Öffentliches Recht
Examensrelevante Rechtsprechung ÖR
Klassiker im Öffentlichen Recht
Befreiung vom Schwimmunterricht für Muslimin (BVerwG, 11.09.2013 - 6 C 25.12)
Befreiung vom Schwimmunterricht für Muslimin (BVerwG, 11.09.2013 - 6 C 25.12)
+++ Sachverhalt (reduziert auf das Wesentliche)
K ist Muslima und möchte vom Schwimmunterricht befreit werden, weil die islamischen Bekleidungsvorschriften nicht erlaubten, dass Mädchen und Jungen gemeinsam am Schwimmunterricht teilnähmen. Die staatliche Schule lehnt ihren Antrag ab.
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Einordnung des Falls
Befreiung vom Schwimmunterricht für Muslimin (BVerwG, 11.09.2013 - 6 C 25.12)
Die Jurafuchs-Methode schichtet ab: Das sind die 13 wichtigsten Rechtsfragen, die es zu diesem Fall zu verstehen gilt
1. K erhebt Klage. Ist der sachliche Schutzbereich der Glaubensfreiheit (Art. 4 Abs. 1 GG) eröffnet?
Ja!
Jurastudium und Referendariat.
2. Hat die Schule durch die Ablehnung des Antrags auf Befreiung vom Schwimmunterricht in den Schutzbereich der Glaubensfreiheit (Art. 4 Abs. 1 GG) eingegriffen?
Genau, so ist das!
3. Die Glaubensfreiheit (Art. 4 Abs. 1 GG) ist von so hohem Rang, dass sie schrankenlos gewährt wird. Eine Rechtfertigung des Eingriffs scheidet daher aus.
Nein, das trifft nicht zu!
4. Art. 7 Abs. 1 GG begründet einen umfassend zu verstehenden staatlichen Bildungs- und Erziehungsauftrag und gewährt dem Staat das Recht, die Modalitäten des Unterrichts festzulegen.
Ja!
5. Das Grundrecht auf Glaubensfreiheit sowie das staatliche Bestimmungsrecht im Schulwesen stehen sich gleichrangig gegenüber.
Genau, so ist das!
6. Die staatlichen Wirkungsbefugnisse im Schulbereich können bereits auf abstrakt-genereller Ebene das Grundrecht auf Glaubensfreiheit beschränken.
Ja, in der Tat!
7. Der Glaubensfreiheit (Art. 4 Abs. 1 GG) wird im schulischen Kontext hinreichend durch das staatliche Neutralitäts- und Toleranzgebot Rechnung getragen.
Nein!
8. Der Grundsatz praktischer Konkordanz fordert einen wechselseitig schonenden Ausgleich kollidierender Verfassungsgüter auf konkret-individueller Ebene.
Genau, so ist das!
9. Solange die Beeinträchtigung der Glaubensfreiheit nicht von besonderer Intensität ist, genießt der staatliche Bildungs- und Erziehungsauftrag Vorrang.
Ja, in der Tat!
10. Eine besonders gravierende Beeinträchtigung der Glaubensfreiheit kommt nur in Betracht, sofern das religiöse Verhaltensgebot aus Sicht des Betroffenen imperativen Charakter aufweist.
Ja!
11. K hat einen Anspruch auf Befreiung vom gemeinsamen Schwimmunterricht, obwohl sie die Möglichkeit hat, einen Ganzkörperbadeanzug („Burkini“) zu tragen.
Nein, das ist nicht der Fall!
12. K meint, dass sie nicht mit dem Anblick von Männern bzw. Jungen in knapper Kleidung konfrontiert sein darf. Muss die Schule deswegen getrennten Schwimmunterricht einführen?
Nein, das trifft nicht zu!
13. Die Ablehnung von Ks Antrag auf Unterrichtsbefreiung war rechtmäßig
Ja!
Fundstellen
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Fragen und Anmerkungen aus der Jurafuchs-Community
IsiRider
2.11.2022, 20:30:03
Nochmal zur praktischen Konkordanz: Welches Verhältnis zwischen den Grundrechten vorliegt, entnehme ich woraus? Wann ist es ein Gut von Verfassungsrang? Ich dachte, entscheidend sei wie die jeweilige Person ihren Glauben versteht und auslebt. Mich hat die Formulierung irritiert mit der Orientierung an allgemeinen religiösen Geboten.
Nora Mommsen
3.11.2022, 11:23:00
Hallo IsiRider,
Rechtsgütervon Verfassungsrang sind zum einen die Grundrechte, zum anderen die sich aus den verfassungsimmanenten Schranken ergebenden Schutzgüter. Zudem gibt es Gemeinschaftsgüter mit Verfassungsrang wie beispielsweise das Prinzip wehrhafter Demokratie oder die Funktionsfähigkeit der Rechtspflege. Während Grundrechte sich in der Regel gleichrangig gegenüber stehen, sind Gemeinschaftsgüter oftmals durch punktuelle und individuelle Freiheitsausübung des Einzelnen wenn überhaupt nicht wesentlich beeinträchtigt. Wird zum Beispiel glaubensbedingt - also unter Rückgriff auf Art. 4 Abs. 1 GG - der Eid verweigert, wird die Rechtspflege nicht nennenswert gefährdet. Daher stehen Gemeinschaftsgüter im direkten Konflikt oftmals hinten an. Die Eröffnung des Schutzbereichs der Glaubensfreiheit muss wie du richtig gesagt hast für jeden Einzelfall ermittelt werden. Zwar ist darauf abzustellen, ob der einzelne plausibel darlegt, dass das vermeintliche Verhalten einen Eingriff in seine individuell verstandene Glaubensfreiheit darstellt. Allerdings kann der Einzelne objektive Gebote von Glaubensgemeinschaften für sich geltend machen. Relevant ist dabei, dass er dieses als imperativ empfindet. Zu prüfen ist also, ob (1) das generelle Glaubensgebot verletzt wird und (2) der Einzelne plausibel dargestellt hat, dass er dies als verbindlich empfindet. Viele Grüße, Nora - für das Jurafuchs-Team
Magnum
13.9.2024, 12:30:06
Welche Auswirkung haben die zwei Ebenen (abstrakt-generell und konkret-individuell) der praktischen Konkardanz aufeinander? Was folgt aus der Aussage, dass der staatliche Schulauftrag abstrakt-generell dazu geeignet ist, die Glaubensfreiheit einzuschränken? Würde ich andernfalls schon hier aus der Prüfung ausscheiden und der Klage zu Gunsten der Glaubensfreiheit stattgeben?
Whale
8.11.2024, 11:54:08
Die abstrakt-generelle Gewichtung sowie die Eingriffsintensität verkörpern für mich immer die Punkte, die mitbestimmen, wie beide sich gegenüberstehende Positionen bei der Abwägung innerhalb der Prüfung der Angemessenheit (Verhältnismäßigkeit im engeren Sinne), konkret bei der konkret-individuellen Gewichtung, ins Rennen starten - die Startumstände sozusagen. Ich baue die Angemessenheitsprüfung immer folgendermaßen auf: a. Prüfungsmaßstab b. Abstrakte(-generelle) Gewichtung c. Eingriffsintensität d. Abwägung (konkret-individuelle Gewichtung) Ich sehe hier keine Möglichkeit, bereits an diesem Punkt aus der Prüfung auszusteigen, insbesondere wenn es sich um den Eingriff in ein Grundrecht handelt, was nur durch kollidierende Verfassungsgüter eingeschränkt werden kann. Wenn eine Prüfung bei der abstrakt-generellen Abwägung scheitert, würde das heißen, dass das eine Grundrecht immer gegenüber dem anderen Vorrang genießt, was in unserer Verfassung so nicht vorgesehen ist.
Whale
8.11.2024, 13:02:15
Ich habe in Fall gerade allerdings diesen Satz hier gefunden, scheint ein Ausnahmefall zu sein, wo man schon auf der abstrakt generellen Ebene die Prüfung zugunsten der Schule beendet: „Solange keine besonders gravierende Beeinträchtigung vorliegt, bedarf es demnach keiner weitergehenden Abwägung im Einzelfall, weil über die Zuordnung der konkurrierenden Positionen bereits abschließend, auf abstrakt-genereller Ebene durch die Verfassung entschieden ist“ Ich hoffe, das kann deine Frage in etwa beantworten.
Whale
8.11.2024, 11:58:59
Am Ende der Aufgabe wird erwähnt, dass ein getrennter Schwimmunterricht Art. 7 I GG aushöhlen würde und deswegen nicht als valide Alternative zur Verpflichtung an der Teilnahme am Schwimmunterricht angesehen werden kann. Dies klingt für mich, wie die Prüfung der Erforderlichkeit, aber bei der Erforderlichkeit passiert noch keine Abwägung, danit fließt hier ja auch die Prüfung der Angemessenheit mit rein. wo also sollte man den Punkt am besten in der Klausur erwähnen?