Krasses Missverhältnis

18. April 2025

25 Kommentare

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leichtmittelschwer

+++ Sachverhalt (reduziert auf das Wesentliche)

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Klassisches Klausurproblem

Die 16-jährigen T und N klettern auf den Kirschbaum der Rentnerin R, um dort Kirschen zu stehlen. R, die auf einen Rollstuhl angewiesen ist, droht den beiden und gibt einen Warnschuss mit ihrer Schrotflinte ab. Als sie nicht reagieren, schießt R auf die beiden. T und N fallen verletzt zu Boden.

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Einordnung des Falls

Krasses Missverhältnis

Die Jurafuchs-Methode schichtet ab: Das sind die 4 wichtigsten Rechtsfragen, die es zu diesem Fall zu verstehen gilt

1. Indem T und N zum Diebstahl der Kirschen ansetzen, liegt ein gegenwärtiger Angriff auf die Rechtsgüter der R vor, was Grundvoraussetzung der Notwehrlage ist.

Ja!

Angriff bezeichnet die durch menschliches Verhalten drohende Einbuße rechtlich geschützter Güter oder Interessen. Gegenwärtig ist ein Angriff, wenn er bereits stattfindet, unmittelbar bevorsteht oder noch andauert.Hier droht R der faktische Verlust ihres Eigentums. Ein Angriff liegt mithin vor. Spätestens als die Kinder den Baum bestiegen, stand der Angriff unmittelbar bevor. Er ist danach so lange fortdauernd, bis die Beute gesichert ist.
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2. Für das Vorliegen einer Notwehrlage kommt es weiterhin darauf an, ob die Nachbarskinder schuldfähig sind.

Nein, das ist nicht der Fall!

Der Angriff muss ferner rechtswidrig sein, darf also seinerseits nicht gerechtfertigt sein. Dies ist hier der Fall. Auf eine Schuldhaftigkeit kommt es indes nicht ein, weswegen auch eine mögliche Schuldunfähigkeit für das Vorliegen einer Notwehrlage keine Rolle spielt.

3. Es liegt zudem eine geeignete und erforderliche Notwehrhandlung vor.

Ja, in der Tat!

Die Notwehrhandlung ist Verteidigung, denn sie richtet sich gegen die Angreifer. Zudem steht der in ihrer Bewegungsfähigkeit eingeschränkten R keine mildere, ihr Eigentum gleichermaßen schützende Alternative zur Verfügung, da das bloße Androhen von Schusswaffengebrauch keinen Erfolg zeigte. Sie war demnach erforderlich.

4. Die Notwehrhandlung war auch geboten.

Nein!

Geboten ist eine Notwehrhandlung, wenn das Notwehrrecht nicht ausnahmsweise durch sozialethische Wertungen der Einschränkung bedarf. Dabei orientiert sich die Rechtsprechung an bestimmten Fallgruppen.Als Merkhilfe kann man sich "KEBAP" merken: Krasses Missverhältnis, Enge persönliche Beziehung, Bagatellangriffe, Angriff Schuldloser, Provokation.Hier kann es sich um ein krasses Missverhältnis zwischen Erhaltungsgut und Eingriffsgut handeln. Grundsätzlich braucht nach dem Rechtsbewährungsprinzip - als einem Grundpfeiler des Notwehrrechts - das Recht dem Unrecht nicht zu weichen, weswegen eine Güterabwägung nicht stattfindet. Ob potenziell zum Tode führende ("scharfe") Verteidigungshandlungen bei Angriffen auf das Eigentum grundsätzlich unzulässig sind, ist umstritten. Vorliegend ist jedoch mit dem Diebstahl ein Bagatelleingriff in das Eigentum mit einem Vermögenswert von höchstens einigen Euro verbunden. Demgegenüber steht das Leben als das höchste Individualrechtsgut. Eine Abwehr, deren Folgen in krassem Missverhältnis zum drohenden Schaden stehen, ist missbräuchlich und selbst dann unzulässig, wenn die Maßnahme das einzig mögliche Mittel darstellt, um das Rechtsgut zu schützen.
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Fragen und Anmerkungen aus der Jurafuchs-Community

VO

Vojtech

20.9.2021, 01:06:44

Könnte man hier im Rahmen der

Erforderlichkeit

nicht noch einen Warnschuss fordern? Meines Erachtens können in einer Situation, in der der Handelnde keiner unmittelbaren Gefahr eines Schusses/Stiches ausgesetzt ist, zwei Stufen (An

drohung

/Einsatz) nicht ausreichend sein. Auch wenn man dies zum Teil im Rahmen der

Gebotenheit

berücksichtigen kann, muss mA nach bereits in der Erfordelichkeit betont werden, dass das bloße Androhen des Waffeneinsatzes nicht die gleiche Wirkung hat wie ein Warnschuss und der Schuss deshalb schon gar nicht erforderlich war.

Lukas_Mengestu

Lukas_Mengestu

8.10.2021, 15:38:27

Hallo Vojtech, wir haben im Sachverhalt noch einen erfolglosen Warnschuss ergänzt. Denn in der Tat dürfte man einen solchen in Fällen fordern, in denen hierfür noch genügend Zeit bleibt. Beste Grüße, Lukas - für das Jurafuchs-Team

QUIG

QuiGonTim

12.4.2023, 08:48:36

Wenn ich es recht erinnere, unterscheidet sich dieser Fall von jenem, der vor dem RG verhandelt wurde und zum Lehrbuchklassiker geworden ist, dadurch, dass Warnschüsse abgegeben wurden und die Schüsse nicht tödlich waren. Inwiefern sind diese mildernden Umstände bei der Prüfung der

Gebotenheit

bzw. des krassen Missverständnisses zu berücksichtigen?

Rick-energie🦦

Rick-energie🦦

13.4.2023, 20:24:59

Hätte ich jetzt ad-hoc auch so gesehen und daher die

Gebotenheit

angenommen. Klar, dass das eine harsche Maßnahme ist zu schießen, aber die An

drohung

erfolgte, die Täter sind nicht so jung, dass ihnen die Dimension unklar bleibt. Anders als im Lehrbuchfall sind die hier halt älter und ein Warnschuss war da. Wer dann noch im Baum bleibt, der stellt sich - meiner Meinung nach - ins Unrecht, sodass das Prinzip der Rechtsbewahrung durchschlägt und die scharfe

Notwehr

keiner weiteren Einschränkung mehr bedarf.

Juratiopharm

Juratiopharm

18.7.2023, 23:01:32

Aus meiner Sicht kommt hier weniger dem Alter, sondern eher dem krassen Missverhältnis zwischen den Rechtsgütern Leben und geringwertigem Eigentum zu, welches auch durch einen Warnschuss nicht aufgehoben wird. Das Recht bewährt sich nicht durch die Lebensgefahr zum Schutze von Kirschen.

Tim Gottschalk

Tim Gottschalk

18.3.2025, 12:12:47

Hallo @[QuiGonTim](133054) und @[Rick-energie🦦](174760), Ich stimme @[Juratiopharm](137466) zu. Der Warnschuss hilft nur über die

Erforderlichkeit

des Schusswaffengebrauchs, ändert aber ebenso wenig wie das Alter der Angreifer etwas an dem krassen Missverhältnis der Rechtsgüter. Außerdem ist die Notstandshandlung ex ante zu betrachten, weshalb ebenso außer Betracht bleibt, dass die Schüsse keine extremen Folgen hatten. Vielmehr ist auf die Gefährlichkeit der Handlung vor dem Schuss abzustellen und dort die hohe Gefahr für das Rechtsgut Leben in die Abwägung einzustellen, sodass man zu einem krassen Missverhältnis kommt. Liebe Grüße Tim - für das Jurafuchs-Team

Charles "Chuck" McGill

Charles "Chuck" McGill

13.2.2025, 12:25:41

Der Lehrbuchklassiker lautet doch eigentlich darauf, dass die Kinder daraufhin erschossen werden. Dass dabei ein krasses Missverhältnis besteht ist klar. Aber bei leichten körperlichen Verletzungen durch runterfallen? Wenn wir von Prellungen und Blauen Flecken reden, und nicht von einem Polytrauma weil der Baum zehn Meter hoch war, erscheint mir ein krasses Missverhältnis fernliegend.

prefi

prefi

16.2.2025, 17:27:30

Die Rentnerin schießt vorliegend auf beide Kinder, nimmt gerade durch den Schusswaffengebrauch also auch tödliche Verletzungen in Kauf. Bei einem bloßen Warnschuss würde der Fall sicherlich anders aussehen und bei einem gezielten Schuss in die Beine könnte man auch noch diskutieren. Das gibt der Sachverhalt aber nicht her.

Charles "Chuck" McGill

Charles "Chuck" McGill

16.2.2025, 17:40:22

@[prefi](287187) Ich muss meinen Kommentar in der Tat einschränken. Ich hatte den Sachverhalt fälschlich dahingehend verstanden, dass sie auf den Baum schießt um die Kinder herunterfallen zu lassen, und es derart kam. Wenn sie mit der Schrotflinte direkt auf die Kinder schoss, so wie der Sachverhalt zu verstehen ist, ist die Annahme eines krassen Missverhältnises in der Tat nachvollziehbar.

Gigachad1

Gigachad1

2.3.2025, 21:42:52

Ja @[Charles "Chuck" McGill](291345) hast dir wohl vorgestellt es wäre Jimmy und bist gleich unsachlich geworden...

Charles "Chuck" McGill

Charles "Chuck" McGill

2.3.2025, 21:49:09

@[Gigachad1](241559) Habe nicht den Eindruck, dass mein Post unsachlich war. Dass er von falschen Prämissen ausging und daher im Ergebnis falsch gewesen ist habe ich bereits mitgeteilt.

Gigachad1

Gigachad1

2.3.2025, 22:25:51

Es war ein Witz auf deinen Namen bezogen..

Slippin' Jimmy

Slippin' Jimmy

8.3.2025, 18:49:50

@[Charles "Chuck" McGill](291345) ach, bruderlein


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