Referendariat

Die Revisionsklausur im Assessorexamen

Begründetheit I: Vorliegen der Verfahrensvoraussetzungen

Mangel der Umgrenzungsfunktion - Unterlassene Nachantragsklage, §266 StPO

Mangel der Umgrenzungsfunktion - Unterlassene Nachantragsklage, §266 StPO

24. November 2024

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+++ Sachverhalt (reduziert auf das Wesentliche)

Jurafuchs

A wird wegen Betruges in elf Fällen verurteilt. In sechs Fällen sind Tatzeitpunkt und Warenwerte von der Anklage verschieden, nur der Geschädigte und die Art der Ware stimmten überein. Das Gericht weist darauf hin, dass auch eine Verurteilung wegen dieser Taten möglich sei.

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Einordnung des Falls

Mangel der Umgrenzungsfunktion - Unterlassene Nachantragsklage, §266 StPO

Die Jurafuchs-Methode schichtet ab: Das sind die 6 wichtigsten Rechtsfragen, die es zu diesem Fall zu verstehen gilt

1. Die Staatsanwaltschaft legt in der Anklage fest, welche geschichtlichen Vorgänge im Prozess verhandelt werden sollen. Dies sind die Taten im prozessuale Sinne (§ 264 Abs. 1 StPO).

Ja, in der Tat!

Die Staatsanwaltschaft ist Anklagebehörde (§ 152 Abs. 1 StPO). Die Anklage legt die Tat, die durch das Gericht abgeurteilt werden soll, fest (§ 200 Abs. 1 S. 1 StPO, Umgrenzungsfunktion). Dies ist die Tat im prozessualen Sinne, die die Grundlage der Urteilsfindung bildet (§ 264 Abs. 1 StPO). Das Gericht kann nur über diesen angeklagten Lebenssachverhalt urteilen. An die rechtliche Bewertung der Staatsanwaltschaft ist sie dagegen nicht gebunden (§ 264 Abs. 2 StPO). Es gibt eine klare Rollenverteilung zwischen Staatsanwaltschaft und Gericht. Das Gericht kann nicht von sich aus Ermittlungen wegen Straftaten aufnehmen und sie zur Anklage bringen (vgl. § 151 StPO). Dies ist die Aufgabe der Staatsanwaltschaft als „Herrin des Ermittlungsverfahrens“.
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2. Das Gericht muss die gesamte prozessuale Tat aburteilen. Dies gilt auch für Teile der Tat, die erst in der Hauptverhandlung zutage treten.

Ja!

Das Gericht muss die angeklagte Tat unter allen rechtlichen und tatsächlichen Gesichtspunkten erschöpfend aburteilen. Dies ist die Kognitionspflicht des Gerichts. Gegenstand der Urteilsfindung ist die in der Anklage bezeichnete Tat, wie sie sich nach dem Ergebnis der Verhandlung darstellt (vgl. § 264 StPO). Stellt sich die Tat auch nach den neuen Erkenntnissen weiter als einheitlicher, unverwechselbarer geschichtlicher Vorgang dar, muss das Gericht diese Erkenntnisse in die Urteilsfindung einbeziehen, selbst wenn sie eine abweichende rechtliche Beurteilung rechtfertigen. Anders ist dies, wenn eine gänzlich neue prozessuale Tat vorliegt.

3. Im vorliegenden Fall war die rechtliche Bewertung der angeklagten und abgeurteilten Taten dieselbe. Handelte es sich deshalb um dieselben prozessualen Taten (§ 264 Abs. 1 StPO)?

Nein, das ist nicht der Fall!

Die prozessuale Tat ist der historische Vorgang, innerhalb dessen der Angeklagte sich strafbar machte. Dazu gehört sein gesamtes Verhalten, soweit es mit dem Sachverhalt der Anklage nach der Lebensauffassung einen einheitlichen Vorgang darstellt. Dies ist nicht der Fall, wenn die Feststellungen von den Tatmodalitäten der Anklage erheblich abweichen. Auf die rechtliche Bewertung kommt es nicht an. Die Feststellungen des Gerichts unterscheiden sich erheblich von der Anklage. Sie stimmen mit der Anklage nur bezüglich des Geschädigten und der Art der Ware überein. Die einzelnen Taten erhalten ihr wesentliches Gepräge hier aber durch Tatzeitpunkt und Warenwert. Hier entsprechen sich Anklage und Urteil in keinem einzigen Punkt. Alle sechs Tatzeitpunkte und Warenwerte weichen voneinander ab.

4. Das Gericht erteilte einen Hinweis (§ 265 StPO), dass auch die sechs abweichenden Taten abgeurteilt werden dürfen. Wurden diese damit wirksam in den Prozess einbezogen, sodass eine wirksame Anklage vorliegt?

Nein, das trifft nicht zu!

Weitere prozessuale Taten können in den laufenden Prozess nur durch die Staatsanwaltschaft im Wege der Nachtragsanklage eingeführt werden (§ 266 StPO). Ein gerichtlicher Hinweis genügt nur, wenn sich innerhalb derselben prozessualen Tat ein rechtlicher Gesichtspunkt ändert (§ 265 Abs. 1 StPO). Da die sechs abgeurteilten Taten gegenüber den angeklagten Taten andere prozessuale Taten darstellten, hätten sie nur im Wege der Nachtragsanklage einbezogen werden können. Der gerichtliche Hinweis genügte nicht. Es fehlt damit an einer wirksamen Anklage im Bezug auf diese sechs Taten.

5. Die Voraussetzungen einer wirksamen Nachtragsanklage (§ 266 StPO) entsprechen denen der Anklage. Der Angeklagte muss der Einbeziehung jedoch zustimmen.

Ja!

Die Nachtragsanklage muss die Umgrenzungsfunktion ebenso erfüllen wie die Anklageschrift. Sie kann durch Verlesung einer schriftlichen Nachtragsanklage im Prozess erhoben werden (§ 266 Abs. 2 S. 1 StPO). Das Gericht muss zuständig sein und der Angeklagte der Einbeziehung zustimmen (§ 266 Abs. 1 StPO). Zur Einbeziehung bedarf es eines Gerichtsbeschlusses (§ 266 Abs. 1 StPO).

6. Das Revisionsgericht hebt das Urteil auf und stellt das Verfahren im Bezug auf die sechs nicht angeklagten Taten ein (§ 206a Abs. 1 StPO).

Genau, so ist das!

Fehlt es an einer wirksamen Anklage, so hat das Revisionsgericht das Verfahren einzustellen (§ 206a Abs. 1 StPO).Im Bezug auf die sechs Taten, zu denen keine wirksame Anklage vorliegt, hebt das Revisionsgericht das Urteil auf und stellt das Verfahren ein.Die mangelhaft abgefasste Anklageschrift stellt ein Verfahrenshindernis dar, das der Durchführung des Verfahrens nicht wegen Unbehebbarkeit dauerhaft entgegensteht (=Bestrafungsverbot), sondern nachträglich behoben werden kann. Es handelt sich also lediglich um ein Befassungsverbot. Der Einstellungsbeschluss beendet insoweit lediglich die Rechtshängigkeit und versetzt das Verfahren im Übrigen zurück in den Stand vor Anklageerhebung. Es bleibt der Staatsanwaltschaft also möglich, den Sachverhalt erneut anzuklagen.
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Fragen und Anmerkungen aus der Jurafuchs-Community

HME

Hilfloser Melancholiker

15.10.2023, 11:39:13

Wieso wird in der Lösung auf § 206a StPO abgestellt? Der gilt doch nur im Zwischenverfahren, und regelt dort die Befugnisse des erstinstanzlichen Gerichts, nicht aber die des Revisionsgerichts...

JO

Joma

1.11.2023, 16:40:22

Kommt es nicht vielmehr zu einer

Teileinstellung

nach § 354 Abs. 1 StPO?

JURAFU

jurafuchsles

10.12.2023, 18:37:42

Hier fehlt mir auch eine aufschlussreiche Antwort von Jurafuchs

HAN

Hannah

29.1.2024, 19:36:57

So verfährt wohl der BGH (Wahl des Rechtsmittelgerichts, ob es das Verfahren nach § 206a oder §§ 349 Abs. 4, 354 Abs. 1 erledigt), auch wenn der BGH "damit das Rechtsmittelsystem der StPO durcheinander[bringt]" M-G/S § 206a Rn. 6.

JURA

juravulpes

6.11.2024, 12:18:49

Die Vorschrift des § 206a StPO findet nach herrschender Ansicht in jedem Verfahrensstadium nach Eröffnung des Hauptverfahrens Anwendung (BGH, NJW 1971, 2272 (2

273

); Wenske/MüKo StPO § 206a Rn. 13; Ritscher/BeckOK StPO § 206a Rn. 2; Schneider/Karlsruher Komm StPO § 206a Rn. 4). Sowohl im erstinstanzlichen Verfahren als auch im Rechtsmittelverfahren kann das Gericht das Verfahren außerhalb der Hauptverhandlung nach § 206a StPO einstellen, wenn ein dauerhaftes Verfahrenshindernis eintritt. Durch die Einstellung im Rechtsmittelverfahren wird das ergangene Urteil gegenstandslos, ohne dass es einer Aufhebung bedarf. Die Verfahrenseinstellung nach § 206a StPO ohne gesonderte Urteilsaufhebung erklärt sich vor dem Hintergrund, dass das Rechtsmittelgericht in diesem Fall nicht das Urteil überprüft, sondern nur ein Ereignis berücksichtigt, das danach eingetreten ist und eine neue Verfahrenslage geschaffen hat. Tritt ein unbegehbares Verfahrenshindernis im Ermittlungsverfahren ein, erfolgt die Verfahrenseinstellung nach 170 Abs. 2 StPO, im Zwischenverfahren ist die Eröffnung der Hauptverhandlung abzulehnen. Umstritten ist lediglich die Frage, ob eine Einstellung nach § 206a StPO im Rechtsmittelverfahren auch dann in Betracht kommt, wenn das Verfahrenshindernis bereits vor der erstinstanzlichen Entscheidung eingetreten ist, also vom Ausgangsgericht übersehen wurde. Während der BGH die Vorschrift des § 206a StPO auch hier für anwendbar hält, geht die wohl herrschende Meinung in der Literatur davon aus, dass in diesem Fall nur eine Einstellung nach § 354 Abs. 1 StPO mit vorheriger Aufhebung des (fehlerhaft ergangenen) Urteils in Betracht kommt. Die Aufhebung des Urteils soll sich - je nachdem, ob die Entscheidung ohne oder mit Hauptverhandlung ergeht - nach § 349 Abs. 4 StPO bzw. § 353 Abs. 1 StPO richten.


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