Fall 2: Anforderungen an die Ermächtigungsgrundlage (Art. 80 GG) nicht erfüllt


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Der Bundestag beschließt ein Gesetz zur Energiewende, wonach Deutschland aus der Kohleförderung aussteigen soll. Das Gesetz ermächtigt den Bundeswirtschaftsminister, eine Verordnung zum Ausstieg zu einem von ihm für richtig gehaltenen Zeitpunkt zu erlassen. Das Gesetz regelt, dass durch die Verordnung Rechte aus Art. 12 und 14 GG eingeschränkt werden dürfen.

Einordnung des Falls

Fall 2: Anforderungen an die Ermächtigungsgrundlage (Art. 80 GG) nicht erfüllt

Die Jurafuchs-Methode schichtet ab: Das sind die 4 wichtigsten Rechtsfragen, die es zu diesem Fall zu verstehen gilt

1. Der Bundeswirtschaftsminister kann aufgrund des Gesetzes nur eine rechtmäßige Verordnung erlassen, wenn das Ermächtigungsgesetz selbst rechtmäßig ist.

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Ja!

Die Rechtmäßigkeit einer untergesetzlichen Norm setzt voraus, dass sie (1)auf der Grundlage einer (formell und materiell) rechtmäßigen Rechtsgrundlage ergangen ist und die Verordnung selbst (2) formell sowie (3) materiell rechtmäßig ist. Die Rechtmäßigkeit einer Bundesverordnung zum Ausstieg aus der Braunkohleförderung setzt zunächst voraus, dass das Gesetz zur Energiewende (= Ermächtigungsgesetz) formell und materiell rechtmäßig ist.

2. Ist ein formeller Fehler des Ermächtigungsgesetzes erkennbar?

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Nein, das ist nicht der Fall!

Eine Verordnungsermächtigung (= formelles Gesetz) ist formell rechtmäßig, wenn sie vom zum Erlass kompetenten Hoheitsträger unter Einhaltung der anwendbaren Form- und Verfahrensvorschriften erlassen wurde. Zu beachten ist unter anderem Art. 19 Abs. 1 S. 2 GG (Zitiergebot). Danach muss die Verordnungsermächtigung angeben, welche konkreten Grundrechte durch die zu erlassende Verordnung eingeschränkt werden dürfen. Weiterhin gilt es, Art. 82 GG zu beachten. Das Verfahren richtet sich nach Art. 76 ff. GG. Es sind keine Zuständigkeits-, Form- oder Verfahrensfehler ersichtlich. Insbesondere enthält die Ermächtigung einen Verweis darauf, welche Grundrechte eingeschränkt werden dürfen.

3. Die Verordnungsermächtigung müsste in materieller Hinsicht vor allem den Vorgaben aus Art. 80 Abs. 1 GG genügen.

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Ja, in der Tat!

Die materielle Rechtmäßigkeit einer Verordnungsermächtigung setzt voraus, dass das Gesetz im Einklang mit den Grundrechten und anderem materiellen Verfassungsrecht steht. Besonders relevant ist der Bestimmtheitsgrundsatz (Art. 80 Abs. 1 S. 2 GG), wonach Inhalt, Zweck und Ausmaß der erteilten Ermächtigung im formellen Gesetz genau bestimmt sein müssen. Die Ermächtigung muss so präzise gefasst sein, dass schon aus ihr und nicht erst aus der auf sie gestützten Verordnung im Grundsatz erkennbar und voraussehbar ist, was aufgrund des Gesetzes geregelt werden wird. Die Verordnungsermächtigung aus dem Gesetz zur Energiewende müsste inhaltlich bestimmt genug sein.

4. Der Bundesminister erhält hier die Entscheidungsmacht darüber, ob und wann ein Braunkohleausstieg erfolgt. Ist das Ausmaß der Ermächtigung hinreichend bestimmt?

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Nein!

Nach Art. 80 Abs. 1 S. 2 GG muss die Verordnungsermächtigung den Inhalt, Zweck und Ausmaß einer Verordnung genau bestimmen und damit auch begrenzen. Der Gesetzgeber darf der Exekutiven keinen „Blankoscheck“ zur Regelung eines Bereiches ausstellen. Zwar kann eine Verordnungsermächtigung dem Adressaten grundsätzlich Ermessen in der Frage eingeräumt werden, ob er von der Ermächtigung Gebrauch machen will. Dieses Ermessen darf jedoch nicht soweit gehen, dass der Verordnungsgeber darüber entscheidet, ob ein Gesetz überhaupt zur Anwendung kommt. Das Gesetz regelt keinen Zeitpunkt zum Ausstieg aus der Braunkohle. Es ist damit nicht erkennbar, ob und zu wann ein Ausstieg beschlossen werden wird. Die Exekutive hat damit faktisch eine Entscheidungsmacht darüber, ob der gesetzlich beschlossene Kohleausstieg eintritt. Das Ausmaß der Ermächtigung ist zu unbestimmt und unbegrenzt. Das Ermächtigungsgesetz ist nicht mit Art. 80 Abs. 1 S. 2 GG vereinbar. Es ist materiell verfassungswidrig. Zudem verstößt das Gesetz gegen den vom BVerfG entwickelten Wesentlichkeitsgrundsatz.

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SN

Sniter

17.6.2023, 09:51:20

Hi, ihr schreibt dass das Ermessen zulässig ist, wenn es sich darauf bezieht, ob der Verordnungsgeber von der Ermächtigung Gebrauch macht. Ermessen sei unzulässig, wenn es so weit geht, dass der Verordnungsgeber darüber entscheidet, ob das Gesetz überhaupt zur Anwendung kommt. Ich frage mich, wo der Unterschied liegt? Wenn der VO-Geber die Möglichkeit des Gebrauchmachens entscheiden darf, dann folgt daraus doch automatisch, dass er auch bestimmt, ob die VO überhaupt zur Anwendung kommt? Oder hab ich gerade einen Denkfehler... Danke und BG


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