Öffentliches Recht

Grundrechte

Glaubens- und Weltanschauungsfreiheit (Art. 4 GG)

Glaubensfreiheit: Ablehnung medizinischer Behandlung im Krankheitsfall (Erwachsene)

Glaubensfreiheit: Ablehnung medizinischer Behandlung im Krankheitsfall (Erwachsene)

4. November 2024

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+++ Sachverhalt (reduziert auf das Wesentliche)

Jurafuchs

Eheleute M und F gehören der Religion des evangelischen Brüdervereins an. Nachdem F religiös motiviert eine lebensrettende Bluttransfusion ablehnt, verstirbt sie. Auch M überredet sie nicht, sondern betet lediglich für ihre Genesung. Gericht G verurteilt ihn daraufhin wegen unterlassener Hilfeleistung.

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Einordnung des Falls

Glaubensfreiheit: Ablehnung medizinischer Behandlung im Krankheitsfall (Erwachsene)

Die Jurafuchs-Methode schichtet ab: Das sind die 2 wichtigsten Rechtsfragen, die es zu diesem Fall zu verstehen gilt

1. F hat das Recht, ihr gesamtes Verhalten an den Lehren ihres Glaubens auszurichten und ihrer inneren Glaubensüberzeugung gemäß zu handeln.

Ja, in der Tat!

Die Glaubensfreiheit gewährt in ihrer Ausprägung der religiösen Betätigungsfreiheit (forum externum) die ungestörte Ausübung von Religion in Form von Gebräuchen, Handlungen und Riten. Sie schützt das Recht des Einzelnen, sein gesamtes Verhalten anhand seines Glaubens auszurichten. Der Staat hat die dabei in freier Selbstbestimmung eines einwilligungsfähigen Erwachsenen getroffenen Entscheidungen zu respektieren. F als einwilligungsfähige Erwachsene hat das Recht, ihr gesamtes Verhalten an den Lehren ihres Glaubens auszurichten. Dies umfasst auch die Ablehnung einer lebensrettenden Bluttransfusion. Ihr Verhalten ist somit von der religiösen Betätigungsfreiheit (Art. 4 Abs. 1 und 2 GG) geschützt.
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2. Die Entscheidung des M, F nicht zur Durchführung der Transfusion zu überreden oder anderweitig einzuschreiten, fällt in den Schutzbereich seiner Glaubensfreiheit.

Ja!

Die Glaubensfreiheit schützt das Recht des Einzelnen, sein gesamtes Verhalten anhand seines Glaubens auszurichten. Dieser weite Schutzbereich wird jedoch dahingehend eingeschränkt, dass das streitgegenständliche Verhalten nach geistigem Gehalt und äußerem Erscheinungsbild eine religiös motivierte Handlung sein muss. Dies muss der Grundrechtsträger plausibel machen, die bloße Behauptung reicht nicht aus (Plausibilitätskontrolle). Auch muss der Grundrechtsträger das Verhalten als für sich verpflichtend ansehen. Er muss verständlich darlegen, dass er nicht ohne innere Not von seinem Verhalten abweichen kann. M macht die Ablehnung der Bluttransfusion als Glaubensregel seiner Gemeinschaft plausibel. Er kann nicht ohne innere Not entgegen seiner Überzeugung handeln, wenn er F zur Annahme der nach seiner Religion verbotenen Bluttransfusion überredet. Vielmehr hält er es als für religiös geboten, für die Genesung der F zu beten. Der Schutzbereich der Glaubensfreiheit ist somit eröffnet. Die Ausstrahlungswirkung der Glaubensfreiheit auf die Anwendung und Auslegung des Straftatbestands der unterlassenen Hilfeleistung ist eine Frage der Rechtfertigung. Dazu später mehr.
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Fragen und Anmerkungen aus der Jurafuchs-Community

LI

lililaw

30.1.2023, 17:22:12

Wie ist es in dem Fall, in dem die Eltern für ihr Kind gegen eine lebensrettende Bluttransfusion entscheiden?

DeliktusMaximus

DeliktusMaximus

13.3.2023, 20:15:35

Eine Antwort auf die Frage interessiert mich auch.

DAV

David

6.5.2023, 17:03:44

Ich meine, dass ein ähnlicher Fall irgendwo bei der rechtfertigenden Einwilligung im Strafrecht zu finden ist.

HAGE

hagenhubl

5.10.2024, 10:58:31

Da ist es möglich und üblich, dass der Arzt kurzfristig das Personensorgerecht für das Kind übernimmt und die Eltern es nach der Bluttransfusion zurück erhalten.

AN

anni0910

17.3.2023, 17:59:40

Gilt die Plausibilitätskontrolle eigentlich auch im Bereich der Gewissensfreiheit? Weil hier könnte man ja auch kritisieren, dass der Schutzbereich sonst ausufert, weil man alle möglichen Verhaltensweisen als persönlichen Gewissenskonflikt einordnen könnte. Auf der anderen Seite fällt es dabei schwerer finde ich Anhaltspunkte zu finden. Weil zB bei der Religion stellt man ab auf typisches Verhalten innerhalb der Religionsgemeinschaft, anerkanntes Verhalten etc. Das gibt es im Bereich des gewissens ja so nicht

Nora Mommsen

Nora Mommsen

20.3.2023, 17:34:07

Hallo anni0910, Danke dir für deine Frage! Die Plausibilitätskontrolle findet keine Anwendung, wäre es - wie von dir schon festgestellt - auch durchaus schwierig einen Maßstab für fragliche Plausbilität festzulegen. Die Gewissensentscheidung ist die ernste sittliche (moralische) an den Kategorien von Gut und Böse orientierte Entscheidung, die der Einzelne in einer bestimmten Lage als für sich bindend und unbedingt verpflichtend innerlich erfährt, sodass er gegen sie nicht ohne ernstliche Gewissensnot handeln könnte. Eine ernsthafte u nd wahrhaftige Gewissensnot festzustellen, kann im Einzelfall allerdings schwierig sein. Das l

ehre

n insbesondere die Erfahrungen aus der Zeit vor der Aussetzung der Wehrpflicht – namentlich die bedeutsamen Fälle von Art. 4 Abs. 3 GG. Insofern bleiben – wie es bei jeder Berufung auf ein forum internum nicht anders zu erwarten ist – erhebliche Zweifel an der Justiziabilität der Gewissensfreiheit. Das Bundesverfassungsgericht hat in einem Fall, in dem eine Biologiestudentin die Durchführung von Tierversuchen zu Lehrzwecken aus Gewissensgründen verweigerte und dies offensichtlich im Konflikt mit der Freiheit der L

ehre

stand, darauf zurückgegriffen zu ermahnen. Gewissensfreiheit und Lehrfreiheit seien auszugleichen, um beiden Grundrechtspositionen möglichst weitgehend Rechnung zu tragen. Studierende, die sich auf die Gewissensfreiheit beriefen, müssten zunächst gleichwertige alternative Lehrmethoden darlegen, welche die Hochschull

ehre

r sodann zu prüfen und in Erwägung zu ziehen hätten. Einen allgemeinen Maßstab gibt es also nicht. Problematisch ist dies aber wie von dir schon erkannt in hohem Maße. Viele Grüße, Nora - für das Jurafuchs-Team


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