruch gegen die Beweisverwertung erheben.Vorliegend dreht es sich nicht um das Vorliegen eines Beweisverwertungsverbotes, sondern um eine sitzungsleitende Anordnung des Vorsitzenden. Die Widerspruchslösung des BGH findet hier keine Anwendung.

3. Handelt es sich um eine auf die Sachleitung bezogene Anordnung des Vorsitzenden, muss der Angeklagte für eine erfolgreiche Revision den Zwischenrechtsbehelf des § 238 Abs. 2 StPO eingelegt haben.

Genau, so ist das!

Die Verhandlungsleitung obliegt nur dem Vorsitzenden (§ 238 Abs. 1 StPO). Dies soll eine zügige Verfahrensführung begünstigen. Wird eine auf die Sachleitung bezügliche Anordnung des Vorsitzenden als unzulässig beanstandet, so entscheidet das Gericht (§ 238 Abs. 2 StPO). Dieser Zwischenrechtsbehelf soll die Gesamtverantwortung des Gerichts aktivieren. Nach dem Gedanken des subsidiären Rechtsschutzes sollen so Revisionen möglichst vermieden und Fehler schon im Prozess korrigiert werden. Deshalb ist die Beanstandung der Maßnahme im Prozess zwingende Voraussetzung für die erfolgreiche Revision. Ohne diese ist die Rüge in der Revision also präkludiert.

4. § 238 Abs. 2 StPO soll die Prozessökonomie weitestgehend fördern. Ist der Begriff der „auf die Sachleitung bezüglichen Anordnungen“ im Hinblick auf diesen Regelungszweck sehr eng zu definieren?

Nein, das trifft nicht zu!

Der Begriff der auf die Sachleitung bezüglichen Anordnungen ist im Weitesten Sinne zu verstehen. Denn Sinn und Zweck ist die weitestmögliche Verhinderung von Revisionen im Sinne der Prozessökonomie. Unter den Begriff fallen daher alle Maßnahmen, mit denen der Vorsitzende auf den Ablauf des Verfahrens einwirkt und die einen Verfahrensbeteiligten in seinen Rechten betreffen. So sind auch Worterteilungen, Hinweise, Vorhalte, Ermahnungen, Belehrungen und dergleichen erfasst.

5. Nach § 238 Abs. 2 StPO soll grundsätzlich zunächst das Gericht entscheiden, wenn ein Verfahrensbeteiligter eine auf die Sachleitung bezügliche Anordnung rügt. Ist dies immer (ausnahmslos) erforderlich, um den Fehler später in der Revision erfolgreich rügen zu können?

Nein!

Ein zuvor eingelegter Zwischenrechtsbehelf nach § 238 Abs. 2 StPO ist dann nicht erforderlich, wenn: (1) das Gericht sich den Fehler des Vorsitzenden zu eigen macht, indem es ihn bei der Urteilsfindung wiederholt, (2) der nicht verteidigte Angeklagte den Rechtsbehelf nicht kennt, (3) der Vorsitzende eine zwingende Verfahrenshandlung unterlassen hat oder (4) die verletzte Verfahrensvorschrift dem Vorsitzenden keinen Ermessensspielraum lässt.

6. Hier greift kein Ausnahmetatbestand. Musste A also den Zwischenrechtsbehelf des § 238 Abs. 2 StPO einlegen, damit er erfolgreich in Revision gehen kann?

Genau, so ist das!

A muss den Zwischenrechtsbehelf einlegen, wenn eine auf die Sachleitung bezogene Anordnung des Vorsitzenden vorliegt und kein Ausnahmetatbestand greift. Sachleitende Anordnung sind alle Maßnahmen, mit denen der Vorsitzende auf den Ablauf des Verfahrens einwirkt und die einen Verfahrensbeteiligten in seinen Rechten betreffen.Mit der Entfernung des A wirkt der Vorsitzende unmittelbar auf die Verhandlung ein und greift in die Rechtsstellung des A ein: Denn als Gegenstück zur Anwesenheitspflicht ergibt sich As Anwesenheitsrecht aus § 231 Abs. 1 S.1 StPO. Der Vorsitzende war auch zuständig (§ 177 S. 2 GVG). Ein Ausnahmetatbestand liegt nicht vor, insbesondere ist A nicht unverteidigt, auf seine Kenntnis der Rügemöglichkeit kommt es daher nicht an.

7. A hätte die Verletzung seines Anwesenheitsrechts nach § 238 Abs. 2 StPO beanstanden müssen. Muss diese Beanstandung immer ausdrücklich erfolgen?

Nein, das trifft nicht zu!

Eine bestimmte Form ist für die Beanstandung nicht vorgesehen. Es genügt, dass ausdrücklich oder konkludent das Verlangen nach einer gerichtlichen Entscheidung geäußert und die Unzulässigkeit der Maßnahme sowie die Beschwer des Antragsstellers behauptet wird.

8. A müsste die Verletzung seines Anwesenheitsrecht zumindest konkludent gerügt haben. Hat er dies durch sein Verhalten getan?

Nein!

A ist in der Revision präkludiert, wenn er die Entfernung durch den Vorsitzenden nicht mit dem Zwischenrechtsbehelf des § 238 Abs. 2 StPO gerügt hat. Eine Rüge muss zumindest durch konkludentes Verlangen nach gerichtlicher Entscheidung erfolgen und die Unzulässigkeit der Maßnahme sowie As Beschwer substantiieren.A hat sich lediglich murrend aus dem Saal entfernt. Auch wenn ihm die Entscheidung offensichtlich nicht passte, trat weder das Verlangen nach einer gerichtlichen Entscheidung, noch die Beanstandung der Maßnahme als unzulässig hervor. Damit ist A mit dieser Rüge mangels Einlegung des Zwischenrechtsbehelfs in der Revision präkludiert.
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Fragen und Anmerkungen aus der Jurafuchs-Community

MOEE4

moee44

31.8.2024, 22:43:41

In der Subsumtion zu 6. heißt es "der Vorsitzende war auch zuständig (§ 177 S. 2 GVG)". Der Vorsitzende war aber wegen § 177 S. 2 letzter Hs. GVG nicht zuständig. Der Angeklagte ist eine an der Verhandlung beteiligte Person ("Beschuldigte" in S. 1), sodass über seinen Ausschluss aus der Hauptverhandlung das volle Gericht entscheiden muss. Damit dürfte in diesem Fall auch eine Beanstandung nach §

238 II StPO

nicht erforderlich sein, sodass durch die unterlassene Beanstandung keine

Rügepräklusion

eintritt. (vgl. BGH NStZ, 2012, 585 Rn. 9: "Bedarf aber eine Maßnahme in der Hauptverhandlung von vornherein eines Gerichtsbeschlusses, so ist schon der Anwendungsbereich des § 238 I StPO nicht eröffnet und es besteht demgemäß kein Anlass für ein Verfahren nach §

238 II StPO

. Dieses kann damit auch nicht Voraussetzung einer zulässigen Rüge im Revisionsverfahren sein [...]." oder auch BGH NStZ 2020, 94 Rn. 13.) Über Feedback hierzu wäre ich sehr dankbar, vllt. übersehe ich ja etwas, auch dann mich gerne wissen lassen.

UN

unstoppable

4.9.2024, 10:48:15

Ich sehe das wie du. Das ergibt sich i.Ü. auch aus § 231b Abs. 1 S. 1 StPO, wonach es eines Beschlusses bedarf, um den Angeklagten wegen ordnungswidrigen Benehmens aus dem Sitzungssaal entfernen zu können.

Nocebo

Nocebo

12.11.2024, 18:00:58

Sehe ich genauso. Ich gehe gerade die neuen Aufgaben in der StPO durch und muss leider feststellen, dass viele an solchen gravierenden Mängeln leiden. Die Lösung ist hier in dem entscheidenden Punkt falsch, das käme einem in der Klausur teuer zu stehen (weiß ich leider aus eigener Erfahrung...).

vulpes iuris

vulpes iuris

7.11.2024, 12:20:20

Im Aufgabentext wird fälschlich auf § 231b GVG verwiesen.


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