Strafrecht
Examensrelevante Rechtsprechung SR
Entscheidungen von 2017
Aussetzung eines widerstandsunfähigen Mädchens bei Kälte
Aussetzung eines widerstandsunfähigen Mädchens bei Kälte
+++ Sachverhalt (reduziert auf das Wesentliche)
T, H und O feiern nachts im Januar und trinken große Mengen Alkohol. O ist so betrunken, dass sie nicht mehr ansprechbar ist. T und H legen die spärlich bekleidete O in einem verlassenen Hinterhof bei Temperaturen um den Gefrierpunkt ab. Sie nehmen eine Unterkühlung billigend in Kauf, einen Erfrierungstod jedoch nicht. O wird am nächsten Morgen mit einer starken Unterkühlung gefunden.
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Einordnung des Falls
Der BGH rügt in dieser Entscheidung das Urteil der Vorinstanz. Die Täter hatten das widerstandsunfähige Opfer bei Temperaturen um den Gefrierpunkt in der Kälte gelegt. Hier kommt laut dem BGH nicht nur eine gefährliche Körperverletzung in Betracht, sondern auch eine Aussetzung. Dies hatte das Ausgangsgericht nicht in Betracht gezogen. In dem Ablegen in der Kälte liegt jedoch das Versetzen in eine hilflose Lage und die Gefahr einer schweren Gesundheitsschädigung, mithin eine Aussetzung.
Die Jurafuchs-Methode schichtet ab: Das sind die 5 wichtigsten Rechtsfragen, die es zu diesem Fall zu verstehen gilt
1. Haben T und H sich wegen versuchten Totschlages gem. §§ 212 Abs. 1, 22, 23 Abs. 1, 25 Abs. 2 StGB strafbar gemacht, indem sie O in den Hinterhof verbrachten?
Nein!
Jurastudium und Referendariat.
2. Haben T und H sich nach h.M. gemäß §§ 224 Abs. 1 Nr. 5, 25 Abs. 2 StGB wegen mittäterschaftlicher gefährlicher Körperverletzung strafbar gemacht, indem sie O in den Hinterhof verbrachten?
Genau, so ist das!
3. Liegt eine hilflosen Lage vor, wenn sich das Opfer in konkreter Todesgefahr befindet?
Nein, das trifft nicht zu!
4. Haben T und H sich wegen Aussetzung in Mittäterschaft strafbar gemacht gemäß § 221 Abs. 1 Nr. 1, 25 Abs. 2 StGB, indem sie O in den Hinterhof verbrachten?
Ja!
5. Könnten T und H sich zudem der Aussetzung in Mittäterschaft nach § 221 Abs. 1 Nr. 1, 25 Abs. 2 StGB strafbar gemacht haben?
Genau, so ist das!
Prüfungsschema
Wie prüfst Du die Aussetzung (§ 221 StGB)?
- Rechtswidrigkeit
- Schuld
- Erfolgsqualifikation gem. § 221 Abs. 2 Nr. 2 oder Abs. 3 StGB
- Strafzumessung, § 221 Abs. 4 StGB (minder schwerer Fall des § 221 Abs. 2, 3 StGB)
- Tatbestandsmäßigkeit
- Subjektiver Tatbestand: Vorsatz
- Objektiver Tatbestand
- Tathandlung: Versetzen (Nr. 1) oder Im-Stich-Lassen (Nr. 2)
- Taterfolg: Eintritt konkreter Gefahr des Todes oder schwerer Gesundheitsschädigung
- Kausalität und objektive Zurechnung zwischen Handlung und Erfolg
- evtl. Qualifikation gem. § 221 Abs. 2 Nr. 1 StGB
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Fragen und Anmerkungen aus der Jurafuchs-Community
ri
4.10.2021, 23:35:43
Also kommt es bei der das Leben gefährdenden Behandlung entscheidend auf die Kenntnis der Umstände an, welche die Lebensgefahr begründen? Lebensgefahr hört sich so nach Tötungs
vorsatzan, aber ist es ja anscheinend nicht. Hier kannten die Täter nur die Umstände, aber sie hielten es nicht mal für möglich, dass das Opfer stirbt / in Lebensgefahr kommt. Das Wissens-Element ist also das Kennen der Umstände. Und das Wollens-Element? In-Kauf-Nehmen der Umstände/ Gefahr daraus?
Lukas_Mengestu
5.10.2021, 11:09:21
Hallo ri, super Punkt. Die Abgrenzung ist an dieser Stelle wirklich nicht ganz einfach und auch nicht ganz unumstritten. Nach der Rechtsprechung bezieht sich der
Vorsatzim Hinblick auf die
Lebensgefährdende Behandlung aber wirklich nur auf die Umstände ("ich weiß es ist gefährlich und ich will dich dieser Gefahr aussetzen"), ohne dass
Vorsatzim Hinblick auf den konkreten Erfolg vorliegt (=keine Billigung, kein Ernstnehmen der Möglichkeit des Todes). Insofern kommt allenfalls eine fahrlässige Tötung in Betracht, sofern das Opfer tatsächlich versterben würde. Beste Grüße, Lukas - für das Jurafuchs-Team
Johaennzen
28.1.2022, 15:36:26
Ich finde die pauschale Verneinung, dass §221 keine konkrete Gefahr fordert schwierig. Nach Hardtung in MüKO §221 Rn. 20f. handelt es sich bei §221 I um ein konkretes Gefährdungsdelikt. Auch die letzte Lösung subsumiert mit der „Zufalls-Argumentation“ ja in diese Richtung. Ist es nicht so, dass man bei §221 als zweiaktites Delikt 1. die abstrakte Gefährlichkeit & 2. die konkrete Gefahr (Tod/schwere
gesundheitsschädigung) darstellt? Denn dann würde ich das klarstellen, die reine Verneinung der Notwendigkeit einer konkreten Gefahr bei §221 finde ich jedoch schwierig🤔
Lukas_Mengestu
31.1.2022, 16:50:05
Vielen Dank für Deinen Hinweis, Johaennzen. In der Tat bedarf es für die Vollendung der Aussetzung einer konkreten Gefahr, sonst liegt lediglich ein strafloser Versuch vor. Wir haben das in der Aufgabe nun entsprechend klargestellt. Beste Grüße, Lukas - für das Jurafuchs-Team
Blaumax
16.11.2022, 17:51:55
Wieso eigentlich keine gefährliche KV mit einem anderen gemeinschaftlich, §§ 224 I Nr. 4, Nr. 5, 25 II StGB?
Lukas_Mengestu
18.11.2022, 10:47:39
Hallo Blaumax, interessanter Punkt. Der BGH hat sich mit diesem Merkmal nicht näher auseinandergesetzt. Grund hierfür dürfte vor allem sein, dass es im Hinblick auf das Merkmal der "Gemeinschaftlichkeit" einer hierdurch bewirkten zusätlich abstrakt erhöhten Gefährlichkeit bedarf. Eine solche kann darin liegen, dass durch die Mitwirkung einerseits die Angreiferseite massiver vorgehen kann und andererseits Fähigkeit oder Bereitschaft des Opfers zu Verteidigung oder Flucht herabgesetzt sein kann. Also zählen nur solche Mitwirkungen, bei denen das der Fall sein kann, nämlich: (1) Der Beteiligte schreitet tatsächlich ein, indem er verletzt, festhält, an der Flucht hindert usw (dann ist es einerlei, ob das Opfer ihn wahrnimmt oder nicht) oder (2) er ist tatsächlich unterstützungsbereit und wird vom Opfer auch so wahrgenommen oder (3) er ist zwar tatsächlich nicht unterstützungsbereit, aber suggeriert dem Opfer die Unterstützungsbereitschaft.Maßgeblich ist nicht die Anwesenheit des Beteiligten am Tatort, sondern die gefahrerhöhende Mitwirkung. (MüKoStGB/Hardtung, 4. Aufl. 2021, StGB § 224 Rn. 37). Eine solch gesteigerte abstrakte Gefährlichkeit wurde hier vermutlich abgelehnt, da O ohnehin nicht mehr ansprechbar bzw. verteidigungsfähig war. Ein anderes Ergebnis ist hier aber mE durchaus vertretbar. Beste Grüße, Lukas - für das Jurafuchs-Team
Blaumax
18.11.2022, 11:02:41
Klasse! Danke für die tolle Antwort.
Lukas_Mengestu
18.11.2022, 11:08:44
Sehr gerne :-)
kokapidis
31.7.2023, 10:52:19
Handelt es sich bei der
Tathandlungdes § 224 I Nr. 5 StGB hier nicht um ein Unterlassen? Also die Lebensgefahr tritt nicht dadurch ein, dass die O in den Hinterhof verbracht wird. Vielmehr tragen T & H die O nicht weg bzw. verbringen Sie nicht in eine Umgebung in der kein Erfrieren droht. Also besteht der Schwerpunkt der
Vorwerfbarkeitin dem Liegenlassen und nicht in dem Verbringen in den Hinterhof. Ist das vertretbar oder sollte man auf das Verbringen in den Hinterhof als
Tathandlungabstellen?
Leo Lee
2.8.2023, 16:37:01
Hallo kokapidis, wie von dir angemerkt könnte auf den ersten Blick eine
gefährliche Körperverletzung durch Unterlassenvorliegen. Beachte jedoch, dass die Abgrenzung zwischen Tun und Unterlassen nach der h.M. aufgrund der sog. Schwerpunkt der Verwertbarkeit bewertet wird. Hierbei ist die Frage zu stellen, welcher "Teil" des Geschehens "schlimmer" ist: Der Teil mit dem Tun, oder mit dem Unterlassen? Übertragen auf den hiesigen Fall bedeutet das: T und H haben zwar die O in der Kälte liegen lassen; jedoch ist das "Schlimmere" am Geschehen, dass T und H die O überhaupt dort hingebracht haben und nicht dass sie anschließend die O dort liegen gelassen haben. Es ist in der Tat nicht immer einfach, Tun und Unterlassen klar abzugrenzen, weshalb im vorliegenden Fall eine
gefährliche Körperverletzung durch Unterlassenebenfalls vertretbar sein dürfte :) Liebe grüße Leo
Leo Lee
2.8.2023, 16:37:27
@[Lukas_Mengestu](136780)
kokapidis
2.8.2023, 18:22:16
Lieber Leo Lee, vielen Dank für deine Antwort. Ich frage mich allerdings weiter, warum der Schwerpunkt der
Vorwerfbarkeitauf dem Verbringen in den Hinterhof liegt. Ohne dir zu nahe treten zu wollen, stellst du die Behauptung auf, dass das Hinbringen "schlimmer" ist, aber begründest es nicht. Erst das Ausharren in der Kälte begründet eine Gefahr zu erfrieren und diese Gefahr besteht, weil die O liegen gelassen wurde. Wer mit wenig Klamotten in einen Hinterhof gebracht wird, droht dadurch nicht automatisch zu erfrieren. Man kann auch in einen Hinterhof gehen, um die betrunkene O aus der Öffentlichkeit zu entfernen und sich zu besprechen, wie man nun vorgehen will. Solange man O anschließend wieder von diesem Ort entfernt, besteht keine Gefahr. Daher liegt der Schwerpunkt der
Vorwerfbarkeitauf dem Unterlassen des Wegbringens. Das bestätigt sich auch, wenn man beide Modalitäten isoliert voneineander betrachtet. Einen alkoholisierten wenig bekleideten Menschen an einem beliebigen Ort draußen in der Kälte liegen zu lassen, ist in jedem Fall strafrechtlich relevant. Je nach Erfolg und
Vorsatzkommen §§ 212, 13 / §§ 223, 13 / § 221 I Nr. 2 / § 323c StGB etc. in Betracht. Einen leicht bekleideten alkoholisierten Menschen in einen Hinterhof zu verbringen ist maximal eine Nötigung § 240 StGB. Also welche Gründe sprechen dafür einen Schwerpunkt der
Vorwerfbarkeitin dem Verbringen zu sehen, wenn man als Alternative das Liegenlassen hat. Da sehe ich persönlich nichts Überzeugendes. Übersehe ich da etwas?
Linne_Karlotta_
17.9.2024, 15:20:24
Hallo @[kokapidis](14792), ich denke, dass deine Argumentation sich in diesem Fall durchaus vertreten lässt und hier im Ergebnis nichts ändern dürfte, da die Täter eine Garantenstellung aus Ingerenz haben. Allerdings hat das Landgericht Hamburg im Originalfall wohl auf ein Handeln abgestellt, auch der BGH hat § 13 StGB im Zusammenhang mit §
224 StGBin diesem Fall nicht erwähnt. Wenn man nicht auf ein
aktives Tun, sondern auf ein Unterlassen abstellt, kann das zu einer Besserstellung des Täters führen, sofern eine Garantenstellung nicht zu begründen ist. Daher wird die Begründung, auf welches
Tun oder Unterlassenabgestellt werden muss, auch oft „vom Ergebnis her“ gedacht (siehe hierzu z.B. Schönke/Schröder, StGB vor § 13, RdNr. 158ff, beck-online). In diesem Fall könnte man sich die Frage stellen, ob man es den Tätern wirklich nicht (schwerpunktmäßig) vorwerfen sollte, dass sie eine betrunkene, leicht bekleidete Person, die sich nicht mehr selbst helfen kann, in die Kälte verbringen. Der BGH schreibt dazu noch: „Das Ablegen eines spärlich bekleideten, schwerstalkoholisierten Menschen im Freien bei einer Außentemperatur von etwa Null Grad Celsius begründet für sich genommen typischerweise eine
abstrakte Gefahrfür dessen Leben im Sinne von § 224 Abs. 1 Nr. 5 StGB als Folge einer Unterkühlung.“ Hier wird also bereits auf das Ablegen abgestellt. Ob es sich hier nur um eine Ungenauigkeit des BGH handelt, weil es im Ergebnis sowieso keinen Unterscheid macht, vermag ich nicht zu sagen. In einer Klausur wäre in diesem Fall mit den entsprechenden Argumenten wohl beides vertretbar. Es kommt nur drauf an, dass das Problem erkannt und diskutiert wird, was du ja gut gemacht hast :) Einen entsprechenden Hinweis habe ich in der Aufgabe als Vertiefung ergänzt. Viele Grüße – Linne, für das Jurafuchs-Team
hagenhubl
17.9.2024, 10:16:55
Linne_Karlotta_
17.9.2024, 15:24:42
Hey @[hagenhubl](233869), in diesem Fall kann man auch auf das „Verbringen in die Kälte“ als
aktives Tunabstellen. Schaue dazu gerne in diesen älteren Thread: https://applink.jurafuchs.de/daQcDP9WXMb Viele Grüße – Linne, für das Jurafuchs-Team
Arno
6.11.2024, 11:09:00
Wird nicht eine schwere
Gesundheitsschädigungdes Opfers iSd § 221 II Nr 2 StGB bei einer schweren Unterkühlung hervorgerufen, wenn bereits der Tatbestand des § 224 I Nr. 5 StGB greift? Oder reicht es argumentativ nicht aus, weil § 224 I Nr. 5 lediglich auf die Gefährdung abstellt? Und es ist für den Begriff der schweren
GesundheitsschädigungiSd § 221 II Nr. 2 auf das Verständnis nach § 226 als Parallele abzustellen? Super Aufgabe und tolle Aufarbeitung der Rechtsprechung. Vielen lieben Dank Euch!