Öffentliches Recht
Examensrelevante Rechtsprechung ÖR
Entscheidungen von 2021
Polizeirechtliche Sicherstellung: Entscheidungserheblicher Zeitpunkt?
Polizeirechtliche Sicherstellung: Entscheidungserheblicher Zeitpunkt?
+++ Sachverhalt (reduziert auf das Wesentliche)
Am 18.03. beobachtet eine Polizeistreife (P), wie K in Bonn mit seinem Auto Schlangenlinien fährt und von der Fahrbahn abkommt. P hält K an. K hat starre Pupillen und Vorstrafen im Betäubungsmittelbereich. P entdeckt € 4.265 Bargeld. K kann die Herkunft nicht erklären. P stellt das Geld sicher.
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Einordnung des Falls
Polizeirechtliche Sicherstellung: Entscheidungserheblicher Zeitpunkt?
Die Jurafuchs-Methode schichtet ab: Das sind die 12 wichtigsten Rechtsfragen, die es zu diesem Fall zu verstehen gilt
1. K will gegen die Sicherstellung klagen. Der Verwaltungsrechtsweg ist nach § 40 Abs. 1 S. 1 VwGO eröffnet.
Ja, in der Tat!
Jurastudium und Referendariat.
2. K erhebt Klage zum VG. K begehrt erstens, dass die Sicherstellung des Geldes aufgehoben wird. Ist die Anfechtungsklage (§ 42 Abs. 1 Alt. 1 VwGO) statthaft?
Ja!
3. Mit der Klage zum VG begehrt K zweitens die Herausgabe der € 4.265 nebst Zinsen. Ist hierfür die Verpflichtungsklage (§ 42 Abs. 1 Alt. 2 VwGO) statthaft?
Nein, das ist nicht der Fall!
4. Nach der mündlich angeordneten Sicherstellung wird K am 18.03. ein inhaltsgleicher Aktenvermerk mit Rechtsbehelfsbelehrung formlos übergeben. Darin steht, die Klagefrist habe begonnen mit Zustellung der Verfügung. War Ks Klageerhebung am 23.04. fristgerecht?
Ja, in der Tat!
5. Die Anfechtungsklage mit Vollzugsfolgenbeseitigungsbegehren ist begründet, soweit die Sicherstellung rechtswidrig war, K in seinen Rechten verletzte, und K einen Herausgabeanspruch über € 4.265 zzgl. Zinsen hat.
Ja!
6. K wird an der niederländischen Grenze gefunden, das Geld war drogenszenetypisch gestückelt, K vorbestraft. Geht deshalb von dem Geld eine gegenwärtige Gefahr aus (§ 43 Nr. 1 PolG NRW)?
Genau, so ist das!
7. Aufgrund der Umstände ging P außerdem davon aus, dass das Geld selbst aus einem illegalen Drogengeschäft stammte. Kann dies auch auf eine zukünftige Verwendung des Geldes in Drogengeschäften hindeuten?
Ja, in der Tat!
8. Nach Erlass der Sicherstellung ergab die Auswertung einer Blutprobe von K, dass dieser am 18.03. nicht wie von P angenommen unter dem Einfluss von Betäubungsmitteln stand. War die Maßnahme daher rechtswidrig?
Nein!
9. K hat einen Anspruch auf Herausgabe des Geldes nach den Voraussetzungen des Vollzugsfolgenbeseitigungsanspruchs.
Nein, das ist nicht der Fall!
10. K könnte aber einen Herausgabeanspruch haben, wenn die Voraussetzungen der rechtmäßigen Sicherstellung nachträglich entfallen sind (§ 46 Abs. 1 S. 1 PolG NRW). Kommt es hierfür auch auf den Zeitpunkt der behördlichen Maßnahme an?
Nein, das trifft nicht zu!
11. K hat einen Anspruch auf Herausgabe des sichergestellten Geldes nach § 46 Abs. 1 S. 1 PolG NRW, weil die Voraussetzungen der Sicherstellung nachträglich entfallen sind.
Ja!
12. K hat einen Anspruch auf Zahlung von Zinsen in Höhe von fünf Prozentpunkten über dem Basiszinssatz aus §§ 291 S. 1, 288 Abs. 1 S. 2, 246 BGB analog.
Genau, so ist das!
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Fragen und Anmerkungen aus der Jurafuchs-Community
Bienenschwarmverfolger
18.11.2022, 22:43:03
Zu dem Klausur- und Vertiefungshinweis zum
Annexantrag: Wäre die materiell-rechtliche AGL hier nicht eher der „normale“ FBA und nicht der öff-rechtl. Erstattungsanspruch? Letzterer ist ja eher bereicherungsrechtlich „angehaucht“ und hier geht es mE eher nicht um eine Vermögensverschiebung, sondern um präventivpolizeilichen Gewahrsam. Das entscheidende Tatbestandsmerkmal der AGL wäre dann mMn auch nicht „keine
Duldungspflicht“ (öff-rechtl.
Unterlassungsanspruch), sondern „rechtswidriger Zustand, der noch andauert“.
dmedicus
22.11.2022, 18:00:41
Genau mein Gedanke...
se.si.sc
19.12.2022, 10:17:29
Die Entscheidung des OVG Münster, auf dem der Fall beruht, scheint es ähnlich zu sehen. Die Herausgabe der sichergestellten Geldscheine wird dort auf § 46 I 1 PolG NRW gestützt, weswegen die Differenzierung zwischen FBA und öffentlich-rechtlichem Erstattungsanspruch (ÖEA) dort zwar nicht getroffen werden muss. Zumindest iRd begehrten Zinsen heißt es aber, dass weder § 46 PolG NRW noch der allgemeine FBA als Grundlage ausreichen, der ÖEA wird dagegen überhaupt nicht erwähnt. Andererseits habe ich nach kurzer Recherche ein Urteil des VG Gießen gefunden (vom 9.10.2012, Az. 4 K 905/12.GI), in dem die Herausgabe von Bargeld gerade auf den ÖEA gestützt wird. Dort war das Bargeld ursprünglich nach der StPO beschlagnahmt worden, nachdem diese Beschlagnahme gerichtlich für rechtswidrig erklärt wurde, versuchte man es seitens der Polizei dann noch mit der präventiven Sicherstellung. Letztlich dürfte damit m.E. in Klausursituationen beides vertretbar sein, zumal FBA und ÖEA ja ohnehin nicht überschneidungsfrei nebeneinander stehen.
Friederike Boelitz
23.4.2023, 07:34:13
Wichtig ist es glaube ich bei solch einem Fall eine Augenkrankheit die auch für die staren Augen sprechen kann auszuschließen. Evtl wäre es daher ratsam als Verteidiger Augenärztliche Diagnostik mit heranzuziehen. Sollte diese Geld kosten könnte dann der Kläger für die Kosten aufkommen müssen falls die Drogen Wahrscheinlichkeit deswegen sinkt oder ist das Indiz des typisch Drogenhandel zerstückeltem Geld stärker zu bewerten?
Friederike Boelitz
23.4.2023, 07:26:16
Es lässt sich zwar stark vermuten dass hier von illegalen Drogen auszugehen ist steht, aber nicht explizit im Fall Kaffee , Zigaretten und co sind auch Drogen doch legal für Erwachsene oder ab 16 ich finde es wichtig dass abzugrenzen.
Lukas_Mengestu
24.4.2023, 09:27:05
Danke für den Hinweis, Pia. In den Fragen haben wir das noch ein wenig präzisiert. Im Sachverhalt hatten wir aufgenommen, dass K wegen Betäubungsmitteldelikten vorbestraft war. Dies betrifft insoweit illegale Drogengeschäfte, nicht dagegen den Verkauf/Handel mit legalen Drogen wie Alkohol oder Zigaretten. Beste Grüße, Lukas - für das Jurafuchs-Team
Simon
9.11.2023, 00:35:33
Könnte man hier auch darauf abstellen, dass die Wahrscheinlichkeit besteht, dass K das Geld durch unerlaubten Btm-Handel erlangt hat? Dann hätte ich auf eine Gefahr für den staatlichen Anspruch auf Einziehung der Taterträge nach § 73 StGB abgestellt (als Schaden für die Funktionsfähigkeit des Staates). Zugegebenermaßen ist die Interpretation der Lösung hier naheliegender, aber trotzdem frage ich mich, ob die andere Sichtweise (noch) vertretbar wäre :)
Aleks_is_Y
15.3.2024, 11:40:24
Ohne Anknüpfung an Recht(sprechug) und Gesetz würde ich sagen, dass die Ansicht nur sehr schwer zu vertreten ist. Das allgemeine Verwaltungsrecht und das Polizeirecht sollen keine Verlängerung der StPO sein. Wenn die Strafverfolgungs
behörden gerade keine Straftat festellen konnten und die Ermittlungen abgeschlossen haben, wodurch ein Grund für StPO-Maßnahmen entfallen ist, wäre es zumindest unbillig die betroffene Person weiter mit polizeirechtlichen Maßnahmen zu belangen.
as.mzkw
28.8.2024, 08:56:58
Vermutlich eine sehr dumme Frage, aber wo prüft man in der Klausur nochmal den entscheidungserheblichen Zeitpunkt?
CR7
28.8.2024, 22:05:15
Keine Frage ist "dumm". Du kannst es hier im Ermessen prüfen bei der Sicherstellung.
as.mzkw
29.8.2024, 10:54:05
Danke dir! @[CR7](145419)
Tobias Krapp
30.8.2024, 15:05:22
Hallo as.mzkw, ergänzend zu der Antwort von CR7: Soweit es darum geht, ob der Umstand für die Frage, ob eine Gefahr vorlag, berücksichtigungsfähig ist, solltest du schon bei der Definition des Gefahrbegriffs darauf hinweisen, dass es auf die ex ante Sicht ankommt. In der Subsumtion kannst du dann darlegen, dass ein bestimmter Umstand wie hier erst nachträglich bekannt wurde und daher für das Vorliegen einer Gefahr irrelevant ist. Geht es um übrige, ermessensrelevante Umstände, solltest du es im Ermessen verorten. Viele Grüße - für das Jurafuchsteam - Tobias
luca28
1.10.2024, 19:36:54
hätte man hier nicht doch die Verpflichtungsklage annehmen müssen, wenn man davon ausgeht, dass die Sicherstellung ein VA ist müsste doch nach der actus contrarius Theorie auch die Herausgabe ein VA darstellen oder?