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Wirecard-Skandal: Befreiung von der Verschwiegenheitspflicht durch Insolvenzverwalter

Wirecard-Skandal: Befreiung von der Verschwiegenheitspflicht durch Insolvenzverwalter

9. Mai 2023

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leichtmittelschwer

+++ Sachverhalt (reduziert auf das Wesentliche)

Jurafuchs Illustration: J und der neue Vorstand geben Wirtschaftsprüfer W das OK zur Entbindung von der Verschwiegenheitspflicht.

Die Wirecard AG (W-AG) beauftragt Wirtschaftsprüfer W jahrelang mit der Jahresabschlussprüfung. Nachdem bei der W-AG Luftbuchungen in Milliardenhöhe bekannt werden, stellt Vorstand V im Juni 2020 Insolvenzantrag. V legt sein Vorstandsamt nieder. Insolvenzverwalter der W-AG ist Rechtsanwalt J. Im Oktober 2020 wird im Bundestag ein Untersuchungsausschuss in der Sache W-AG eingesetzt. Er beschließt, Beweis durch Vernehmung des W zu erheben. W soll über seine Tätigkeit für die W-AG berichten. Hierfür wird W sowohl von J als auch vom neuen Vorstand von seiner Verschwiegenheitspflicht gegenüber der W-AG entbunden. Eine Entbindung durch den alten Vorstand V fehlt.

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Einordnung des Falls

Der BGH hat durch diesen Beschluss die Aufklärung des Wirecard-Skandals erleichtert und gleichzeitig damit eine Grundsatzentscheidung zur Aufklärung von Wirtschaftsskandalen getroffen. Problematisch war, wer bei einer insolventen Gesellschaft Berufsgeheimnisträger – in diesem Fall die Wirtschaftsprüfer von EY – von der Verschwiegenheitspflicht entbinden muss. In Betracht komme der Insolvenzverwalter oder die ehemaligen Organe des Unternehmens – also der in Untersuchungshaft sitzende Markus Braun oder Jan Marsalek, nach dem weltweit gefahndet wird. Grundsätzlich könne ein Berufsgeheimnisträger nur von seinem Auftraggeber von der Verschwiegenheitspflicht entbunden werden. Für die Entbindungsbefugnis komme es aber maßgeblich darauf an, wer zum Zeitpunkt der Zeugenaussage zur Vertretung des Unternehmens berechtigt sei.

Die Jurafuchs-Methode schichtet ab: Das sind die 9 wichtigsten Rechtsfragen, die es zu diesem Fall zu verstehen gilt

1. Gelten für die Beweiserhebungen des Untersuchungsausschusses die Regeln der StPO sinngemäß?

Ja, in der Tat!

Rechtsgrundlage für die Einsetzung eines Untersuchungsausschusses ist Art. 44 Abs. 1 S. 1 GG. Daneben sind die rechtlichen Grundlagen des Untersuchungsausschusses im „Parlamentarischen Untersuchungsausschussgesetz“ (PUAG) geregelt. Erhebt ein parlamentarischer Untersuchungsausschuss Beweis, finden die Vorschriften über den Strafprozess „sinngemäß Anwendung“ (Art. 44 Abs. 2 GG). Einfachgesetzlich erklärt § 22 Abs. 1 S. 1 PUAG, dass die §§ 53, 53a StPO entsprechend geltend.
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2. Ist W Zeuge?

Ja!

Zeuge ist eine Person, die im Strafverfahren über ihre Wahrnehmung von Tatsachen durch eine Aussage berichten soll, ohne durch eine andere Verfahrensrolle davon ausgeschlossen zu sein (formeller Zeugenbegriff). Beweisgegenstand der Zeugenaussage sind nur vom Zeugen höchstpersönlich wahrgenommene Tatsachen, nicht Meinungen zur oder Schlussfolgerungen aus diesen Tatsachen. W soll über seine Wahrnehmungen im Komplex Wirecard AG aussagen, ist also Zeuge.

3. Haben Berufsgeheimnisträger ein Zeugnisverweigerungsrecht?

Genau, so ist das!

Zeugen stehen zwei Arten von Zeugnisverweigerungsrechten zu, (1) das Zeugnisverweigerungsrecht aus persönlichen Gründen (§ 52 StPO) und (2) aus beruflichen Gründen (§ 53 StPO, Berufsgeheimnisträger). § 53 StPO dient dabei dem Schutz des Vertrauensverhältnisses zwischen bestimmten Berufsangehörigen und den Personen, die ihre Hilfe und Sachkunde in Anspruch nehmen. Der Ratsuchende soll sich trauen können, der Vertrauensperson alles zu offenbaren; die Vertrauensperson soll in keine Zwangslage geraten, in der sie zwischen Wahrung des Vertrauens und Berücksichtigung des Allgemeininteresses an der Aufklärung von Straftaten abwägen muss.

4. Ist W als Wirtschaftsprüfer Berufsgeheimnisträger, sodass er grundsätzlich über ein Zeugnisverweigerungsrecht verfügt?

Ja, in der Tat!

Wirtschaftsprüfer zur Zeugnisverweigerung berechtigt (§ 53 Abs. 1 Nr. 3 Var. 4 StPO). Wirtschaftsprüfer wird man durch Bestellung (§ 15 WiPrO).

5. Macht sich W strafbar, wenn er ohne wirksame Schweigepflichtentbindung dennoch aussagt?

Ja!

§ 53 StPO statuiert nur ein Zeugnisverweigerungsrecht, jedoch keine Verweigerungspflicht. Der Zeuge wird hierdurch also nicht daran gehindert, auszusagen. Wirtschaftsprüfer haben ihren Beruf jedoch verschwiegen auszuüben (§ 43 Abs. 1 S. 1 WPO). Offenbart ein Wirtschaftsprüfer ein fremdes Betriebs- oder Geschäftsgeheimnis, das ihm als Wirtschaftsprüfer anvertraut worden oder sonst bekanntgeworden ist, macht er sich nach § 203 Abs. 1 Nr. 3 StGB strafbar.

6. Können Berufsgeheimnisträger von ihrem Auftraggeber von ihrer Schweigepflicht entbunden werden?

Genau, so ist das!

Berufsgeheimnisträger können von ihrer Verschwiegenheitspflicht entbunden werden und sind dann zur Aussage verpflichtet (§ 53 Abs. 2 S. 1 StPO). Verweigert der Berufsgeheimnisträger dann dennoch die Aussagen, geschieht dies „ohne gesetzlichen Grund“ und kann mit den Sanktionen des § 70 StPO belegt werden (Kostentragung, Ordnungsgeld, Erzwingungshaft). BGH: Ist einem Wirtschaftsprüfer im Rahmen eines bestehenden Auftragsverhältnisses etwas anvertraut oder bekannt geworden, stehe es dem Auftraggeber (Vertragspartner) zu, über eine Entbindung von der Schweigepflicht zu entscheiden; denn die allgemeine berufsrechtliche Pflicht zur Verschwiegenheit gemäß § 43 Abs. 1 S. 1 WPO schütze regelmäßig nur den Auftraggeber (RdNr. 18). Eine juristische Person werde bei der Erklärung über eine Entbindung von der Verschwiegenheitspflicht grundsätzlich durch die zu diesem Zeitpunkt entscheidungsbefugten Organe vertreten (RdNr. 24).

7. Kommt es für die Schweigepflichtentbindung nicht auf den Insolvenzverwalter an, denn dieser verwaltet lediglich das Vermögen der Wirecard AG?

Nein, das trifft nicht zu!

Mit Eröffnung des Insolvenzverfahrens geht die Verwaltungs- und Verfügungsbefugnis über das Vermögen des Schuldners (der Wirecard AG) auf den Insolvenzverwalter über (§ 80 Abs. 1 InsO). Dadurch wird der Insolvenzverwalter für alle Angelegenheiten der Insolvenzmasse alleinzuständig. BGH: Ist über das Vermögen der juristischen Person das Insolvenzverfahren eröffnet und ein Insolvenzverwalter ernannt worden, sei dieser berechtigt, den Berufsgeheimnisträger von der Verschwiegenheitspflicht zu entbinden, soweit sich das Vertrauensverhältnis auf Angelegenheiten der Insolvenzmasse bezieht. Die Dispositionsbefugnis des Geheimnisherrn gehe insoweit gemäß § 80 Abs. 1 InsO auf den Verwalter über. Dessen Verwaltungs- und Verfügungsrechte erstreckten sich nicht ausschließlich auf das Gebiet des Vermögensrechts. Entscheidend sei lediglich, dass das betroffene Vertrauensverhältnis – wie hier – eine Bedeutung für die Insolvenzmasse habe (RdNr. 25).

8. Müssen daneben auch die gegenwärtigen Gesellschaftsorgane, d.h. der gegenwärtige Vorstand den Auftraggeber von der Schweigepflicht entbinden?

Nein!

Aus dem Übergang der Dispositionsbefugnis auf den Insolvenzverwalter (§ 80 Abs. 1 InsO) folgt umgekehrt, dass der Schuldner diese insoweit verliert, wie der Insolvenzverwalter sie erlangt. BGH: Einer zusätzlichen Entbindungserklärung durch gegenwärtige Organe bedürfe es daher im Normalfall nicht.

9. Bedarf Es zusätzlich einer Entbindung durch den früheren Vorstand V, weil sich für diesen negative Folgen aus der Zeugenaussage ergeben können (bspw. Hinweise auf Insolvenzdelikte gem. § 283ff. StGB) und V für die Wirecard AG handelte?

Nein, das ist nicht der Fall!

Eine Entbindung durch V ist nicht erforderlich. BGH: Die AG sei vom Gesetz als eigenständiges Rechtssubjekt anerkannt (§ 1 Abs. 1 AktG). Auftraggeber sei daher auch lediglich die juristische Person, nicht deren Vertreter als natürliche Personen (RdNr. 21). Allein dadurch, dass die Vertreter für die juristische Person handelten, bauten sie noch kein eigenes geschütztes Vertrauensverhältnis zu dem Berufsgeheimnisträger auf. Insbesondere könnten die Interessen der juristischen Person einerseits und der für diese handelnden natürlichen Person andererseits auch auseinanderfallen. Stünde beiden die Entscheidung über die Schweigepflicht zu, beeinträchtigte dies letztlich die juristische Person, in deren Interesse das Vertrauensverhältnis ursprünglich begründet worden sei. Folge wäre nämlich, dass bei widerstreitenden Belangen der juristischen Person und ihres früheren Organs sich das Organ durchsetzen würde, obwohl die juristische Person Vertragspartei des Dienstleistungsverhältnisses sei (RdNr. 23).
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