Grundfall: Extremfall (Folter)

19. Februar 2025

13 Kommentare

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leichtmittelschwer

+++ Sachverhalt (reduziert auf das Wesentliche)

Jurafuchs

Rapper X wird wegen Überfalls auf einen Goldtransporter zu einer Haftstrafe verurteilt. Um X zur Preisgabe des Verstecks der Beute zu zwingen, setzen die Justizvollzugsbeamten in der Haft Elektroschocks gegen X ein.

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Einordnung des Falls

Grundfall: Extremfall (Folter)

Die Jurafuchs-Methode schichtet ab: Das sind die 3 wichtigsten Rechtsfragen, die es zu diesem Fall zu verstehen gilt

1. Sind die Justizvollzugsbeamten verpflichtet, die Menschenwürde (Art. 1 Abs. 1 GG) des X zu achten?

Ja, in der Tat!

Aus dem Wortlaut von Art. 1 Abs. 3 GG folgt, dass die vollziehende Staatsgewalt unmittelbar an die Grundrechte gebunden ist. Die Grundrechte umfassen nach ganz herrschender Ansicht auch die Menschenwürde gemäß Art. 1 Abs. 1 GG.Die Justizvollzugsbeamten gehören zur vollziehenden Staatsgewalt. Sie handeln im Rahmen der Haft dem X gegenüber in dieser Funktion. Sie sind insofern dem X gegenüber unmittelbar an die Grundrechte gebunden und haben dessen Menschenwürde zu achten.Das BVerfG und die ganz herrschende Lehre ordnen die Menschenwürde als Grundrecht ein. Vereinzelte Gegenansichten lehnen jede subjektive Dimension des Art. 1 Abs. 1 GG ab. Die Argumente werden an anderer Stelle des Kurses vertieft.
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2. Der persönliche Schutzbereich der Menschenwürde ist eröffnet.

Ja!

Die Menschenwürde schützt in persönlicher Hinsicht jeden Menschen und damit jede natürliche Person. X ist als natürliche Person vom persönlichen Schutzbereich der Menschenwürde umfasst. Der persönliche Schutzbereich ist somit eröffnet.

3. Ist der sachliche Schutzbereich der Menschenwürde vorliegend eröffnet?

Genau, so ist das!

Nach der Objektformel ist die Menschenwürde betroffen, wenn ein bestimmter Mensch zum Objekt staatlichen Handelns gemacht wird. Dies ist insbesondere der Fall, wenn ein Mensch als vertretbare Größe einer Abwägung oder als bloßes Mittel zum Zweck staatlichen Handelns eingestuft wird. X wird mittels der Elektroschocks physisches Leid zugefügt. Dies geschieht einzig zum Zweck der Erlangung einer Aussage. X wird damit zum bloßen Mittel staatlichen Handelns eingestuft. Um den Zweck zu erreichen, wir das physische Leid des X in Kauf genommen. X wird mithin zum Objekt staatlichen Handelns gemacht. Der sachliche Schutzbereich der Menschenwürde (Art. 1 Abs. 1 GG) ist eröffnet. In der konkreten Anwendung der Objektformel haben sich verschiedene Fallgruppen herausgebildet. Hierzu zählt auch die Folter als offenkundiger Fall einer Menschenwürdeverletzung. Bei der hier beschriebenen Verhörmethode mit Elektroschocks handelt es sich um einen Fall von Folter. Die Fallgruppen können dir helfen, ein Gefühl dafür zu entwickeln, ob eine Menschenwürdeverletzung in Betracht kommt. Du wirst die Fallgruppen im weiteren Verlauf des Kurses kennenlernen. In der Klausur solltest du aber immer am konkreten Fall unter die Objektformel subsumieren.
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Fragen und Anmerkungen aus der Jurafuchs-Community

Burumar🐸

Burumar🐸

2.4.2023, 14:38:24

Wäre Art 104 I S 2 hier nicht spezieller? Wie verhält sich die Norm zur Menschenwürde?

kaan00

kaan00

6.1.2024, 11:51:50

!reminder

Wendelin Neubert

Wendelin Neubert

30.1.2025, 15:21:37

Danke für Deine Frage @[Burumar🐸](172315)! In der Tat steht Art. 104 Abs. 1 S. 2 GG in einem engen Zusammenhang mit der Menschenwürde, aber er ist nicht spezieller i.S.v. lex specialis. Das Misshandlungsverbot des Art. 104 Abs. 1 S. 2 GG ist vielmehr Ausfluss der Menschenwürde und damit unter Beachtung von Art. 1 Abs. 1 GG auszulegen. Art. 104 Abs. 1 S. 2 GG ergänzt das Folterverbot, das in Art. 1 Abs. 1 S. 1 GG enthalten ist, sowie das Folterverbot aus Art. 3 EMRK. Seine einfachgesetzliche Umschreibung findet Art. 104 Abs. 2 S. 1 GG in

§ 136a StPO

. Der Anwendungsbereich von Art. 104 Abs. 1 S. 2 GG ist ausweislich seines Wortlauts enger als der weitergehende, allgemeine Schutz der Menschenwürde. Hoffe das hilft! Beste Grüße - Wendelin für das Jurafuchs-Team

Alexandra Sawenko

Alexandra Sawenko

23.4.2024, 09:17:32

Hi, ich habe mehrfach gelesen, dass die Objektsformell erst unter dem Eingriff thematisiert wird und nicht im sachlichen Schutzbereich, wo die Leistungs- und Mitgifttheorie thematisiert werden, da sie Ansätze der positiven Bestimmung des sachlichen Gehalts der Menschenwürde darstellen. Das BVerfG bedient sich jedoch der

Objektformel

, die dem Begriff negativ über den Eingriff definiert.

QUIG

QuiGonTim

19.6.2024, 14:32:21

Ich habe einmal gelernt, dass es in Menschenwürde-Fällen ratsam sei vom dreistufigen Aufbau (Schutzbereich - Eingriff - Rechtfertigung) abzuweichen und stattdessen etwas freier zunächst zu schildern, dass sich die Menschenwürde nicht sinnvoll positiv bestimmen lasse und sie daher negativ, vom (nicht zu rechtfertigenbden) Eingriff her zu bestimmen sei. Liege ich damit falsch?

LUC1502

luc1502

1.8.2024, 11:54:10

Hu @[QuiGonTim](133054), du liegst überhaupt nicht falsch damit; vielmehr macht auch das BVerfG diese Prüfung aus der Perspektive des "potenziellen Eingriffs" her; du kannst hier quasi "Schutzbereich und Eingriff gleichzeitig prüfen" eben weil sich der Schutzbereich der Menschenwürde positiv kaum bestimmen lässt. Ich hoffe, das hilft dir!


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