Öffentliches Recht

Grundrechte

Glaubens- und Weltanschauungsfreiheit (Art. 4 GG)

Tragen eines Gesichts-verhüllenden Schleiers (Niqab/Burka)

Tragen eines Gesichts-verhüllenden Schleiers (Niqab/Burka)

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+++ Sachverhalt (reduziert auf das Wesentliche)

Jurafuchs

Die Musliminnen S und F tragen einen Ganzkörperschleier, der lediglich die Augen zeigt (Niqab). S trägt die Niqab aus religiöser Überzeugung. F wird von ihrem Bruder gezwungen. Der Gesetzgeber erlässt ein Niqab-Verbot mit dem Argument, dem Koran lasse sich keine Pflicht zum Niqab-Tragen entnehmen.

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Einordnung des Falls

Tragen eines Gesichts-verhüllenden Schleiers (Niqab/Burka)

Die Jurafuchs-Methode schichtet ab: Das sind die 3 wichtigsten Rechtsfragen, die es zu diesem Fall zu verstehen gilt

1. Der Staat ist befugt, eine bestimmte Interpretation des Korans für verbindlich zu erklären.

Nein, das ist nicht der Fall!

Die Glaubensfreiheit (Art. 4 Abs. 1 und 2 GG) ermöglicht es, religiöse Überzeugungen zu bilden oder sich diesen anzuschließen (forum internum) sowie seinen Glauben kundzutun und entsprechend zu handeln (forum externum). Bei der Auslegung religiöser Glaubensvorschriften ist der Staat nicht befugt, eine Interpretation verbindlich festzulegen. Vielmehr bleibt der Staat religiös neutral. Für die Auslegung maßgeblich ist das religiöse Selbstverständnis der Gläubigen. Dieses muss jedoch plausibel dargelegt werden. Der Staat ist nicht befugt, eine bestimmte Interpretation des Korans für verbindlich zu erklären. Eine solche Deutungshoheit würde den Schutzgehalt der Glaubensfreiheit unterlaufen. Anders als etwa in Frankreich herrscht in Deutschland keine Laizität, also eine vollständige Distanz des Staates zur Religion. Nach deutschem Rechtsverständnis pflegt der Staat eine wohlwollende Neutralität in dem Sinne, dass er das Leben von Religionsgemeinschaften in Deutschland schützen muss und fördern kann.
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2. Ist das Tragen einer Niqab vom Schutzbereich der Glaubensfreiheit (Art. 4 Abs. 1 und 2 GG) erfasst, obwohl nicht alle Muslime dem Koran eine Pflicht zum Niqab-Tragen entnehmen?

Ja, in der Tat!

Ein Verhalten fällt unter die religiöse Betätigungsfreiheit, wenn es nach geistigem Gehalt und äußerem Erscheinungsbild eine religiös motivierte Handlung. Ob dies der Fall ist, richtet sich auch nach dem Selbstverständnis der betroffenen Religion(sgemeinschaft). Das bedeutet, das jeweilige Verhalten muss nach geistigem Gehalt und äußerer Erscheinung als Glaubensregel der betreffenden Religion plausibel erscheinen. Es reicht jedoch aus, dass ein Verhalten unter verschiedenen Richtungen einer Religionsgemeinschaft verbreitet ist. Es muss kein uneingeschränkter Konsens innerhalb der Gemeinschaft bestehen. Das Tragen einer Niqab fällt in den Schutzbereich der Glaubensfreiheit (Art. 4 Abs. 1 und 2 GG). Dem steht nicht entgegen, dass nicht alle Muslime dem Koran eine Pflicht zum Niqab-Tragen entnehmen.

3. Ist das Tragen einer Niqab vom Schutzbereich der Glaubensfreiheit (Art. 4 Abs. 1 und 2 GG) erfasst, auch wenn die Frau zum Tragen der Niqab gezwungen wird?

Nein!

Wird das Niqab-Tragen von der Gläubigen als für sich religiös verpflichtend betrachtet, von dem sie nicht ohne innere Not abweichen kann, ist der Schutzbereich der Glaubensfreiheit eröffnet. Diese subjektiv empfundene Verbindlichkeit muss mit Blick auf das Selbstverständnis der zugehörigen Glaubensgemeinschaft von der Gläubigen plausibel gemacht werden. Wird die Niqab aus Motiven des äußeren Zwangs oder zur öffentlichen Darstellung der Ungleichheit von Mann und Frau getragen, fällt dies nicht unter den Schutz der Religionsfreiheit. Indem S die Niqab aus eigener religiöser Überzeug trägt, fällt ihr Verhalten in den Schutzbereich der Glaubensfreiheit (Art. 4 Abs. 1 und 2 GG). Das Niqab-Tragen der F, die dazu von B gezwungen wird, steht hingegen nicht unter dem Schutz der Glaubensfreiheit. In der Konsequenz könnte der Gesetzgeber das aufgezwungene Tragen einer Niqab leicht verbieten, weil die Glaubensfreiheit dem nicht entgegenstünde. Ein Verbot religiös motiviert getragener Niqabs wäre hingegen ein Eingriff in die Glaubensfreiheit und somit rechtfertigungsbedürftig.
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