Schockschäden

9. Mai 2023

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+++ Sachverhalt (reduziert auf das Wesentliche)

Jurafuchs Illustration zum Fall zu Schockschäden (BGH v. 06.12.2022 - Urt. v. VI ZR 168/21): Das Bild ist zweigeteilt. Im linken Teil weint ein Mann, während er das Bild seiner Tochter betrachtet. Im rechten Teil wird ein Mann im Gericht verurteilt.
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Klassisches Klausurproblem

Content Note: Sexueller Missbrauch.
Ks Tochter wurde von B mehrfach sexuell missbraucht. K hat aus Sorge um die Entwicklung seiner Tochter eine tiefgreifende Depression erlitten, die er ärztlich behandeln lassen musste. Diese endete erst mit Bs rechtskräftiger Verurteilung. K verlangt von B Schmerzensgeld.

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Einordnung des Falls

Der BGH hatte zu entscheiden, ob Vater (K), dessen Tochter von einem Straftäter (B) sexuell misshandelt wurde, aufgrund von tiefgreifenden Depressionen Schmerzensgeld verlangen kann. Der BGH bejahte einen Schmerzensgeldanspruch nach §§ 823 Abs. 1, 253 Abs. 1, 2 BGB.

Dieser Fall lief bereits im 1./2. Juristischen Staatsexamen in folgenden Kampagnen
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Die Jurafuchs-Methode schichtet ab: Das sind die 7 wichtigsten Rechtsfragen, die es zu diesem Fall zu verstehen gilt

1. Könnte K ein Schmerzensgeldanspruch gemäß §§ 823 Abs. 1, 253 Abs. 1, 2 BGB zustehen?

Ja!

Dies würde voraussetzen: (1) Rechtsgutsverletzung, (2) Verletzungshandlung, (3) Haftungsbegründende Kausalität, (4) Rechtswidrigkeit, (5) Verschulden, (6) Voraussetzungen des § 253 Abs. 2 BGB. Bei Nichtvermögensschäden erhält der Geschädigte grundsätzlich keinen Geldausgleich (§ 253 Abs. 1 BGB), es sei denn, es existiert eine gesetzliche Vorschrift (z.B. § 11 S. 2 StVG, 21 Abs. 2 S. 3 AGG oder 651n Abs. 2 BGB). Bei Persönlichkeitsrechtsverletzungen leitet der BGH einen Entschädigungsanspruch unmittelbar aus dem verfassungsrechtlichen Schutzauftrag selbst her (Art. 1 Abs. 1, 2 Abs. 1 i.V.m. § 823 Abs. 1 BGB).
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2. Liegt eine Rechtsgutsverletzung in Form einer psychischen Gesundheitsverletzung vor?

Genau, so ist das!

Eine Gesundheitsverletzung liegt vor, wenn eine pathologische Störung physiologischer Abläufe eintritt.Die bisherige Rspr. forderte bei sog. Schockschäden zusätzlich, dass die gesundheitliche Störung über das hinausginge, was infolge der schweren Verletzung naher Angehöriger in der Regel zu erwarten sei. Dies sollte der gesetzlichen Wertung der §§ 844 f. BGB Rechnung tragen. Der BGH hat dieses einschränkende Kriterium nun aufgegeben. Es sei unbillig, bei infolge schwerer Straftaten zulasten Dritter entstandener psychischer Störungen eine Gesundheitsschädigung abzulehnen, weil bei vergleichbaren Straftaten regelmäßig psychische Störungen auftreten. Dies widerspreche auch nicht den §§ 844 f. BGB. da Grundlage der Haftung nicht die Verletzung Dritter, sondern eine eigene psychische Beeinträchtigung sei (RdNr. 13ff.). K erlitt in Form der Depression eine psychische Störung mit Krankheitswert.

3. Müsste darüber hinaus die haftungsbegründende Kausalität gegeben sein?

Ja, in der Tat!

Die haftungsbegründende Kausalität beschreibt den Zusammenhang zwischen der Verletzungshandlung und der Gesundheitsschädigung. Diese setzt voraus, dass die Handlung (1) äquivalent und (2) adäquat kausal für die Rechtsgutsverletzung war, und dass (3) diese vom Schutzzweck der Haftungsnorm erfasst ist. Im Bereich der Gefährdungshaftung (z.B. § 7 Abs. 1 StVG oder § 833 S. 1 BGB) findet die Adäquanztheorie keine Anwendung. Denn eine Gefährdungshaftung soll gerade auch vor unvorhersehbaren Verletzungen schützen.

4. Ist die psychisch vermittelte Gesundheitsschädigung des K vom Schutzzweck des § 823 Abs. 1 BGB erfasst?

Ja!

Um dem Haftungsbedürfnis einerseits und der Eindämmung einer uferlosen Haftung für das allgemeine Lebensrisiko andererseits Rechnung zu tragen, hat die Rspr. bei Schockschäden besondere Zurechnungskriterien entwickelt: Danach muss der Schock (1) im Hinblick auf den Anlass verständlich erscheinen und (2) das auslösende Ereignis einen nahen Angehörigen oder engen Lebenspartner des Geschädigten getroffen haben. So wird der Kreis potenzieller Gläubiger auf diejenigen beschränkt, die den Integritätsverlust des Opfers als eigenen Integritätsverlust und nicht als allgemeines Lebensrisiko der Teilnahme an den Ereignissen der Umwelt erleben. Der sexuelle Missbrauch gefährdete die ungestörte Entwicklung des Kindes, sodass Ks Reaktion verständlich und nicht etwa auffallend empfindlich war. Als Tochter ist sie auch Ks Angehörige.

5. Kann der Ersatz eines Schockschadens nicht verlangt werden, wenn der Anspruchsteller am „Unfallgeschehen" nicht beteiligt war?

Nein, das ist nicht der Fall!

Zwar hält der BGH es i.R.d. Prüfung der Zurechnung psychischer Gesundheitsverletzungen aufgrund eines Unfallereignisses (klassisch z.B. der Verkehrsunfall) für ein maßgebliches Kriterium, ob der Geschädigte am Unfallgeschehen unmittelbar beteiligt war. Der BGH scheint für den Fall des direkten Miterlebens sogar geringere Anforderungen an das Maß der Beeinträchtigung zu stellen (vgl. BGH, NJW 2015, 1451). Auch der Ersatz von „Fernwirkungsschäden“ - etwa, aber nicht nur aufgrund der Übermittlung der Nachricht des Todes des Angehörigen - wurde jedoch bereits für möglich gehalten (RdNr. 29).Auch wenn K den Missbrauch nicht unmittelbar miterlebt hat, kann er somit einen Schockschaden geltend machen.

6. Handelte B auch rechtswidrig?

Ja, in der Tat!

Grundsätzlich indiziert das Vorliegen einer Rechtsgutsverletzung die Rechtswidrigkeit. Unmittelbare Rechtsgutsverletzungen sind daher rechtswidrig, sofern nicht ein Rechtfertigungsgrund eingreift. Wird der Verletzungserfolg indes nur durch eine mittelbar wirkende Handlung herbeigeführt, muss die Rechtswidrigkeit positiv durch einen Sorgfaltspflichtverstoß festgestellt werden. Ks Gesundheit wurde hier nicht unmittelbar durch die Straftat des B verletzt. Die Verletzung wurde psychisch vermittelt, sodass die Rechtswidrigkeit positiv festzustellen ist. B verstieß gegen § 176 StGB und handelte damit rechtswidrig.

7. Handelte B auch schuldhaft?

Ja!

Verschulden i.S.d. § 823 Abs. 1 BGB meint Vorsatz oder Fahrlässigkeit. Fahrlässig handelt, wer die im Verkehr erforderliche Sorgfalt außer Acht lässt (§ 276 Abs. 2 BGB). Es ist gerade damit zu rechnen, dass Eltern bei gegenüber ihren eigenen Kindern begangenen Sexualdelikten erhebliche, unter Umständen krankhafte psychische Belastungszustände erleben. B handelte damit jedenfalls fahrlässig.
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