Strafrecht

Examensrelevante Rechtsprechung SR

Entscheidungen von 2021

BGH setzt Grenzen für Lockspitzel-Einsatz – Jurafuchs

BGH setzt Grenzen für Lockspitzel-Einsatz – Jurafuchs

leichtmittelschwer

+++ Sachverhalt (reduziert auf das Wesentliche)

Jurafuchs Illustration: K übergibt V Marihuana. Die Polizei greift zu.

K betreibt einen schwunghaften Handel mit Kleinmengen an Marihuana. Die Verdeckte Ermittlerin V kauft mehrfach kleinere Mengen, fragt aber stets nach deutlich größeren Lieferungen. K verneint mehrfach. Als es K gelingt, 3kg Marihuana aufzutreiben, wird sie direkt nach der Übergabe festgenommen.

Diesen Fall lösen 84,6 % der 15.000 Nutzer:innen unseres digitalen Tutors "Jurafuchs" richtig.

Einordnung des Falls

Ein Lockspitzel beeinflusst Tatverdächtige im staatlichen Auftrag. Einsatz und Umfang der Einwirkung sind hoch umstritten. Hierbei sind die Folgen eines Verstoßes gegen die Grenzen uneinheitlich. Der EGMR plädiert seit Jahrzehnten für die Annahme eines Verfahrenshindernisses. Währenddessen gingen BGH und BVerfG davon aus, dass in der Regel eine Strafmilderung genüge. So auch das erkennende Gericht hier. Der BGH stellt sich in dieser Entscheidung nun auf die Seite des EGMR und stellt klar, dass bei einer rechtsstaatswidrigen Tatprovokation nur ein Verfahrenshindernis in Betracht komme.

Die Jurafuchs-Methode schichtet ab: Das sind die 7 wichtigsten Rechtsfragen, die es zu diesem Fall zu verstehen gilt

1. Hat K sich des Handeltreibens mit Betäubungsmitteln in nicht geringer Menge schuldig gemacht (§ 29 Abs.1 Nr.1 Var.3, 29a Abs. 1 Nr. 2 BtMG)?

Ja, in der Tat!

Des Handeltreibens mit Betäubungsmitteln macht sich schuldig, wer eigennützig und auf Umsatz gerichtet Betäubungsmittel verkauft (§ 29 Abs.1 Nr.1 Var.3 BtMG). Handelt es sich um eine nicht geringe Menge, so ist zudem die Qualifikation nach § 29a Abs.1 Nr.2 BtMG erfüllt. Die nicht geringe Menge bestimmt sich nach dem reinen Wirkstoff. Bei Marihuana ist eine nicht geringe Menge bei etwa 7,5g Wirkstoff überschritten, das sind bei durchschnittlicher Qualität ca. 55 g brutto. K übergab V 3kg Marihuana um damit Gewinn zu erzielen. Die Delikte des Betäubungsmittelrechts musst Du im Examen nicht beherrschen. Sie dienen hier lediglich als Einstieg.
Jurafuchs 7 Tage kostenlos testen und tausende Fälle wie diesen selbst lösen.
Erhalte uneingeschränkten Zugriff alle Fälle und erziele Spitzennoten in
Jurastudium und Referendariat.

2. Ist es für die Strafbarkeit des K relevant, ob V den K zum Handeltreiben von Betäubungsmitteln provoziert hat?

Ja!

In der Vergangenheit berücksichtigte der BGH die Tatprovokation im Rahmen der Strafzumessung. Eine unzulässige Provokation konnte dabei strafmildernd berücksichtigt werden. Der 2. Senat des BGHs hat sich dagegen 2015 (2 StR 97/14) nach einer Entscheidung des EGMR ("Furcht gegen Deutschland") der Auffassung angeschlossen, dass die rechtsstaatwidrige Tatprovokation als Verfahrenshindernis zu werten ist. Die Einordnung als Verfahrenshindernis führt dazu, dass derTäter nicht nur milder, sondern gar nicht bestraft werden kann. Infolge eines neuerlichen Urteils des EGMR (Akbay u.a. gegen Deutschland), hat sich nun auch der 1. Senat dieser Auffassung angeschlossen und das Festhalten an der „Strafzumessungslösung“ aufgegeben.

3. Liegt nach dem BGH eine rechtsstaatswidrige Tatprovokation vor, wenn eine unverdächtige und nicht tatgeneigte Person durch polizeiliche Tatprovokation zu einer Straftat verleitet wird?

Genau, so ist das!

Nach dem BGH liegt ein tatprovozierendes Verhalten vor, wenn die Verdeckte Ermittlerin mit dem Ziel eine Tatbereitschaft zu wecken über ein bloßeres „Mitmachen“ hinaus stimulierend auf die Täterin einwirkt. Das Verbot der rechtsstaatswidrigen Tatprovokation ergibt sich aus dem Gebot des fairen Verfahrens (Art. 2 Abs. 1 GG i.V.m. Art. 20 Abs. 3 GG sowie Art. 6 Abs. 1 EMRK). Nach dem EGMR liegt eine unzlässige Provokation - und damit eine Verletzung des Art. 6 Abs. 1 EMRK - vor, wenn sich die Ermittlungsperson nicht auf eine "weitgehend passive" Strafermittlung beschränkt. Weitgehend passiv handelt sie, wenn sie auf die Täterin keinen Druck ausübt, die Straftat zu begehen.Trotz unterschiedlichen Ansatzpunkten kommen BGH und EGMR letztlich zu identischen Ergebnissen.

4. Berechtigte der bestehende Anfangsverdacht gegen K bezüglich des Handelns mit Kleinmengen Marihuana V dazu, von K die Lieferung einer großen Menge Marihuana zu verlangen?

Nein, das trifft nicht zu!

Trotz eines bestehenden Anfangsverdacht ist das Handeln der Ermittlerin eine rechtsstaatswidrige Tatprovokation, wenn die Einwirkung im Verhältnis zum Anfangsverdacht „unvertretbar übergewichtig“ ist. Erforderlich ist eine Abwägung, die insbesondere Grundlage und Ausmaß des gegen den Betroffenen bestehenden Verdachts, sowie Art, Intensität und Zweck der Einflussnahme mit einbezieht. Es ist zu prüfen, ob es objektive Anhaltspunkte dafür gab, dass die Täterin bereits tatgeneigt war. K betrieb zwar einen schwunghaften Marihuanahandel. Der bestehende Anfangsverdacht gegen sie bezog sich allerdings lediglich auf Kleinmengen, nicht auf größere Lieferungen.

5. Ist eine rechtsstaatswidrige Tatprovokation vorliegend aber ausgeschlossen, weil V die K lediglich zu einer intensiveren Tatbegehung aufgestiftet hat?

Nein!

Eine Aufstiftung liegt vor, wenn sich die Täterin aufgrund der Einwirkung der Ermittlerin auf eine Intensivierung des Tatplans einlässt oder dadurch bereit ist eine Tat mit erheblich höhere Unrechtsgehalt zu begehen. Im Falle einer Aufstiftung kommt es hinsichtlich des Vorliegens einer unzulässigen Tatprovokation darauf an, ob die Täterin ohne Weiteres auf die Änderungen eingeht oder sich zumindest dazu geneigt zeigt die Tat mit dem höheren Unrechtsgehalt zu begehen. K zögerte lange bevor sie größere Mengen Marihuana besorgte. Sie ging nicht ohne weiteres auf diesen Wunsch ein.

6. Begründet eine rechtsstaatswidrige Tatprovokation ein Verfahrenshindernis?

Genau, so ist das!

In dieser Entscheidung hat sich nach dem 2. Senat nun auch der 1. Senat des BGH der Auffassung angeschlossen, dass die rechtsstaatswidrige Tatprovokation ein Verfahrenshindernis darstellt. Damit dürfte die „Strafzumessungslösung“ bei der Tatprovokation künftig keine Anwendung mehr finden. Ein Verfahrenshindernis führt dazu, dass keine Entscheidung des Gerichts in der Sache ergehen kann. Das Verfahren ist einzustellen (§ 206a StPO; 260 Abs.3 StPO). Für eine Berücksichtigung über ein Beweisverwertungsverbot oder im Rahmen der Strafzumessung ist dann kein Raum mehr.

7. Muss K die Tatprovokation vor Gericht rügen?

Nein, das trifft nicht zu!

Verfahrenshindernisse sind von Amts wegen zu beachten. Anders als für die Geltendmachung eines Beweisverwertungsverbots bedarf es keiner Verfahrensrüge für die Geltendmachung des Verfahrenshindernisses.Auch ohne entsprechende Rüge der K, muss das Gericht das Verfahren einstellen.
Jurafuchs 7 Tage kostenlos testen und tausende Fälle wie diesen selbst lösen.
Erhalte uneingeschränkten Zugriff alle Fälle und erziele Spitzennoten in
Jurastudium und Referendariat.

Jurafuchs kostenlos testen


Fragen und Anmerkungen aus der Jurafuchs-Community

ALE

Aleks_is_Y

30.3.2024, 22:43:57

Würde man im A-Gutachten eine solche Konstellation komplett durchprüfen, oder wie bei einem absoluten

Antragsdelikt

direkt die Prüfung unter Verweis auf das Verfahrenshindernis abbrechen?

AM

Anony Mous

24.4.2024, 15:32:08

Liebes Jura-Fuchs-Team, könntet ihr diese Frage bitte beantworten?


Jurafuchs 7 Tage kostenlos testen und mit 15.000+ Nutzer austauschen.
Kläre Deine Fragen zu dieser und 15.000+ anderen Aufgaben mit den 15.000+ Nutzern der Jurafuchs-Community

Weitere für Dich ausgwählte Fälle

Jurafuchs Illustration: A stiehlt gerade das Sparschwein des B und ist mit einem Besser bewaffnet. B schlägt mit einem zerbrochenen Besenstiel auf As Kopf ein.

Verteidigungswille als einziges Handlungsmotiv? - Jurafuchs

Die Notwehr fordert als subjektives Notwehrelement einen Verteidigungswillen. Dieser muss allerdings nicht das einzige Motiv für die Handlung sein. Allerdings hat der Verteidigungswille das prägende Motiv sein – so der BGH in dieser Entscheidung. Die anderen Beweggründe dürfen hierbei nicht so dominant sein, dass der Wille, sich gegen den gegenwärtigen rechtswidrigen Angriff zu verteidigen, in den Hintergrund rückt.

Fall lesen