Grundrechte der GrCh als Prüfungsmaßstab der Verfassungsbeschwerde ("Recht auf Vergessen II")
+++ Sachverhalt (reduziert auf das Wesentliche)
Geschäftsführerin G wird 2010 in der NDR-Doku „Fiese Arbeitgeber-Tricks“ ein unfairer Umgang mit einem gekündigten Mitarbeiter vorgeworfen. Bei einer Google-Namenssuche der G wird die Doku 2017 unter den vorderen Treffern angezeigt. G begehrt erfolglos die Entfernung des Links.
Einordnung des Falls
Grundrechte der GrCh als Prüfungsmaßstab der Verfassungsbeschwerde ("Recht auf Vergessen II")
Die Jurafuchs-Methode schichtet ab: Das sind die 15 wichtigsten Rechtsfragen, die es zu diesem Fall zu verstehen gilt
1. Neben den Grundrechten des Grundgesetzes findet stets auch die Charta der Grundrechte der Europäischen Union (GrCh) Anwendung.
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Nein, das trifft nicht zu!
2. Der vorliegende Fall betrifft aufgrund seines erkennbaren Bezugs zum europäischen Datenschutzrecht die „Durchführung von Unionsrecht“ (Art. 51 Abs. 1 S. 1 GrCh).
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Ja!
3. Im vollständig unionsrechtlich determinierten Bereich sind grundsätzlich allein die Unionsgrundrechte (GrCh) anwendbar, denn diese haben gegenüber den Grundrechten des GG Anwendungsvorrang.
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Genau, so ist das!
4. Der Anwendungsvorrang des Unionsrechts gilt ausnahmslos.
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5. Beurteilungsmaßstab der Verfassungsbeschwerde (Art. 93 Abs. 1 Nr. 4a GG, § 13 Nr. 8a BVerfGG) sind grundsätzlich nur die Grundrechte des Grundgesetzes.
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Ja!
6. Im vollständig unionsrechtlich determinierten Bereich kontrolliert das BVerfG die Rechtsanwendung durch deutsche Stellen am Maßstab der Unionsgrundrechte (GrCh).
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Genau, so ist das!
7. In Zukunft können auch die Unionsgrundrechte (GrCh) Prüfungsmaßstab einer Verfassungsbeschwerde (Art. 93 Abs. 1 Nr. 4a GG, § 13 Nr. 8a BVerfGG) vor dem BVerfG sein.
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Ja, in der Tat!
8. Der vorliegende Fall ist vom BVerfG nach den Unionsgrundrechten (GrCh) zu beurteilen.
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Ja!
9. Die Unionsgrundrechte sind vom BVerfG nach den gleichen Grundsätzen zu prüfen, die auch für die Grundrechte des GG gelten.
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Nein, das ist nicht der Fall!
10. Die Grundrechte der GrCh gelten auch in privatrechtlichen Streitigkeiten.
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Ja, in der Tat!
11. S kann sich auf ihre Grundrechte auf Achtung des Privat- und Familienlebens (Art. 7 GrCh) und auf Schutz personenbezogener Daten (Art. 8 GrCh) berufen.
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12. Auf Seiten des Suchmaschinenbetreibers ist sein Recht auf unternehmerische Freiheit (Art. 16 GrCh) in die Abwägung einzustellen.
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Genau, so ist das!
13. Ebenfalls in die Abwägung einzustellen sind die Meinungsfreiheit der verlinkten Inhalteanbieter (hier des NDR) sowie die Informationsinteressen der Nutzer.
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Ja, in der Tat!
14. Im Rahmen der Abwägung der widerstreitenden Grundrechte überwiegen vorliegend die Grundrechte der G (Art. 7 und 8 GrCh).
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Nein!
15. Die Verfassungsbeschwerde der G ist begründet.
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Nein, das ist nicht der Fall!
Fundstellen
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Elisabeth
7.8.2020, 16:02:54
Womit kann ich die „direkte Wirkung“ Dritter (hier die G glaube ich) bezüglich der Charta-Grundrechte begründen? Oder ist das quasi systemisch durch die Konzeption der GrCharta vorausgesetzt?

Lukas_Mengestu
30.7.2021, 14:54:45
Hervorragende Frage, Elisabeth! Dogmatisch ist dies nämlich gar nicht so einfach zu begründen. Denn Art. 51 GR-Charta sieht eine horizontale Wirkung zwischen Privaten eigentlich nicht vor, vielmehr werden lediglich die Union und die Mitgliedsstaaten als Adressaten genannt. Dies hindert den EuGH indes nicht, dennoch von einer unmittelbaren Drittwirkung auszugehen, um die praktische Wirksamkeit ("effet util") der Grundrechte sicherzustellen (Schwarze/Becker/Hatje/Schoo, EU-Kommentar, GRC, 4.A. 2019, Art. 51 Rn. 22). Es handelt sich also um eine sehr ergebnisorientierte Begründung. Diese unmittelbare Wirkung der Grundrechte sei aber nur möglich, wenn die Normen keiner weiteren Konkretisierung bedürfen und ihnen ausreichende Anhaltspunkte für eine solch unmittelbare Bindung entnommen werden können (zur Nichtdiskriminierung nach Art. 21 GRC: EuGH, 17.4.2018, Rs. C-414/16 ("Egenberger"); zum Urlaubsanspruch aus Art. 31 Abs. 2 GRC: EuGH, 6.11.2018 - C-569/16, NZA 2018, 1467 ("Bauer")) . Bloßen Grundsätzen, die noch konkretisiert werden müssen (zB Art. 27 GRC, EuGH, Urt. v. 15.1.2014, C-176/12, NZA 2014, 193) kommt dagegen keine eigenständige Wirkung zu. (Jarass, Charta der Grundrechte der EU, 4. A, Art. 51 Rn. 41). Beste Grüße, Lukas - für das Jurafuchs-Team
juliptrs
30.8.2020, 23:18:01
Dass die GG-Grundrechte im determinierten Bereich kein Prüfungsmaßstab sind liegt nicht daran, dass die GRCh-Grundrechte Anwendungsvorrang hätten, sondern daran, dass das determinierende Sekundärrecht (hier: die DatenschutzRL) Anwendungsvorrang hat.
Melanie 🐝
13.9.2021, 17:15:25
Examens Treffer Bawü Herbst 2021
Melanie 🐝
13.9.2021, 17:16:23
Bloß in anderer Einkleidung
Wendelin Neubert
15.9.2021, 17:09:44
Danke liebe Melanie!

Eileen112358
19.7.2023, 15:50:27
Im SV fehlt mir die Information, dass G freiwillig ein Interview gegeben hat, um die Frage korrekt zu beantworten.
Nilson2503
23.9.2023, 18:53:35
Könnte man nicht auch eine zeitliche Grenze dahingehend ziehen, dass das freiwillige Interview irgendwann argumentativ an Bedeutung verliert? Sollte nicht jedenfalls Jahrzehnte später die Möglichkeit bestehen, dass das Löschungsinteresse Vorrang genießt? Diese Endgültigkeit sagt mir nicht wirklich zu. Zumal auch so viele Jahre nach dem Interview das tatsächliche öffentliche Informationsinteresse an einer NDR Doku von vor 10 Jahren doch mehr als fragwürdig erscheint.