Strafrecht

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Bloße Anwesenheit am Tatort begründet keinen dringenden Tatverdacht – Jurafuchs

Bloße Anwesenheit am Tatort begründet keinen dringenden Tatverdacht – Jurafuchs

11. Mai 2023

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leichtmittelschwer

+++ Sachverhalt (reduziert auf das Wesentliche)

Jurafuchs Illustration: Eine Gruppe von jungen Erwachsenen stehen aggressiv dem S gegenüber.

S trifft auf eine Gruppe von sieben Männern, unter anderem L. S und L geraten in ein Wortgefecht. Ls Freund F schaltet sich ein und schlägt S unvermittelt auf den Kopf. Dieser geht zu Boden und ist direkt tot. Die anderen Männer aus der Gruppe, auch L, stehen drumherum.

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Einordnung des Falls

Die bloße körperliche Anwesenheit am Tatort begründet keinen dringenden Tatverdacht. Dies hat das BVerfG in einem Fall entschieden, in dem die Staatsanwaltschaft gegen alle Männer Haftbefehle erwirkte, die bei einem tödlichen Angriff auf einen Feuerwehrmann anwesend waren. Vielmehr müsse sich aus dem Haftbefehl gesondert für jeden Beschuldigten die einzelnen Tatbeiträge und das Vorliegen eines Vorsatzes ergeben. Abstrakte Ausführung zur Gefährlichkeit der Gruppe genügten nicht.

Die Jurafuchs-Methode schichtet ab: Das sind die 5 wichtigsten Rechtsfragen, die es zu diesem Fall zu verstehen gilt

1. Darf gegen den Beschuldigten einer Straftat unter bestimmten Voraussetzungen die Untersuchungshaft angeordnet werden (§ 112 StPO)?

Ja, in der Tat!

Die Anordnung der Untersuchungshaft setzt voraus, dass (1) der Beschuldigte einer Straftat dringend verdächtig ist, (2) ein Haftgrund besteht und (3) die Anordnung nicht unverhältnismäßig ist. Dringender Tatverdacht meint bei vorläufiger Tatbewertung die überwiegende Wahrscheinlichkeit, dass der Beschuldigte Täter oder Teilnehmer einer Straftat ist. Die Haftgründe sind Flucht, Fluchtgefahr und Verdunkelungsgefahr sowie der Haftgrund der Schwerkriminalität (§ 112 Abs. 2 und 3 StPO).
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2. Ist L dringend tatverdächtig, an dem Totschlag des S beteiligt gewesen zu sein?

Nein!

Nach den Feststellungen des Gerichts war L nur physisch am Tatort anwesend. BVerfG: Wie das Oberlandesgericht zutreffend feststelle, sei allein die physische Anwesenheit am Tatort nicht strafbar. Selbst wenn man eine objektive Gefährlichkeit gruppendynamischer Prozesse annähme, müsse zusätzlich der Vorsatz des Verdächtigen anhand konkreter Tatsachen begründet werden (RdNr. 68, 69).

3. Kann die Untersuchungshaft ohne Weiteres angeordnet werden, wenn eine Katalogtat der Schwerkriminalität vorliegt (§ 112 Abs. 3 StPO)?

Nein, das ist nicht der Fall!

Der Haftgrund der Schwerkriminalität (§ 112 Abs. 3 StPO) setzt nach dem Wortlaut nur voraus, dass der Beschuldigte hinsichtlich einer Katalogtat, unter anderem Mord oder Totschlag, dringend verdächtig ist. Hierzu entschied jedoch das Bundesverfassungsgericht in einer früheren Entscheidung, dass die Vorschrift verfassungskonform dahingehend ausgelegt werden muss, dass zusätzliche Umstände vorliegen müssen, die die Gefahr begründen, dass ohne eine Festnahme die baldige Aufklärung der Tat gefährdet sein könnte.

4. Bestand für den 17-jährigen Auszubildenden L der Haftgrund der Schwerkriminalität (§ 112 Abs. 3 StPO)?

Nein, das trifft nicht zu!

Für die Annahme des dringenden Tatverdachts einer Katalogtat genügt auch der Verdacht der Beihilfe. Bejaht man hier den dringenden Tatverdacht, liegt nach dem Wortlaut ein Haftgrund vor. BVerfG: Allein die Feststellung, dass dem in der Straferwartung der Beihilfe zum Totschlag begründeten Fluchtanreiz bei einem 17-jährigen Ausländer, der sich noch in der Ausbildung befindet, keine ausreichenden Bindungen entgegenstehen, reiche jedoch zur Begründung dieses Haftgrundes bei verfassungskonformer Auslegung nicht aus (RdNr. 74).

5. Wird durch die rechtswidrige Anordnung der Untersuchungshaft der Beschuldigte in seinem Grundrecht auf Freiheit verletzt (Art. 2 Abs. 2 S. 2 i.V.m. Art. 104 GG)?

Ja!

BVerfG: Die Freiheit der Person dürfe nur aus besonders gewichtigen Gründen und unter strengen formellen Gewährleistungen eingeschränkt werden. Zu diesen Gründen gehörten in erster Linie solche des Strafrechts und des Strafverfahrensrechts (RdNr. 61). Freiheitsentziehungen anordnende Beschlüsse müssten dafür so hinreichend tief begründet sein, dass sie auch für den Betroffenen die Abwägung des Gerichts am Grundsatz der Verhältnismäßigkeit erkennen lassen und dafür die Umstände des Einzelfalls ausreichend berücksichtigen (RdNr. 65).
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Fragen und Anmerkungen aus der Jurafuchs-Community

Leonard John

Leonard John

10.9.2020, 08:02:39

Im Sachverhalt steht nichts von Untersuchungshaft, das sollte mal noch ergänzt werden.

Eigentum verpflichtet 🏔️

Eigentum verpflichtet 🏔️

17.9.2020, 19:19:50

Hallo Leonard, danke für deine Anmerkung. Unseres Erachtens ergibt sich aus den Fragen nach der Untersuchungshaft im Zusammenhang mit dem Sachverhalt gerade der Sinn dieser Aufgabe. Denn es geht darum, gegen wen, aus welchen Gründen Untersuchungshaft verhängt werden kann.

Isabell

Isabell

17.9.2020, 17:52:45

Der Haftgrund der Schwerskriminalität muss verfassungskonform ausgelegt werden. Er greift erst, wenn Fluchtgefahr oder Verdunkelungsgefahr möglich sind. Die Begehung der genannten Katalogtaten reicht nicht aus.

Eigentum verpflichtet 🏔️

Eigentum verpflichtet 🏔️

17.9.2020, 19:21:04

Hallo Isabell danke für deine Anmerkung! In unserer dritten Frage gehen wir ja auf die von dir angesprochene Problematik ein. Was genau würdest du noch ergänzen?

Max.S

Max.S

23.1.2022, 16:42:55

Zum Beispiel konkret die Definition von Katalogtaten, das habe ich bis jetzt noch nicht ganz verstanden. Liebe Grüße 😊


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