Nachtragsanklage - Beschuldigter schweigt auf Nachtragsanklage

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+++ Sachverhalt (reduziert auf das Wesentliche)

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A wird wegen mehrfachen Betruges (§ 263 StGB) verurteilt. Einige Taten wurden durch Nachantragsklage (§ 266 StPO) einbezogen. Laut dem Protokoll bestanden gegen die Einbeziehung „keine Bedenken“. Auf Nachfrage habe A „die Aussetzung nicht beantragt“. A rügt dies in der Revision.

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Einordnung des Falls

Nachtragsanklage - Beschuldigter schweigt auf Nachtragsanklage

Die Jurafuchs-Methode schichtet ab: Das sind die 6 wichtigsten Rechtsfragen, die es zu diesem Fall zu verstehen gilt

1. Während der Hauptverhandlung können neue prozessuale Taten nur im Wege der Nachtragsanklage und des Einbeziehungsbeschlusses (§ 266 StPO) in den Prozess einbezogen werden.

Ja!

Die Staatsanwaltschaft legt mit der Anklage die prozessuale Tat fest, über die das Gericht entscheiden soll (§ 152 Abs. 1 StPO). Ergeben sich während des Prozesses Tatsachen, die eine neue prozessuale Tat darstellen, kann das Gericht nicht von Amts wegen über diesen Sachverhalt entscheiden. Die Staatsanwaltschaft muss vielmehr Nachantragsklage erheben (§ 266 Abs. 1 StPO), um diese in den Prozess einzubringen.
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2. Die Einbeziehung ist nur mit Zustimmung des Angeklagten möglich (§ 266 Abs. 1 StPO). Führt das Fehlen der Zustimmung nach Ansicht der herrschenden Meinung zu einem Verfahrenshindernis?

Nein, das ist nicht der Fall!

Nach der herrschenden Meinung begründet die fehlende Zustimmung des Angeklagten kein von Amts wegen zu prüfendes Verfahrenshindernis vor. Stattdessen liege eine verfahrensrechtliche Gesetzesverletzung vor, die in der Revision nur auf eine entsprechende Rüge hin zu beachten ist. Im Ergebnis kommt die h.M. bei Erhebung der Rüge dann trotzdem zur Einstellung des Verfahrensteils. Dieses widersprüchliche Ergebnis wird von Vertretern der Mindermeinung kritisiert. Eine Verfahrenseinstellung ohne Verfahrenshindernis gebe es abgesehen von den Fällen des §§ 153 ff. StPO in der StPO nicht.

3. Nach einer Mindermeinung stellt das Fehlen der Zustimmung des Angeklagte ein Verfahrenshindernis dar.

Ja, in der Tat!

Nach einer Mindermeinung führt die fehlende Zustimmung zur Unwirksamkeit des Einbeziehungsbeschlusses und zum Fehlen einer Verfahrensvoraussetzung, die von Amts wegen zu beachten ist. Dafür spreche neben der Widersprüchlichkeit der Lösung der h.M. auch das hohe Gewicht des durch die Zustimmung geschützten Rechts auf effektive Verteidigung. Die h.M. setzt hier die hohe Hürde der ordnungsgemäßen Verfahrensrüge nach § 344 Abs. 2 S. 2 StPO an, was den Rechtsschutz regelmäßig verkürzen dürfte. Da h.M. und Mindermeinung im Ergebnis beide zur Einstellung des Verfahrens kommen, ist in der Klausur vor allem herauszuarbeiten, dass die h.M. eine entsprechende Verfahrensrüge (§ 344 Abs. 2 S. 2 StPO) voraussetzt.

4. Kann das Revisionsgericht im Wege des Freibeweises ermitteln, ob der Angeklagte zugestimmt hat?

Nein!

Die nach § 266 Abs. 1 StPO erforderliche Zustimmung des Angeklagten - eine verfahrensgestaltende Willenserklärung - gehört zu den wesentlichen Förmlichkeiten des Verfahrens (§ 273 Abs. 1 StPO), da sie für die Gesetzmäßigkeit des Verfahrens von grundlegender Bedeutung ist. Die wesentlichen Förmlichkeiten können nur durch das Protokoll bewiesen werden (§ 274 S. 1 StPO). Sinn und Zweck des Zustimmungserfordernisses ist es, den Angeklagten vor Überrumpelung zu schützen und ihm eine effektive Verteidigung zu gewährleisten. Alternativ kann er auch zustimmen und die Unterbrechung des Verfahrens beantragen (§ 266 Abs. 3 S. 1 StPO). Auch der Angeklagt kann ein Interesse daran haben, die neue Tat mit einzubeziehen, da er sich ein anschließendes weiteres Verfahren und dessen Belastungen erspart.

5. Reicht es für die Zustimmung aus, dass ausweislich des Protokolls „keine Bedenken” gegen die Einbeziehung bestanden?

Nein, das ist nicht der Fall!

Die Zustimmung muss nach dem Wortlaut der Norm ausdrücklich und eindeutig erklärt werden. Dafür spricht auch der Ausnahmecharakter der Vorschrift und der Zweck der Zustimmung (Telos). Es genügt nicht, dass der Angeklagte keine Einwendungen erhebt und sich auf den neuen Vorwurf einlässt. Ob die Zustimmung vorliegt, ist durch Auslegung des Protokolls zu ermitteln. Es müssen deutliche Anhaltspunkte vorliegen. Dem Protokoll-Vermerk lässt sich nicht klar entnehmen, dass A eindeutig und ausdrücklich zugestimmt hat. Eher liegt darin eine stillschweigende Hinnahme. Auch dass er die Aussetzung nicht beantragte, deutet nur auf die Erteilung des Hinweises nach § 266 Abs. 3 S. 2 StPO hin, nicht auf die vorherige Erteilung der Zustimmung.

6. Stellt das Revisionsgericht nun das gesamte Verfahren ein (§ 354 Abs. 1 StPO)?

Nein, das trifft nicht zu!

Die Zustimmung des Angeklagten (§ 266 Abs. 1 StPO) fehlt. Nach h.M. liegt eine verfahrensrechtliche Gesetzesverletzung vor. Nach der a.A. ist der Einbeziehungsbeschluss unwirksam, weshalb insoweit bereits eine Verfahrensvoraussetzung fehlt. Nach allen Ansichten wird das Urteil aber nur im Hinblick auf die nicht wirksam angeklagten Taten aufgehoben und das Verfahren eingestellt (§ 354 Abs. 1 StPO). Die Staatsanwaltschaft kann diese Taten erneut anklagen.Hinsichtlich der übrigen Taten wird das Urteil - wenn keine weiteren Fehler bestehen - nur im Straffolgenausspruch aufgehoben und an das Ausgangsgericht zurückverwiesen (§ 354 Abs. 2 StPO). Verbleibt nur eine prozessuale Tat und ändert sich die Einzelstrafe nicht, entscheidet das Revisionsgericht selbst (§ 354 Abs. 1 StPO analog).
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