Nichtigkeit nach § 44 Abs. 2 Nr. 1 VwVfG

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+++ Sachverhalt (reduziert auf das Wesentliche)

Jurafuchs

Sachbearbeiter S der Ordnungsbehörde B schickt eine Verfügung an Gewerbetreibende G, wonach sie ihr Gewerbe nicht mehr ausüben darf. Weil S am Abend zuvor mal wieder zu lange gefeiert hat, vergisst er, den Verwaltungsakt zu unterschreiben. G erkennt zwar, dass B die Urheberin ist. Sie ist aber der Meinung, die Verfügung nicht befolgen zu müssen.

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Einordnung des Falls

Nichtigkeit nach § 44 Abs. 2 Nr. 1 VwVfG

Die Jurafuchs-Methode schichtet ab: Das sind die 5 wichtigsten Rechtsfragen, die es zu diesem Fall zu verstehen gilt

1. S hat die Formvorschrift des § 37 Abs. 3 VwVfG missachtet. Der Verwaltungsakt ist formell rechtswidrig.

Genau, so ist das!

Die formelle Rechtmäßigkeit eines Verwaltungsakts setzt voraus, dass (1) die zuständige Behörde gehandelt und dabei (2) Form- und (3) Verfahrensvorschriften eingehalten hat. Bezüglich der Form sind insbesondere die Vorschriften des § 37 VwVfG (Bestimmtheit und Form) und § 39 VwVfG (Begründung) zu beachten. Ein Verwaltungsakt kann zwar grundsätzlich formfrei ergehen (§ 37 Abs. 2 VwVfG). Ist er jedoch schriftlich oder elektronisch erlassen wurden, sind bestimmte Vorschriften einzuhalten. So muss dieser zum Beispiel die erlassende Behörde erkennen lassen und die Unterschrift oder die Namenswiedergabe eines Behördenleiters, seines Vertreters oder einem Beauftragten enthalten (§ 37 Abs. 3 VwVfG). Die Gewerbeuntersagungsverfügung enthält weder eine Unterschrift noch die Namenswidergabe. S hat die Vorgaben des § 37 Abs. 3 VwVfG nicht beachtet. Der Verwaltungsakt ist formell rechtswidrig.
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2. Führt die Rechtswidrigkeit der Verfügung ohne Weiteres dazu, dass G ihr Gewerbe trotz des Erlasses der Verfügung weiter betreiben kann?

Nein, das trifft nicht zu!

Ein Verwaltungsakt muss dann nicht befolgt werden, wenn er keine Regelungswirkung entfaltet. Dies ist der Fall, wenn der Verwaltungsakt unwirksam ist. Die Rechtswidrigkeit eines Verwaltungsakts führt nicht automatisch zu dessen Unwirksamkeit (Umkehrschluss aus § 43 Abs. 2 VwVfG). Vielmehr muss geprüft werden, ob der Verwaltungsakt an einem solch schwerwiegenden Fehler leidet, dass er nichtig ist. Dann muss dieser ohne das Ergreifen von Rechtsbehelfen nicht befolgt werden, er entfaltet keinerlei Wirkung. Gegen rechtswidrige Verwaltungsakte muss sich der Adressat hingegen mit einem Widerspruch bzw. einer Anfechtungsklage wenden. Die Rechtswidrigkeit der Untersagung allein führt noch nicht dazu, dass diese keine Wirkung entfaltet und G weiterhin ihr Gewerbe betreiben kann. Es kommt darauf an, ob die Verfügung nichtig ist. In einer Anwaltsklausur im Assessorexamen kann es vorkommen, dass Du Rechtsrat zum Vorgehen gegen einen nichtigen Verwaltungsakt erteilen musst. Hier solltest Du auch auf die Möglichkeit hinweisen, auch gegen einen nichtigen Verwaltungsakt Rechtsschutz zu suchen (§ 42 Abs. 1 Alt. 1 bzw. § 43 Abs. 1 Var. 3 VwGO).

3. § 44 Abs. 2 VwVfG enthält absolute Nichtigkeitsgründe.

Ja!

In der Aufzählung des § 44 Abs. 2 VwVfG sind Gründe genannt, die in jedem Fall zur Nichtigkeit des Verwaltungsakts führen (sog. absolute Nichtigkeitsgründe). § 44 Abs. 2 VwVfG ist die speziellere Vorschrift zur relativen Nichtigkeit aus § 44 Abs. 1 VwVfG. § 44 Abs. 2 VwVfG sollte daher immer vor § 44 Abs. 1 VwVfG geprüft werden, wenn es darum geht, ob ein Verwaltungsakt nichtig ist. Zunächst muss also geprüft werden, ob die fehlende Unterschrift unter der Verfügung unter eine Fallgruppe des § 44 Abs. 2 VwVfG subsumiert werden kann.

4. Aufgrund der fehlenden Unterschrift liegt ein Fall von § 44 Abs. 2 Nr. 1 VwVfG vor.

Nein, das ist nicht der Fall!

Nach § 44 Abs. 2 Nr. 1 VwVfG ist ein Verwaltungsakt nichtig, wenn er schriftlich oder elektronisch erlassen worden ist und die erlassende Behörde nicht erkennen lässt. Der Grund für die Nichtigkeit liegt darin, dass der Bürger den Verwaltungsakt nicht anfechten kann, wenn er nicht weiß, von wem dieser stammt. § 44 Abs. 2 Nr. 1 VwGO bezieht sich aber nicht auf die fehlende Unterschrift eines Amtswalters (vgl. § 37 Abs. 3 VwVfG). S hat lediglich vergessen, den Verwaltungsakt zu unterschreiben. Der Verwaltungsakt ist nicht nichtig nach § 44 Abs. 2 Nr. 1 VwVfG.

5. Eine fehlende Unterschrift ist vergleichbar schwerwiegend, wie wenn die erlassende Behörde nicht erkennbar ist. Die Verfügung ist daher nach § 44 Abs. 1 VwVfG nichtig.

Nein, das trifft nicht zu!

Nach § 44 Abs. 1 VwVfG (relative Nichtigkeitsgründe) ist ein Verwaltungsakt nichtig, soweit er (1) an einem besonders schwerwiegenden Fehler leidet und (2) dies bei verständiger Würdigung aller in Betracht kommenden Umstände offensichtlich ist. Ein besonders schwerwiegender Fehler liegt vor, wenn der Verwaltungsakt gegen tragende Verfassungsprinzipien verstößt oder den der Rechtsordnung immanenten Wertvorstellungen so sehr widerspricht, dass es unerträglich wäre, wenn er die mit ihm bezweckten Rechtswirkungen hätte. Die Schwere des Fehlers muss mit der Schwere der Fehler aus § 44 Abs. 2 VwVfG vergleichbar sein. Die Vorschrift des § 44 Abs. 2 VwVfG dient dem effektiven Rechtsschutz des Adressaten. G kann gegen die Untersagungsverfügung auch vorgehen, wenn die Unterschrift nach § 37 Abs. 3 VwVfG fehlt. Der formelle Fehler ist daher nicht von besonderer Schwere. Die Verfügung ist wirksam. G muss diese (jedenfalls zunächst) befolgen. In der Anwaltsklausur im Assessorexamen könntest Du der Mandantin hier den Rat erteilen, wegen des Formfehlers innerhalb der Widerspruchs- bzw. Klagefrist gegen die Verfügung vorzugehen. Zu beachten ist dabei aber, dass durch Nachholung der Unterschrift der Formfehler auch nachträglich geheilt werden kann bzw. er regelmäßig nach § 46 VwVfG unbeachtlich ist.
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Fragen und Anmerkungen aus der Jurafuchs-Community

BL

Blotgrim

19.12.2022, 17:49:26

Ich würde vielleicht noch ergänzen dass die Behörde auch ohne Unterschrift zu erkennen ist. Natürlich haben die meisten Behörden ihr Logo oder ähnliches auf ihren Dokumenten, aber es muss ja nicht so sein. Und wenn sonst nichts anderes vorhanden ist, kann die Unterschrift das einzige sein was die Behörde erkennen lässt Lg

Lukas_Mengestu

Lukas_Mengestu

21.12.2022, 13:01:40

Vielen Dank für den Hinweis, Blotgrim. Das haben wir noch ergänzt. Beste Grüße, Lukas - für das Jurafuchs-Team

MLENA

MLena

7.10.2023, 10:37:47

Ich habe § 45 VwVfG nicht ganz verstanden, denke ich. Weshalb kann die fehlende Unterschrift nicht geheilt werden?

Lukas_Mengestu

Lukas_Mengestu

27.2.2024, 15:37:12

Hallo MLena, an sich muss für eine Heilung nach § 45 VwVfG einer der dort genannten Tatbestände einschlägig sein. Das ist bei der fehlenden Unterschrift zwar nicht der Fall, dennoch wird verbreitet angenommen, dass dieser Formfehler durch Nachholung geheilt werden kann. Jedenfalls dürfte der Formfehler aber häufig nach § 46 VwVfG unbeachtlich sein, wenn offensichtlich ist, dass ddie Verletzung die Entscheidung in der Sache nicht beeinflusst hat, was in der Regel der Fall sein wird (vgl. Schoch/Schneider/Schröder, 3. EL August 2022, VwVfG § 37 Rn. 87). Beste Grüße, Lukas - für das Jurafuchs-Team


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