+++ Sachverhalt (reduziert auf das Wesentliche)
Staatsanwalt S ermittelt gegen Drogendealerin D und beantragt im Juni einen Haftbefehl wegen Fluchtgefahr. Ds Verteidigerin T, die Akteneinsicht beantragt hatte, erhält per Post mit der Aktenkopie versehentlich auch einen Entwurf des Haftbefehls. T leitet die ganze Akte an D weiter. Als der Haftbefehl im Oktober vollstreckt werden soll, ist D geflohen. Schon drei Tage später kann D aber festgenommen werden.
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Einordnung des Falls
(versuchte) Strafvereitelung durch Strafverteidigung?
Die Jurafuchs-Methode schichtet ab: Das sind die 8 wichtigsten Rechtsfragen, die es zu diesem Fall zu verstehen gilt
1. Indem T die D durch Weitergabe der Aktenkopie über die drohende Verhaftung informierte, könnte sie sich der Strafvereitelung strafbar gemacht haben (§ 258 Abs. 1 Var. 1 StGB).
Genau, so ist das!
Bei der in § 258 StGB geregelten Strafvereitelung muss zunächst zwischen der Verfolgungsvereitelung (Abs. 1) und der Vollstreckungsvereitelung (Abs. 2) unterschieden werden. Die Vollstreckungsvereitelung enthält wiederum zwei Varianten, die Strafvereitelung (Var. 1) sowie die Maßnahmenvereitelung (Var. 2).
Die Strafvereitelung nach § 258 Abs. 1 Var. 1 setzt im objektiven Tatbestand voraus:
(a) strafbare Vortat eines anderen
(b) Vereiteln der Bestrafung des anderen („ganz“ oder „zum Teil“)
Im subjektiven Tatbestand sind
(a)zumindest bedingter Vorsatz (dolus eventualis) hinsichtlich der strafbaren Vortat und
(b)absichtliches (dolus directus 1. Grades) oder wissenentliches Handeln (dolus directus 2. Grades) bzgl. der Vereitelungshandlung notwendig.
Achte darauf, in der Klausur bereits durch ein sauberes Zitat (inkl. Absatz und Variante) zu kennzeichnen, welche der drei Tatbestandsalternativen Du prüfst!
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2. Hat T die Strafverfolgung der D durch den Hinweis auf die bevorstehende Festnahme „ganz“ vereitelt (§ 258 Abs. 1 Var. 1 StGB)?
Nein, das trifft nicht zu!
Der Täter vereitelt die Strafverfolgung, wenn der Vortäter durch die Hilfeleistung im Hinblick auf die Strafverfolgung tatsächlich besser gestellt worden ist. Für eine gänzliche Vereitelung ist dabei nach hM nicht erforderlich, dass die Strafverfolgung völlig und endgültig (zB bei Verjährung) unmöglich gemacht wird. Auch eine Strafvereitelung auf Zeit soll bereit eine gänzliche Vereitelung darstellen, wenn es zu einer geraumen Verzögerung kommt. Wie viel Zeit vergehen muss, ist im Einzelnen streitig. Als Untergrenze wird überwiegend zumindest ein Zeitraum von zwei Wochen gefordert.Da sich die Festnahme lediglich um drei Tage verzögert hat, hat T die Strafvollstreckung nicht gänzlich vereitelt.
Eine wachsende Gegenmeinung lehnt die Annahme der gänzlichen Vereitelung bei einer bloßen Verzögerung unter Hinweis auf das Analogieverbot (Art. 103 Abs. 2 GG) ab.
3. Hat T die Strafverfolgung der D durch den Hinweis auf die bevorstehende Festnahme „zum Teil“ vereitelt (§ 258 Abs. 1 Var. 1 StGB)?
Nein!
Eine Strafe wird zum Teil vereitelt, wenn der Täter bewirkt, dass die Strafe des Vortäters in quantitativer Hinsicht milder als den wahren Umständen entsprechend ausfällt.Es gibt keine Anhaltspunkte dafür, dass die verzögerte Festnahme zu einem günstigeren Strafmaß führt.Merke: Bei der Teilvereitelung geht es allein um die Höhe des Strafmaßes. Eine zeitliche Verzögerung der Verfolgung, die keinen „geraumen Zeitraum“ übersteigt, stellt insofern allenfalls eine versuchte, gänzliche Strafvereitelung und keine vollendete Teil-Vereitelung dar!
4. Durch die Weitergabe der Information könnte T sich aber der versuchten Strafvereitelung strafbar gemacht haben (§§ 258 Abs. 1 Var. 1, Abs. 4, 22, 23 Abs. 1 StGB).
Genau, so ist das!
Versuchte Strafvereitelung liegt vor, wenn jemand nach seiner Vorstellung von der Tat unmittelbar dazu ansetzt, absichtlich (dolus directus 1. Grades) oder wissentlich (dolus directus 2. Grades) ganz oder zum Teil zu vereiteln, dass ein anderer wegen einer rechtswidrigen Tat bestraft wird.Der tatbestandsmäßige Erfolg (Vereitelung) ist aufgrund der bloßen Verzögerung der Festnahme um drei Tage nicht eingetreten. Der Versuch ist strafbar (§§ 23 Abs. 1, 12 Abs. 2, 258 Abs. 4 StGB). Fraglich ist, ob die Tatbestandsvoraussetzungen der versuchten Strafvereitelung vorliegen, insbesondere ob Tatentschluss bezüglich einer Vereitelung der Straverfolgung bestand.
5. Aufgabe einer Strafverteidigerin ist es, ihrer Mandantin beizustehen. Ist damit stets ausgeschlossen, dass eine Handlung der Verteidigerin zugunsten ihrer Mandandin eine strafbare „Vereitelung“ darstellt (§ 258 Abs. 1 Var. 1 StGB)?
Nein, das trifft nicht zu!
Die Stellung als Verteidigerin in einem Strafverfahren und das damit verbundene Spannungsverhältnis zwischen Organstellung (=Organ der Rechtspflege) und Beistandsfunktion macht eine besondere Abgrenzung zwischen erlaubtem und unerlaubten Verhalten in Bezug auf den Straftatbestand der Strafvereitelung erforderlich. Die Grenzen des zulässigen Verteidigerhandelns ergeben sich akzessorisch zum Strafprozessrecht. Prozessual zulässige Handlungen können insofern bereits nicht tatbestandsmäßig sein. Wenn die Verteidigerin die gesetzlich zulässigen Grenzen allerdings überschreitet (sog. „verteidigerfremdes Verhalten“), kommt durchaus eine Strafbarkeit wegen (versuchter) Strafvereitelung in Betracht.
6. Da einer Beschuldigten selbst grundsätzlich kein eigenes Akteneinsichtsrecht zusteht, darf eine Verteidigerin ihr auch niemals Inhalte mitteilen, die sie im Rahmen ihrer Akteneinsicht (§ 147 Abs. 1 StPO) erfahren hat.
Nein!
OLG: Eine sachgerechte Strafverteidigung setze voraus, dass der Beschuldigte weiß, worauf sich der gegen ihn erhobene Vorwurf stützt. Der Verteidiger sei deshalb in der Regel berechtigt und sogar verpflichtet, dem Beschuldigten zu Verteidigungszwecken mitzuteilen, was er, aus den Akten erfahren hat. Im gleichen Umfang, wie er ihm den Akteninhalt mitteilen dürfe, sei er prozessual auch berechtigt, den Beschuldigten über das Verfahren zu unterrichten und ihm sogar Aktenauszüge und Abschriften aus den Akten, auszuhändigen. Ausnahmen von diesem Grundsatz kämen grundsätzlich nur in Betracht, wenn die Information des Mandanten zu verfahrensfremden Zwecken erfolgt oder der Untersuchungszweck gefährdet würde oder dies zu befürchten ist.
7. Nach Auffassung der Rechtsprechung ist es einer Verteidigerin aber jedenfalls im Hinblick auf einen geheimen Haftbefehl stets untersagt, den Mandanten hierüber zu informieren.
Nein, das ist nicht der Fall!
Inwieweit eine Weitergabe von Informationen ausnahmsweise unzulässig ist, ist nach der Rechtsprechung grundsätzlich von den Umständen des Einzelfalles abhängig. Für ein generelles Verbot, einen Mandanten über drohende Zwangsmaßnahmen zu informieren, fehle es dabei an einer gesetzlichen Grundlage. Allein aus seiner Stellung als Organ der Rechtspflege ergebe sich noch keine Verpflichtung des Verteidigers mögliche Fehler der Staatsanwaltschaft oder des Gerichts im Hinblick auf die Geheimhaltung auszugleichen. Die Rechtsprechung differenziert deshalb:
Hat die Verteidigerin in zulässiger bzw. zufälliger Weise Kenntnis von einem Haftbefehl erlangt, so sei auch die Weitergabe zulässig und nicht tatbestandsmäßig.
Hat sie sich dagegen in objektiv unlauterer Art und Weise (zB durch Täuschung) die Kenntnis verschafft, so kommt bei der Weitergabe eine strafbare Strafvereitelung in Betracht.
8. Hatte T Tatentschluss im Hinblick auf eine Strafvereitelung (§§ 258 Abs. 1, Abs. 4, 22, 23 Abs. 1 StGB)?
Nein, das trifft nicht zu!
Tatentschluss umfasst den Vorsatz bezüglich aller objektiven Tatbestandsmerkmale sowie eventuell vorliegender deliktsspezifischer subjektiver Tatbestandsmerkmale. Ts Entschluss beschränkte sich darauf, die zufällig erlangten Informationen über den Haftbefehl an D weiterzuleiten. Da es sich hierbei noch um eine zulässige Verteidigungshandlung handelte, fehlte es T an einem Tatentschluss in Bezug auf eine strafbare Vereitelungshandlung. Somit hat sie sich nicht wegen versuchter Strafvereitelung strafbar gemacht.Selbst wenn T gedacht hätte, ihr Verhalten wäre strafbar, so würde es sich dabei lediglich um ein strafloses Wahndelikt handeln.
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