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Gesetzgebungsverfahren

Gesetzgebungsverfahren: Grenzen der Kompetenzen des Vermittlungsausschusses

Gesetzgebungsverfahren: Grenzen der Kompetenzen des Vermittlungsausschusses

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+++ Sachverhalt (reduziert auf das Wesentliche)

Jurafuchs

Der Bundestag beschließt das „Schlanker-Staat-Gesetz“ (Art. 77 Abs. 1 S. 1 GG). Damit will er die Ausgaben des Bundes deutlich senken. Der Bundesrat ruft daraufhin den Vermittlungsausschuss ein, weil ihm die Kürzungen nicht weit genug gehen. Der Vermittlungsausschuss verständigt sich darauf, das Kindergeld zu streichen. Der Bundestag ist total überrascht über diesen völlig neuen Änderungsvorschlag.

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Die Jurafuchs-Methode schichtet ab: Das sind die 8 wichtigsten Rechtsfragen, die es zu diesem Fall zu verstehen gilt

1. Der Umfang der Kompetenzen des Vermittlungsausschusses ist in Art. 53a GG ausdrücklich geregelt.

Nein!

Das GG trifft allein in Art. 77 Abs. 2 S. 1-5 GG Regelungen über den Vermittlungsausschuss. Er wird durch diese Normen lediglich berechtigt, eine „Änderung des Gesetzesbeschlusses“ des Bundestages (vgl. Art. 77 Abs. 1 S. 1 GG) vorzuschlagen (Art. 77 Abs. 2 S. 5 GG). Die Umfang der Kompetenzen muss mangels einer ausdrücklichen Regelung insbesondere aus der Funktion des Vermittlungsausschusses und seiner Stellung im Gesetzgebungsverfahren hergeleitet werden. Art. 53a GG bezieht sich auf den Gemeinsamen Ausschuss, der im Verteidigungsfall (vgl. die Legaldefinition Art. 115a Abs. 1 S. 1 GG) an die Stelle des Bundestages treten kann (Art. 115a Abs. 5 S. 2 GG). Er ist für die Klausur (im Gegensatz zum Vermittlungsausschuss) irrelevant. Der deutlich wichtigere Vermittlungsausschuss wird im hingegen GG nur als „ein aus Mitgliedern des Bundestages und des Bundesrates für die gemeinsame Beratung von Vorlagen gebildeter Ausschuß“ (Art. 77 Abs. 2 S. 1 GG) bezeichnet.
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2. Der Vermittlungsausschuss hat ein eigenes Gesetzesinitiativrecht aus Art. 77 Abs. 2 S. 5 GG.

Nein, das ist nicht der Fall!

Der Vermittlungsausschuss wird durch Art. 77 Abs. 2 S. 5 GG lediglich berechtigt, eine „Änderung des Gesetzesbeschlusses“ des Bundestages (vgl. Art. 77 Abs. 1 S. 1 GG) vorzuschlagen. Ein eigenes Gesetzesinitiativrecht im Sinne des Art. 76 Abs. 1 GG geht damit nicht einher.

3. Die Kompetenz des Vermittlungsausschusses, eine Änderung des Gesetzesbeschlusses vorzuschlagen, ist inhaltlich unbegrenzt. Immerhin stimmen Bundestag und Bundesrat ohnehin später noch über den Vermittlungsvorschlag ab.

Nein, das trifft nicht zu!

Der Vermittlungsausschuss darf eine „Änderung des Gesetzesbeschlusses“ des Bundestages (vgl. Art. 77 Abs. 1 S. 1 GG) vorschlagen (Art. 77 Abs. 2 S. 5 GG), und damit das Gesetz auch ergänzen oder aufheben. Die Kompetenzen des Vermittlungsausschusses sind durch (1) das Anrufungsbegehren und (2) die bisherigen Diskussionen im parlamentarischen Verfahren begrenzt. Das Vermittlungsverfahren ist äußerst intransparent, weshalb die Gefahr besteht, dass wichtige politische Entscheidungen „entparlamentarisiert“ werden. Die inhaltliche Begrenzung des Vorschlagsrechts des Vermittlungsausschusses ist daher insbesondere durch (1) die Rechte der Abgeordneten (Art. 38 Abs. 1 S. 2 GG) und (2) das Demokratieprinzip (Art. 20 Abs. 2 S. 1, Abs. 1 GG) bedingt.

4. Der Vermittlungsvorschlag muss sich im Rahmen des Anrufungsbegehrens im Sinne des Art. 77 Abs. 2 S. 1, S. 4 GG halten.

Ja!

Das Anrufungsbegehren von Bundesrat, Bundesregierung oder Bundestag markiert eine Grenze für die Kompetenzen des Vermittlungsausschusses, Änderungen des Gesetzgebungsbeschlusses vorzuschlagen. Die Kompromissfindung ist auf Aspekte beschränkt, die ihm für die Vermittlung durch das Anrufungsbegehren ausdrücklich übertragen wurden: Wenn der Anrufungsauftrag auf einzelne Vorschriften beschränkt ist, darf der Vermittlungsausschuss die übrigen Vorschriften nicht antasten. Ist im Anrufungsbegehren ein bestimmtes Sachgebiet umrissen, darf der Änderungsvorschlag keine Regelungen über dieses Sachgebiet hinaus treffen.

5. Die Streichung des Kindergeldes ist vom Anrufungsbegehren des Bundesrates (Art. 77 Abs. 2 S. 1 GG) umfasst.

Genau, so ist das!

Die Kompromissfindung ist auf Aspekte beschränkt, die dem Vermittlungsausschuss durch das Anrufungsbegehren ausdrücklich übertragen wurden: Wenn der Anrufungsauftrag auf einzelne Vorschriften beschränkt ist, darf der Vermittlungsausschuss die übrigen Vorschriften nicht antasten. Ist im Anrufungsbegehren ein bestimmtes Sachgebiet umrissen, darf der Änderungsvorschlag keine Regelungen über dieses Sachgebiet hinaus treffen. Im Anrufungsbegehren des Bundesrates heißt es, dass „die Kürzungen nicht weit genug gehen“ würden. Dieses denkbar weitgehende Anrufungsbegehren wird nicht überschritten, wenn mit der Streichung des Kindergeldes eine weitere Kürzung hinzukommt. Es ist oft ratsam, kurze (!) Auszüge aus dem Sachverhalt wortgenau in der Subsumtion zu zitieren. Damit demonstrierst Du, dass Du genau mit dem Sachverhalt arbeitest und weißt, welche Sachverhaltsinformation wohin gehört.

6. Der Änderungsvorschlag des Vermittlungsausschusses muss sich im Rahmen der bisherigen Diskussionen des parlamentarischen Gesetzgebungsverfahrens halten. Ein Vorschlag darf sich also nur auf solche Gegenstände beziehen, die im parlamentarischen Verfahren bereits diskutiert wurden.

Ja, in der Tat!

Der Änderungsvorschlag muss dem Bundestag aufgrund der dort geführten parlamentarischen Debatte (insbesondere in den Ausschüssen) zurechenbar sein. Insbesondere dürfen keine Vorschläge, die erst nach der letzten Lesung im Bundestag diskutiert worden sind, in den Änderungsvorschlag einbezogen werden. Dieser Zurechnungszusammenhang ist aus drei Gründen notwendig: (1) Allen voran wäre hierdurch die zentrale Stellung des Bundestages (vgl. Art. 77 Abs. 1 S. 1 GG) im Gesetzgebungsverfahren bedroht. Dem Vermittlungsausschuss kommt allein die Rolle der Kompromissfindung zwischen Bundestag und Bundesrat zu. Er darf also nicht contra legem (vgl. die abschließende Aufzählung in Art. 76 Abs. 1 GG) ein faktisches Gesetzesinitiativrecht erhalten, indem er zu einem späten Zeitpunkt völlig neue Gegenstände in das Verfahren einführt. (2) Den Abgeordneten darf auch nicht das Recht entzogen werden, über Gesetze zu beraten (Art. 38 Abs. 1 S. 2 GG). (3) Nicht zuletzt soll die politische Verantwortung nicht vom öffentlichen parlamentarischen Verfahren (vgl. Art. 42 Abs. 2 S. 1 GG) in das intransparente Verfahren im Vermittlungsausschuss (vgl. § 6 GO-VermA e contrario und § 10 Abs. 2 S. 3 GO-VermA) verlagert werden (Grundsatz der Parlamentsöffentlichkeit). Dadurch würde die demokratische Kontrolle der Gesetzgebung durch die Öffentlichkeit (Art. 20 Abs. 2 S. 1, Abs. 1 GG) erschwert.

7. Der Vermittlungsausschuss hat seine Kompetenzen überschritten, indem er die Streichung des Kindergeldes vorschlug, obwohl darüber im Bundestag nicht verhandelt wurde.

Ja!

Der Änderungsvorschlag muss dem Bundestag aufgrund der dort geführten parlamentarischen Debatte (insbesondere in den Ausschüssen) zurechenbar sein. Bei der Streichung des Kindergeldes handelt es sich um einen „völlig neuen Änderungsvorschlag“, der zuvor nicht im parlamentarischen Verfahren diskutiert wurde. Mit Formulierungen wie „Der Bundestag ist total überrascht“ möchte Dich der Sachverhalt dazu bringen, diese Information in deiner Bearbeitung besonders zu problematisieren. Wenn Du derartige Hilfestellungen entdeckst, solltest Du diese unbedingt aufgreifen und ansprechen - und zwar auch dann, wenn Du zu dem Problem auf den ersten Blick nichts sagen kannst. Es ist immer besser, ein Problem anzusprechen und einen Ansatz zur Lösung zu präsentieren, als das Problem einfach zu verschweigen!

8. Das „Schlanker-Staat-Gesetz“ ist formell verfassungswidrig, weil der Vermittlungsausschuss seine Kompetenzgrenzen überschritten hat.

Genau, so ist das!

Ein Gesetz, das unter Missachtung der Kompetenzgrenzen des Vermittlungsausschusses zustande kommt, ist verfassungswidrig.
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Fragen und Anmerkungen aus der Jurafuchs-Community

juramen

juramen

24.5.2022, 00:41:57

Wie schaut es aus, wenn der Vermittlungsausschuss seine Kompetenzen überschreitet, der Bundestag aber dennoch zustimmt? Existiert hier eine ähnliche Heilung, wie wenn "zu wenige" Mitglieder des BTags einen Gesetzesvorschlag unterbreiten, weil die Änderungsvorlage doch demokratisch akzeptiert wird?

Paul König

Paul König

25.5.2022, 08:59:05

Hey @juramen, die Idee ist sehr schlau und lohnt auf jeden Fall eine Überlegung, auch in der Klausur (wenn Du die Zeit hast). Der Unterschied zu den vorherigen Konstellationen ist, dass der Beschluss nach Art. 77 Abs. 2 S. 5 GG eben keine gleichwertige parlamentarische Debatte zulässt (insb. keine klassische Aussprache). Dieser Fehler kann also nicht geheilt werden (so zuletzt BVerfGE 150, 345, RdNr. 76ff., https://www.bundesverfassungsgericht.de/e/ls20190115_2bvl000109.html#Rn076). Das ist bei den Verfahrensfehlern im Verfahren davor anders, weil hier noch ein "richtiger" Beschluss des Bundestages (mit Aussprache) nach Art. 77 Abs. 1 S. 1 GG folgt. Überzeugt dich das? Paul (für das Jurafuchs-Team) @[Lukas Mengestu](136780)

Paul König

Paul König

25.5.2022, 09:06:17

BVerfGE 120, 56, 78 (https://www.servat.unibe.ch/dfr/bv120056.html#Rn69): "verstößt wegen der unterbundenen Möglichkeit der parlamentarischen Beratung zugleich gegen das Demokratieprinzip des Art. 20 Abs. 2 GG, das in Art. 42 Abs. 1 Satz 1 GG normierte Prinzip der Öffentlichkeit der parlamentarischen Debatte sowie die Rechte der Abgeordneten aus Art. 38 Abs. 1 Satz 2 GG. [...] Die Regelungen über das Gesetzgebungsverfahren zielen darauf ab, die demokratische Legitimation der zu treffenden Regelungen sicherzustellen und zugleich die Balance zwischen den am Gesetzgebungsverfahren beteiligten Organen und wegen der Einbindung des Bundesrates auch zwischen Bund und Ländern zu wahren. Sie sind daher von strenger Förmlichkeit geprägt und stehen nicht zur Disposition der beteiligten Organe oder ihrer Mitglieder."


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