Verstoß gegen den Mündlichkeitsgrundsatz - Offenkundige Tatsachen

5. November 2024

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leichtmittelschwer

+++ Sachverhalt (reduziert auf das Wesentliche)

Jurafuchs

A wird verurteilt, weil er aus der Wohnung seiner Ex-Frau F ein wertvolles Armband gestohlen habe. Das Gericht sieht im Urteil von einer Inaugenscheinnahme ab: Die Verhältnisse am Tatort seien „gerichtsbekannt”, da Beisitzer B berichtet, er habe am Vorabend bereits eine „private Beweisaufnahme” in Fs Wohnung vorgenommen.

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Einordnung des Falls

Verstoß gegen den Mündlichkeitsgrundsatz - Offenkundige Tatsachen

Die Jurafuchs-Methode schichtet ab: Das sind die 6 wichtigsten Rechtsfragen, die es zu diesem Fall zu verstehen gilt

1. Verwertet das Gericht Information, die nicht zum Inbegriff der Verhandlung geworden sind, verstößt es gegen § 261 StPO.

Genau, so ist das!

Das Gericht darf als Mittel zur Überzeugungsfindung alles verwenden, was vom Aufruf der Sache bis zu den Schlussvorträgen und dem letzten Wort zum Inbegriff der Verhandlung wurde (§ 261 StPO). Verwertet es entgegen § 261 StPO Informationen, die nicht zum Inhalt der Verhandlung gehören, liegt ein Verfahrensfehler vor (§ 337 StPO).
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2. Zum Inbegriff der Verhandlung (§ 261 StPO) gehört über den Inhalt der Beweisaufnahme hinaus auch das Wissen der einzelnen Richter, das auf die Beweiswürdigung Einfluss nimmt.

Ja, in der Tat!

Zum Inbegriff der Hauptverhandlung gehört neben den für alle Verfahrensbeteiligten erkennbaren unmittelbaren Vorgängen wie der Vernehmung des Angeklagten und der Zeugen auch das in die Überzeugungsbildung und die freie Beweiswürdigung einfließende Wissen der erkennenden Richter. Dieses Wissen muss aber auch zum Gegenstand der Hauptverhandlung gemacht werden. So gehört auch dienstlich oder privat erlangtes Wissen der Richter dazu. § 261 StPO verhindert, dass solches Wissen überraschend Einfluss auf den Prozess nimmt. So muss entsprechendes Wissen etwa durch eine Zeugenvernehmung des Richters oder zumindest durch rechtlichen Hinweis (§ 265 Abs. 1 StPO) eingeführt werden.

3. Müssen auch sog. offenkundige Tatsachen durch Beweiserhebung in die Verhandlung eingeführt werden (vgl. § 244 Abs. 3 S. 3 Nr. 1 StPO)?

Nein!

Zum richterlichen Wissen zählen auch offenkundige Tatsachen. Sie bedürfen – wie § 244 Abs. 3 S. 3 Nr. 1 StPO zeigt – keines förmlichen Beweises. Will das Tatgericht seine Überzeugung auf offenkundige Tatsachen stützen, ist es aber verpflichtet, in der Hauptverhandlung einen entsprechenden Hinweis zu erteilen, welche Tatsachen als offenkundig behandelt werden sollen. Dem Oberbegriff der offenkundigen Tatsachen unterfallen allgemeinkundige und gerichtskundige Tatsachen und wissenschaftlich gesicherte Erfahrungssätze. Gerichtskundig sind Tatsachen, die das erkennende Gericht bzw. seine Mitglieder im Zusammenhang mit ihrer amtlichen Tätigkeit zuverlässig in Erfahrung gebracht haben.

4. B hat die Verhältnisse am Tatort nicht im Rahmen seiner amtlichen Tätigkeit in Erfahrung gebracht, sondern in einer „privaten Beweisaufnahme“.

Genau, so ist das!

Zum richterlichen Wissen rechnen auch offenkundige Tatsachen. Sie bedürfen – wie § 244 Abs. 3 S. 3 Nr. 1 StPO zeigt – keines förmlichen Beweises. Zu den offenkundigen zählen auch die gerichtskundigen Tatsachen. Gerichtskundig sind Tatsachen, die das erkennende Gericht bzw. seine Mitglieder im Zusammenhang mit ihrer amtlichen Tätigkeit zuverlässig in Erfahrung gebracht haben. Beruht die Tatsache auf komplexen, einzelfallbezogenen Wahrnehmung des Richters, müssen diese im Wege der Zeugenvernehmung eingeführt werden, wenn das Gericht sie nicht selbst in Augenschein nimmt.B war zu privaten Zwecken bei der Geschädigten und erlangte so die Kenntnis, nicht in seiner amtlichen Tätigkeit.Das Gericht hat damit § 261 StPO verletzt.

5. Das Gericht hat den Tatort nicht selbst Inaugenschein genommen. Durfte es die Verhältnisse am Tatort nach Bs Schilderungen zum Gegenstand des Urteils machen (§ 261 StPO)?

Nein, das trifft nicht zu!

Nach § 261 StPO dürfen nur Tatsachen zum Gegenstand des Urteils gemacht werden, die das ordnungsgemäß in die mündliche Hauptverhandlung eingeführt hat. Dies setzt grundsätzlich eine ordnungsgemäße Beweisaufnahme voraus, sofern diese im Einzelfall nicht entbehrlich ist (z.B. wegen Offenkundigkeit, § 244 Abs. 3 S. 3 Nr. 1 StPO). Die Verhältnisse am Tatort waren hier gerade nicht offenkundig. Sie hätten daher im Wege der Zeugenvernehmung oder durch Inaugenscheinnahme in den Prozess eingeführt werden müssen. Da dies nicht der Fall ist, verstößt die Verwertung der Tatsachen im Urteil gegen § 261 StPO.

6. A kann erfolgreich in Revision gehen (§ 337 StPO).

Ja!

A kann erfolgreich in Revision gehen, wenn das Urteil auf einem Verfahrensfehler beruht (§ 337 StPO) und er den Fehler darlegen und beweisen kann (§ 344 Abs. 2 StPO).Es ist nicht auszuschließen, dass das Gericht bei ordnungsgemäßem Handeln einen anderen Eindruck vom Tatort erlangen und dies Einfluss auf die Entscheidung nehmen würde. Sie beruht also auf dem Verfahrensfehler. Der Beweis des Verfahrensverstoßes ist durch die Urteilsurkunde und damit ohne Rekonstruktion der Hauptverhandlung möglich. A kann damit erfolgreich in Revision gehen.
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