Öffentliches Recht
Grundrechte
Glaubens- und Weltanschauungsfreiheit (Art. 4 GG)
Tragen eines Gesichts-verhüllenden Schleiers (Niqab/Burka)
Tragen eines Gesichts-verhüllenden Schleiers (Niqab/Burka)
+++ Sachverhalt (reduziert auf das Wesentliche)
Die Musliminnen S und F tragen einen Ganzkörperschleier, der lediglich die Augen zeigt (Niqab). S trägt die Niqab aus religiöser Überzeugung. F wird von ihrem Bruder gezwungen. Der Gesetzgeber erlässt ein Niqab-Verbot mit dem Argument, dem Koran lasse sich keine Pflicht zum Niqab-Tragen entnehmen.
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Einordnung des Falls
Tragen eines Gesichts-verhüllenden Schleiers (Niqab/Burka)
Die Jurafuchs-Methode schichtet ab: Das sind die 3 wichtigsten Rechtsfragen, die es zu diesem Fall zu verstehen gilt
1. Der Staat ist befugt, eine bestimmte Interpretation des Korans für verbindlich zu erklären.
Nein, das ist nicht der Fall!
Jurastudium und Referendariat.
2. Ist das Tragen einer Niqab vom Schutzbereich der Glaubensfreiheit (Art. 4 Abs. 1 und 2 GG) erfasst, obwohl nicht alle Muslime dem Koran eine Pflicht zum Niqab-Tragen entnehmen?
Ja, in der Tat!
3. Ist das Tragen einer Niqab vom Schutzbereich der Glaubensfreiheit (Art. 4 Abs. 1 und 2 GG) erfasst, auch wenn die Frau zum Tragen der Niqab gezwungen wird?
Nein!
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Fragen und Anmerkungen aus der Jurafuchs-Community
Free Palestine
25.4.2023, 19:06:40
Vielleicht als islamischer Theleologe ein kleiner Hinweis: Der sog. Schleier, der den ganzen Körper mit Ausnahme der Augen bedeckt wird Niqab genannt. Die Burka ist ein Kleidungsstück aus Afghanistan und eher die Seltenheit unter den Vollverschleierungen.
Lukas_Mengestu
5.1.2024, 16:18:03
Vielen Dank für den Hinweis! Wir haben das in der Aufgabe präzisiert! Beste Grüße, Lukas - für das Jurafuchs-Team
TomBombadil
24.6.2024, 05:19:51
Könnte sich der Bruder der gezwungenen denn darauf berufen, dass er für sich das Tragen der Vollverschleierung durch seine Schwester als zwingend begreift, sodass seine Handlung durch die Religionsfreiheit umfasst wäre, oder reicht diese nur bis zur Person des Geundrechtsträgers, sodass dieser nicht seinerseits auf andere "zugreifen" kann?
julia_purpose
26.9.2024, 14:16:08
Hallo @[TomBombadil](23400), Die Religionsfreiheit aus Art. 4 GG umfasst sowohl individuelle als auch kollektive Aspekte des Glaubens. Jedoch endet sie dort, wo die Rechte anderer Personen beeinträchtigt werden. Das bedeutet, eine Person hat zwar das Recht, ihre eigenen religiösen Überzeugungen auszuleben, aber nicht das Recht, andere Personen zu zwingen, diese Überzeugungen ebenfalls zu befolgen. In negativer Hinsicht umfasst der Schutzbereich des Art. 4 GG hier für die gezwungene Schwester, dass sie sich auch dagegen entscheiden kann, ihre religiösen Überzeugungen nach außen zu tragen. Da jeder Mensch ein eigenes Individuum mit eigenen Grundrechten ist, kann hier nicht das Bedürfnis des Bruders, seine Schwester zu etwas zu zwingen, ihr eigenes Recht auf freie Ausübung ihrer Grundrechte überwiegen. Der Bruder könnte also nicht erfolgreich argumentieren, dass seine eigene Religionsfreiheit das Recht umfasst, seine Schwester zum Tragen einer Verschleierung zu verpflichten. Die Religionsfreiheit schützt die individuelle Entscheidung und Praxis, nicht aber die Durchsetzung dieser Praxis bei anderen gegen deren Willen. Es gibt in diesem Kapitel auch ein Beispiel, in dem ein Professor seine Studenten jeden Morgen dazu zwingen möchte, ein Gebet mit ihm zu sprechen. Das ist ein ähnlich gelagerter Fall, der auf die selbe Weise zu beantworten ist: Niemand kann dazu gezwungen werden, die religiösen Ansichten und Praktiken eines anderen ausführen zu müssen. Das Ganze lässt sich für ein besseres Verständnis auch in einem Gedankenspiel umdrehen: Wo kämen wir als Gesellschaft hin, wenn man plausibel machen könnte, alle anderen müssten die eigenen religiösen Praktiken ausführen und dazu gezwungen werden? Die Auswirkungen einer solchen Annahme wären in einem freien Rechtsstaat nicht zu rechtfertigen und völlig unvertretbar.