Zivilrecht

Examensrelevante Rechtsprechung ZR

Entscheidungen von 2022

Gleisblockade durch verunglückten PKW - Sachbeschädigung?

Gleisblockade durch verunglückten PKW - Sachbeschädigung?

24. November 2024

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leichtmittelschwer

+++ Sachverhalt (reduziert auf das Wesentliche)

Jurafuchs

Halter H verursacht mit seinem Wagen einen Unfall auf den S-Bahn Gleisen der Fahrgut GmbH (F). Die Schienen erleiden keinen Schaden. Da das Abschleppen zwei Stunden braucht, richtet F zwischenzeitlich einen Schienenersatzverkehr ein. F verlangt hierfür von H Ersatz.

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Einordnung des Falls

Gleisblockade durch verunglückten PKW - Sachbeschädigung?

Die Jurafuchs-Methode schichtet ab: Das sind die 8 wichtigsten Rechtsfragen, die es zu diesem Fall zu verstehen gilt

1. Da zwischen H und F kein Vertragsverhältnis bestand, kommt hier als alleinige Anspruchsgrundlage eine deliktische Haftung aus § 823 Abs. 1 BGB in Betracht.

Nein!

H ist Halter eines Kraftfahrzeugs. Neben dem deliktischen Anspruch aus § 823 Abs. 1 BGB, ist somit zunächst die Halterhaftung aus § 7 Abs. 1 StVG zu prüfen! Zudem kommt noch die Fahrerhaftung aus § 18 Abs. 1 S. 1 StVG in Betracht.Nach § 7 Abs. 1 StVG haftet der (1) Halter eines Kfz für (2) Personen- oder Sachschäden, die (3) bei dem Betrieb des Kfz verursacht werden, (4) wenn die Haftung nicht ausgeschlossen ist. Der Bearbeitervermerk verlangt von Dir regelmäßig, dass Du alle in Betracht kommenden Ansprüche prüfst! Sammle deshalb zu Beginn Deiner Prüfung erst einmal, welche Ansprüche in Betracht kommen! Die Halterhaftung ist für den Geschädigten vorteilhafter, da diese - anders als § 823 BGB - kein Verschulden voraussetzt. Aus diesem Grund bietet es sich an, damit zu beginnen.Regelmäßig ist in solchen Konstellationen auch ein Anspruch gegen die Haftpflichtversicherung zu prüfen (§ 7 Abs. 1 StVG iVm § 115 Abs. 1 S. 1 Nr. 1 VVG).
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2. Das Tatbestandsmerkmal „Sache beschädigt“ der Halterhaftung entspricht inhaltlich der Eigentumsverletzung bei der deliktischen Haftung nach § 823 Abs. 1 BGB.

Genau, so ist das!

Der Wortlaut der Normen weicht zwar voneinander ab. Die Gefährdungshaftung des § 7 Abs. 1 StVG soll letztlich aber die Haftung des Halters im Vergleich zur deliktischen Haftung verstärken (keine Rechtswidrigkeit und Verschulden nötig) und die Haftung nicht mittels eines engeren Sachbeschädigungsbegriffs abschwächen (Telos). Der BGH geht deshalb in ständiger Rechtsprechung davon aus, dass hier ein Gleichlauf besteht. Lerne stets in Zusammenhängen! Wenn Du weißt, was eine Eigentumsverletzung nach § 823 Abs. 1 BGB ist, kannst Du nun direkt den richtigen Maßstab der Sachbeschädigung bei der Halterhaftung bilden - Du musst das nicht doppelt lernen!

3. Kann die Beschädigung einer Sache nach der Rechtsprechung des BGH nur durch eine Beeinträchtigung ihrer Sachsubstanz erfolgen (§ 7 Abs. 1 StVG)?

Nein, das trifft nicht zu!

Für die Verletzung des Eigentums an einer Sache (§ 823 Abs. 1 BGB) bzw. die Beschädigung einer Sache (§ 7 Abs. 1 StVG) ist nach der ständigen Rechtsprechung des BGH eine Beeinträchtigung der Sachsubstanz nicht zwingend notwendig. Vielmehr könne der Tatbestand bereits durch eine sonstige, die Eigentümerbefugnisse treffende, tatsächliche Einwirkung auf die Sache selbst erfüllt sein.Diese Rechtsprechung ist nicht unumstritten. Insbesondere wird hierdurch die Grenze zu den reinen Vermögensschäden verwischt, die nach der Konzeption des § 823 Abs. 1 BGB gerade nicht ersatzfähig sind.

4. Jegliche Gebrauchsbeeinträchtigung stellt damit eine Sachbeschädigung dar.

Nein!

Das deutsche Deliktsrecht ist sehr restriktiv in Bezug auf reine Vermögensschäden. Nicht jede geringfügige Nutzungsbeeinträchtigung kann eine Eigentumsverletzung begründen.Eine Sachbeschädigung durch eine bloße Gebrauchsbeeinträchtigung liegt deshalb nach der Rechtsprechung nur dann vor, wenn eine nicht unerheblichen Beeinträchtigung der Brauchbarkeit bzw. der Möglichkeit der bestimmungsgemäßen Verwendung besteht. Relevant für die Erheblichkeit sind dabei grundsätzlich (1) die Intensität der Gebrauchsbeeinträchtigung sowie (2) deren zeitliche Dauer. Nicht ausreichend für eine Sachbeschädigung ist es, wenn nur die Nutzungsmöglichkeit eingeengt oder nur bestimmte Verwendungsmodalitäten ausgeschlossen werden.

5. Stellt die vollständige Blockade der Schiene für zwei Stunden eine „Sachbeschädigung“ dar?

Genau, so ist das!

BGH: Werden die Eigentümerbefugnisse durch eine tatsächliche Einwirkung auf die Sache derart beeinträchtigt, dass deren Verwendungsfähigkeit vorübergehend praktisch aufgehoben ist (=starke Intensität), bedürfe es für die Annahme einer Eigentumsverletzung bzw. einer Sachbeschädigung grundsätzlich nicht zusätzlich der Überschreitung einer zeitlich definierten Erheblichkeitsschwelle (RdNr. 11 f.)Der Gebrauch der Gleisanlage an der Unfallstelle war vorliegend vollständig aufgehoben, weshalb die Gebrauchsbeeinträchtigung eine Sachbeschädigung darstellt. Das Berufungsgericht hatte die Erheblichkeit der Beeinträchtigung noch unter dem Hinweis auf ihre vorübergehende Dauer (unter zwei Stunden) abgelehnt.Der BGH bestätigt an dieser Stelle seine jüngere Rechtsprechung (BGH NJW-RR 2017, 219), wonach bei besonders intensiven Gebrauchsbeeinträchtigungen die zeitliche Komponente unbeachtlich sein soll.

6. Ereignete sich der Unfall bei Betrieb des Fahrzeugs (§ 7 Abs. 1 StVG)?

Ja, in der Tat!

Beim Betrieb eines Fahrzeuges hat sich der Unfall ereignet, wenn sich eine Gefahr realisiert, die mit dem Fahrzeug als Verkehrsmittel verbunden ist. Nach der sog. verkehrstechnischen Auffassung ist ein Kfz oder Anhänger in Betrieb, solange es sich im Verkehr befindet und andere Verkehrsteilnehmer gefährdet. Ausreichend ist, dass bei einer wertenden Betrachtung das Schadensgeschehen durch das Kraftfahrzeug zumindest mitgeprägt worden ist. Dieses Merkmal ist grundsätzlich weit auszulegen und erfordert beispielsweise nicht, dass der Motor des Kfz noch läuft. Die Gebrauchsbeeinträchtigung der Schiene entstand bei Hs Fahrt mit dem Wagen. Sie ist also spezifisch durch das Kfz geprägt. Der Unfall des Fahrzeugs kann auch nicht hinweggedacht werden, ohne dass die Blockade entfiele. Somit besteht auch ein kausaler Zusammenhang zur Beschädigung.Sofern das Merkmal wie hier ohne weiteres verwirklicht ist, kannst Du Dich in der Klausur auch knapper halten.

7. Bei der eingetretenen Gebrauchsbeeinträchtigung handelt es sich aber um ein allgemeines Risiko, das nicht vom Schutzzweck der Gefährdungshaftung nach § 7 Abs. 1 StVG erfasst ist?

Nein!

Das Tatbestandsmerkmal „bei Betrieb eines Kraftfahrzeugs“ dient als Korrektiv dafür, dass die Gefährdungshaftung auf Schäden beschränkt bleibt, die dem Schutzzweck der Norm entsprechen.Die Halterhaftung verfolgt den Zweck, dem Gefährdungspotential eines zugelassenen Fahrzeugs mit der Verpflichtung des Halters zu begegnen, andere Verkehrsteilnehmer im Falle eines Unfalls schadlos zu halten. Sie weist somit einen umfassenden Schutzzweck auf, der weit auszulegen ist.BGH: Allein der Umstand, dass sich Blockaden von Schienenanlagen häufiger ereignen, ändere nichts daran, dass sich im konkreten Einzelfall das vom jeweiligen Schädiger gesetzte besondere Risiko und nicht ein allgemeines Risiko verwirkliche, das dem Geschädigten zuzurechnen ist und das er auch sonst hinzunehmen habe (RdNr. 16).

8. Kann F von H die Kosten für den eingerichteten Schienenersatzverkehr ersetzt verlangen (§§ 249 ff. BGB)?

Genau, so ist das!

Der Schädiger ist verpflichtet, den Schaden des Geschädigten vollständig zu kompensieren. Zu den ersatzfähigen unfreiwilligen Vermögenseinbußen (=Schaden) gehören dabei auch Aufwendungen, die der Geschädigte zur Verhinderung eines konkret drohenden Schadenseintritts, zur Schadensbeseitigung oder zur Geringhaltung des Schadens getätigt hat.Die Aufwendungen der F für die Organisation des Ersatzverkehrs stellen insoweit Schäden dar, da hierdurch eine Schadensvertiefung im Hinblick auf mögliche Ersatzansprüche der Passagiere verhindert bzw. zumindest verringert wird. Der Schaden beruht kausal und zurechenbar auf der Gebrauchsbeeinträchtigung der blockierten Schienen. F kann somit von H die Kosten für den Ersatzverkehr verlangen.Sofern H Verschulden vorzuwerfen ist, musst Du im Gutachten im Anschluss noch kurz die Fahrerhaftung (§ 18 Abs. 1 StVG) und die Haftung aus § 823 Abs. 1 BGB prüfen. Du kannst hier aber weitgehend auf die vorangegangenen Ausführungen verweisen.
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Fragen und Anmerkungen aus der Jurafuchs-Community

Rick-energie🦦

Rick-energie🦦

22.9.2023, 18:58:53

Was ich nicht recht verstehe: In einem anderen JuraFuchs Fall, bei dem ein Bagger das Stromkabel einer Druckerei zerstörte, diese dann über Nacht nicht drucken konnte, wurde die RGV abgelehnt. Unter der Prämisse, dass eine Beeinträchtigung auch in der Aufhebung der Nutzungsmöglichkeit liegt, und eine Druckerei, die typischerweise in der Nacht druckt, leuchtet wir dieser Rspr.-Wechsel dogmatisch nicht recht ein

ADW

Adrian W.

23.9.2023, 13:08:51

Der Unterschied zum klassischen

Stromkabelfall

liegt im eingerichteten und ausgeübten Gewerbebetrieb und der Gefährdungshaftung aus StVG. Im

Stromkabelfall

muss für die RGV unteranderem auch die Betriebsbezogenheit gegeben sein und damit verbunden der Gedanke, dass dies nicht auch Private treffen könnte, um den Anspruch nicht ausufern zu lassen aus 823 I, was im

Stromkabelfall

meist an der Betriebsbezogenheit scheitert. Hier ist das Problem herauszuarbeiten was genau

7 StVG

mit Beschädigung meint. Hier muss man dann die vier Auslegungsmethoden anwenden. Nach dem BGH überwiegt der Telos, sodass nicht nur eine Substanzverletzung gefordert sein kann und nimmt den Rahmen des 823 I im

Grundfall

, also auch Eigentumsbeeinträchtigungen, an. Der Fall ist sehr vom SV abhängig, da wenn es beispielsweise eine solche Blockade im Nahverkehrsnetz und eine Beeinträchtigung nur für einen kleinen Teil vorliegt und durch andere Routen kompensiert werden kann, der Fall anders gewichtet werden kann. Ich hoffe meine Einschätzung konnte weiter helfen :)

Rick-energie🦦

Rick-energie🦦

24.9.2023, 06:57:34

Auf den ersten Blick habe ich das auch gedacht. Aber beim Stromkabel auf das ReaG abzustellen und dann bei blockierten Gleisen auf die Sachzubstanz, wobei beim Straßenbahnfall letztlich der 823 auch durchgeht, bei beidem aber die Nutzungsmöglichkeit in den Fokus zu legen, empfinde ich als dogmatisch schwierig zu begründen.

Nora Mommsen

Nora Mommsen

28.9.2023, 18:45:35

Hallo ihr beiden, danke für eure Fragen und die rege Diskussion. Vorliegend ist das

Schutzgut

Sache (sprich äquivalent aus § 823 Abs. 1 BGB das Eigentum). Dies ist strikt von dem Recht auf den eingerichteten und ausgeübten Gewerbebetrieb zu unterscheiden. Dieser ist mangels Betriebsbezogenheit auch hier nicht betroffen und wird daher auch gar nicht angesprochen. Ein besserer Vergleichsfall ist der vom BGH entschiedene "Fleetfall" (BGHZ 55, 153 ff.). Dort geht es ebenfalls um die Nichtnutzbarkeit von Eigentum, das selber nicht beschädigt wurde aufgrund äußerer Blockaden. Auch dort hat der BGH geurteilt, dass bei einer erheblichen Nutzungsbeeinträchtigung eine relevante Verletzung vorliegt. Interessant ist das neue Urteil, dass unserem Fall hier zugrunde liegt deswegen, weil schon ein Zeitraum von 2 Stunden ausreichend ist. Bisher musste die Beeinträchtigung langwieriger sein, wenn es nicht zu einem Sachschaden gekommen war. Beste Grüße, Nora - für das Jurafuchs-Team

TI

Timurso

29.5.2024, 00:06:01

@[

Nora Mommsen

](178057) könnte man dann aber in dem Fall mit der Druckerei nicht auf das Eigentum an der Druckmaschine abstellen? Diese ist ja dann ebenfalls nicht nutzbar, obwohl nicht selbst beschädigt.

VALA

Vanilla Latte

6.6.2024, 03:11:07

Ich verstehe ehrlich gesagt immer noch nicht richtig den Unterschied. Es können die Drucker doch auch die ganze Nacht über nicht verwendet werden und sind in ihrer Brauchbarkeit komplett aufgehoben.

SW

Swiss

25.2.2024, 22:31:50

Ich halte es an dieser Stelle für didaktisch sinnvoll, auch die Parallelen zum Strafrecht aufzuzeigen , Schlagwörter wie : Rechtsgut „allg. Vermögen“ , „bloße

Sachentziehung

“. Gerade die vorliegende Fallkonstellationen zeigt, wieso es von entscheidender Bedeutung ist, in Zusammenhängen zu lernen. Nur wer das System versteht kann unbekannte Fälle lösen und zwar , auch wenn man dies zu Beginn des Studiums nicht glauben mag, mit Leichtigkeit.

LEO

Leonq

26.2.2024, 15:03:03

Würde da aufpassen, weil man schneller in Teufels Küche kommen kann, als man denkt. Wenn man bspw. bei 823 I als Rechtsgut „allgemeines Vermögen“ hinschreibt, ist das wohl in der Klausur ein Fehler, von dem sich nicht ohne weiteres erholt. Finde auch bei einer

Sachentziehung

gibt es gerade Unterschiede zum Strafrecht (dort: auf subjektiver Ebene keine

Aneignungsabsicht

), weswegen das Schlagwort nicht 1:1 passt, da der

Vorsatz

sich im Zivilrecht und Strafrecht erheblich unterscheidet. Würde eher davon abraten, Schlagwörter aus anderen Rechtsgebieten einfach so zu übernehmen.


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