Kein Mangel der Umgrenzungsfunktion, sondern lediglich veränderte Tatmodalität

5. Juli 2025

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+++ Sachverhalt (reduziert auf das Wesentliche)

Jurafuchs

B nimmt auf einer Feier ein von A pflichtwidrig im Kühlschrank gelagertes Opioid und stirbt. A wird in der Anklage vorgeworfen, hiervon am Abend erfahren und dennoch nicht rettend eingegriffen zu haben (§§ 212 Abs. 1, 13 StGB). Wie sich herausstellt, erfuhr A von der Einnahme erst am nächsten Tag. Sie wird wegen fahrlässiger Tötung (§ 222 StGB) verurteilt.

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Einordnung des Falls

Kein Mangel der Umgrenzungsfunktion, sondern lediglich veränderte Tatmodalität

Die Jurafuchs-Methode schichtet ab: Das sind die 5 wichtigsten Rechtsfragen, die es zu diesem Fall zu verstehen gilt

1. Immer, wenn sich im Verlauf des Prozesses Tatsachen ändern oder neue Tatsachen hervortreten, liegt eine neue prozessuale Tat vor (§ 264 Abs. 1 StPO).

Nein, das trifft nicht zu!

Die (angeklagte) prozessuale Tat wird in der Regel durch Tatort, Tatzeit und das Tatbild umgrenzt und insbesondere durch das Täterverhalten sowie die ihm innewohnende Angriffsrichtung und durch das Tatopfer bestimmt. Verändert sich im Verlaufe des Verfahrens das Bild des Geschehens, wie es in der Anklage und dem Eröffnungsbeschluss umschrieben ist, so ist zu fragen, ob die Identität der prozessualen Tat trotz Veränderung des Tatbildes noch gewahrt ist („Nämlichkeit“ der Tat). Dies ist der Fall, wenn bestimmte Merkmale die Tat weiterhin als ein einmaliges und unverwechselbares Geschehen kennzeichnen.
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2. Da sich während des Prozesses herausstellte, dass A nicht vorsätzlich, sondern fahrlässig gehandelt hatte, liegt eine andere prozessuale Tat als in der Anklage vor (§ 264 Abs. 1 StPO).

Nein!

Es handelt sich weiter um dieselbe („nämliche“) Tat, wenn bestimmte Merkmale die Tat weiterhin als ein einmaliges und unverwechselbares Geschehen kennzeichnen, konkreter Tatort, Tatzeit, Tatbild, sowie Täterverhalten, Angriffsrichtung und Tatopfer. Dies ist am Einzelfall zu messen. Tatort und Tatablauf sowie Tatopfer und Angriffsrichtung (Rechtsgut Leben) sind dieselben wie in der Anklage. Dass A erst nachträglich Kenntnis davon erhielt, dass B ein Opioid eingenommen hatte, lässt zwar den Tötungsvorsatz entfallen, ändert aber am wesentlichen tatsächlichen Kerngeschehen (Pflichtwidrigkeit der Lagerung) nichts. Insofern steht auch die Diskrepanz hinsichtlich der Tatzeit (Sorgfaltspflichtverstoß beim Deponieren vs. vorsätzliches Unterlassen am Abend) der Annahme derselben Tat nicht entgegen, da bereits in der Anklage hinsichtlich der Garantenstellung auf die Deponierung des Opioids abgestellt wurde. Die Abgrenzung von neuer und nämlicher prozessualer Tat ist stark einzelfallbezogen. In der Klausur lässt sich stets eine vertretbare Lösung finden, wenn man sich an den Obersätzen im Kommentar orientiert.

3. Das Gericht ist an die rechtliche Bewertung der Tat als Totschlag durch Unterlassen (§§ 212 Abs. 1, 13 StGB) durch die Staatsanwaltschaft in der Anklageschrift gebunden (§ 264 Abs. 2 StPO).

Nein, das ist nicht der Fall!

Das Gericht ist nur an die in der Anklage beschriebene prozessuale Tat gebunden, wie sie sich nach der Hauptverhandlung darstellt (§ 264 Abs. 1 StPO). Die rechtliche Bewertung der Tat nimmt sie unabhängig von der Einschätzung der Staatsanwaltschaft vor (§ 264 Abs. 2 StPO). Dies gilt auch dann, wenn die Verurteilung wegen eines schwereren Strafgesetzes als des angeklagten in Betracht kommt.

4. Das Gericht hätte hier einen Hinweis erteilen müssen, um die A wegen fahrlässiger Tötung verurteilen zu können (§ 265 Abs. 1 StPO).

Ja, in der Tat!

Das Gericht muss einen Hinweis erteilen, wenn es den Angeklagten auf Grund eines anderen als des in der gerichtlich zugelassenen Anklage angeführten Strafgesetzes verurteilen will (§ 265 Abs. 1 StPO). Nach dem klaren Wortlaut des § 265 Abs. 1 StPO gilt dies auch, wenn wegen eines milderen Strafgesetzes verurteilt wird. Auch in diesem Fall kann der Angeklagte ein Interesse daran haben, seine Verteidigungsstrategie auf den neuen Vorwurf einzustellen (Telos). Etwa um darzulegen, dass er auch das mildere Gesetz nicht verletzt.So war auch hier ein Hinweis des Gerichts erforderlich. Anders ist dies nur in Fällen, in denen die Verteidigung durch die Änderung des rechtlichen Gesichtspunktes nicht berührt wird.

5. Das Verfahren ist einzustellen, da im Hinblick auf die abgeurteilte Tat keine wirksame Anklageschrift vorliegt und damit eine Verfahrensvoraussetzung fehlt (§ 206a Abs. 1 StPO).

Nein!

Es handelt sich in Anklage und Urteil um dieselbe prozessuale Tat. Daher liegt eine wirksame Anklageschrift vor, auch wenn sich Tatmodalitäten im Verlauf des Verfahrens änderten. Das Fehlen des gerichtlichen Hinweises berührt die wirksame Anklage nicht. Die Verfahrensvoraussetzung der wirksamen Anklage liegt damit vor. Das Verfahren ist nicht einzustellen.Der fehlende Hinweis kann höchstens im Wege der Verfahrensrüge geltend gemacht werden, wenn das Urteil auf dem unterlassenen Hinweis beruht (§ 337 Abs. 1 StPO). Auf die Verfahrensrüge hin wird das Urteil dann aufgehoben und zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an einen anderen Spruchkörper des Ausgangsgerichts zurückverwiesen (§ 354 Abs. 2 S. 1 StPO).
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